Dokument vom:
12.02.2008
Schriften Band 50 (2001)

Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft Band 50 (2001)

Mitglieder der Storm-Gesellschaft erhalten die "Schriften" ebenso wie die "Mitteilungen" kostenlos zugeschickt.

Inhalt

Vorwort *

Gerd Eversberg Region und Poesie. Theodor Storms Entwicklung zu Schriftsteller

Rita Morrien Arbeit "in Kontrasten" - Künstler- und Vaterschaft in Theodor Storms Novelle "Eine Malerarbeit"

David Jackson "Ein Bekenntnis" - Theodor Storms frauenfreundliche Abrechnung mit einem mörderischen romantischen Liebesideal.

Silvia Bendel Hochzeit der Gegensätze oder Suche nach dem Weiblichen? Wasser- und Feuerimaginationen in Theodor Storms "Regentrude"

Wilfried Lagler "Ich grüße Sie auf dem letzten Lappen Papier". Theodor Storms Briefwechsel mit Rudolph von Fischer-Benzon

Dieter Lohmeier Neue Briefe aus der Storm-Familie in der Landesbibliothek. Mit drei Briefen Paul Heyses an Do Storm vom Juli 1888

Holger Borzikowsky "Ich möchte dem Mann das gönnen." Rudolph Christian Ström - Photograph und Porträtist der Storm-Familie

Gerd Eversberg Eine bisher unbekannte Photographie von Theodor Storm

Gerd Eversberg Stormforschung und Storm-Gesellschaft

Elke Jacobsen Storm-Bibliographie

Buchbesprechungen *
Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Hg. von Gerd Eversberg, David Jackson und Eckart Pastor. Würzburg: Königshausen und Neumann 2000. (Manfred Horlitz)

Theodor Storm: Pole Poppenspäler. Hg. von Johannes Diekhans. Erarbeitet und mit Anmerkungen versehen von Jean Lefebvre. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2000. (Gerd Eversberg)

Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Hg. von Claudia Lorenz und Christiane von Schachtmeyer. München: Oldenbourg 2000. (Lektüre, Kopiervorlagen) (Jean Lefebvre)

Storm-Texte in neuen "Oldenbourg Interpretationen". 1. Lyrik von der Romantik bis zur Jahrhundertwende. Interpretiert von Thomas Gräff. München: Oldenbourg 2000. 2. (Bd. 96) (K)ein Kanon. 30 Schulklassiker neu gelesen. Hg. von Klaus-Michael Bogdal und Clemens Kammler. München: Oldenbourg 2000. (Bd. 100) (Gerd Eversberg)

Burkhard Seidler, Herwig Grau und Dietmar Wagner: Literaturkartei: "Der Schimmelreiter". Mülheim: Verlag an der Ruhr 2000. (Gerd Eversberg)

Fontane-Handbuch. Hg. v. Christian Grawe und Helmuth Nürnberger. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2000. (Walter Zimorski)

Ludwig Pietsch, Wie ich Schriftsteller geworden bin. Der wunderliche Roman meines Lebens. Hg. von Peter Goldammer. Berlin: Aufbau-Verlag 2000. (Regina Fasold)

Abbildungsverzeichnis

Richtlinien zur Manuskriptgestaltung

Verzeichnis der Mitarbeiter

Anhang
Karl Ernst Laage 50 Jahre "Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft"
Gerd Eversberg Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 1952-2000. Register zu den Bänden 1-50

Die mit * gekennzeichneten Beiträge finden Sie auf dieser Internetseite.

Vorwort

Zum 50. Mal in der Geschichte der Theodor-Storm-Gesellschaft legen die Herausgeber den Mitgliedern und der interessierten Öffentlichkeit die "Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft" vor. Das Jahrbuch einer der größten literarischen Gesellschaften Deutschlands hat sich aus bescheidenen Anfängen heraus zu einem anerkannten Forum der Diskussion über Leben und Werk des Husumer Dichters entwickelt. Grund genug, dass der Präsident dieses Jubiläumsbandes diese Geschichte würdigt: 50 Jahre "Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft". Die Storm-Gesellschaft trägt diesem Ereignis auch dadurch Rechnung, dass der Sekretär ein Register zu den Bänden 1-50 der "Schriften" von 1952 bis 2000 zusammengestellt und nach Sachkriterien sowie alphabethisch nach Verfassernamen geordnet hat.

Die Leser werden in diesem Jahr vergeblich nach dem Festvortrag suchen, der traditionell die Beiträge der "Schriften" eröffnet. Das Referat des Genfer Germanisten Hans-Jürgen Schrader "Autorenfeder unter Press-Autorität", vorgetragen bei der Festversammlung in der Husumer Kongresshalle anlässlich unserer gemeinsamen Tagung mit der Raabe-Gesellschaft, wird im diesjährigen Raabe-Jahrbuch veröffentlicht, auf das wir unsere Leser freundlich hinweisen. Stattdessen beginnen wir mit dem Vortrag von Gerd Eversberg über Theodor Storms Entwicklung zum Schriftsteller, den der Sekretär anlässlich der festlichen Eröffnung der Storm- und Raabe-Tagung im Rittersaal des Schlosses vor Husum gehalten hat. Der Referent fasst seine Forschungen zum Frühwerk Storms aus dem letzten Jahrzehnt zusammen und zeigt, wie bedeutsam die frühen Schreibversuche für die Entwicklung des Erzählers Theodor Storm waren.

Die Freiburger Germanistin Rita Morrien hat die weniger beachtete Novelle "Eine Malerarbeit" ausgewählt und versucht, sich dem Text durch eine neue Lesart zu nähern. Ihre These lautet: Storm erprobt anhand der Lebens- und Leidensgeschichte des missgestalteten und nur mittelmäßig begabten Malers Edde Brunken die Grenzen realistischen Erzählens. In der 1867 entstandenen Novelle wird die Skepsis Storms gegenüber der Familie wie auch gegenüber einem professionellen Künstlertum erkennbar. Zugleich wird - wie auch in anderen Novellen - die Sehnsucht nach einem Familienidyll erkennbar, das in Storms Bedürfnis wurzelt, der Erfahrung von Vergänglichkeit und Tod etwas Positives entgegenzusetzen. Während in der Mehrzahl der später geschriebenen Novellen das Misslingen solcher Lebensentwürfe im Mittelpunkt von Storms Erzählversuchen rückt, endet "Eine Malerarbeit" versöhnlich.

Auch David Jackson aus Cardiff liest Storms Novelle "Ein Bekenntnis" aus neuer Perspektive und stellt heraus, wie hinter den Versionen, die von den beiden Erzählern vor den Augen des Lesers entfaltet werden, eine dritte Variante der Geschichte erkennbar wird. Der Arzt und Binnenerzähler Franz Jebe leistet seiner kranken Frau Elsi nicht nur aus Mitleid Sterbehilfe, sondern er tötet mit ihr vor allem ein traumatisches Bild der dämonischen Frau, die seine Männlichkeit nicht zu beherrschen vermag. Außerdem beseitigt der Ehemann durch diese Tat die Quelle seiner seelischen Qualen, die er auch als Arzt nicht zu ertragen vermag. Durch seine Untersuchung zeigt Jackson, dass Storm dem romantischen Liebesideal des Protagonisten in durchaus frauenfreundlicher Weise eine deutliche Absage erteilt. Zugleich entwirft der Dichter im letzten Teil der Novelle aber ein positives Gegenbild zum Versagen seines Helden: In der Nächstenliebe erscheint die Utopie einer wahrhaft humanen Gesellschaft und der Arzt wird zum Symbol für die demokratische Humanität, an die Storm auch in den Jahren vor seinem Tod noch festhält.

Das wichtigste Märchen Storms, die "Regentrude", wird erneut interpretiert; Silvia Bendel aus Luzern fragt noch einmal nach der Bedeutung von Wasser- und Feuerimaginationen. Sie greift die bisherigen psychologischen Deutungen des Märchens auf und untersucht die Dimensionen des Weiblichen hinter der symbolischen Ebene des Wassers sowie den Gegensatz, der sich vor der Feuersymbolik über der Erde abspielt und mit Aspekten des Männlichen konnotiert ist. Wieder wird deutlich, dass Storm in seiner Erzählung versucht, auch das Weibliche in seiner Vorstellungswelt zu veranschaulichen; in der "Regentrude" setzt er "Frau" mit Natur und Wasser gleich und bewegt sich damit innerhalb eines zeitgemäßen Stereotyps: Das männliche Element übernimmt am Schluss der Erzählung die Kontrolle über das weibliche, welches sein Selbstbewusstsein nur noch im mythologischen Bildern verwirklichen kann, nicht aber in der gesellschaftlichen Realität.

Die Reihe der "kleinen" Briefwechsel Storm wird in diesem Jahr fortgesetzt mit der Korrespondenz zwischen Storm und dem ersten Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek, Rudolph von Fischer-Benzon. Wilfried Lagler aus Tübingen hat die 20 erhaltenen Briefe transkribiert und kommentiert; sie legen Zeugnis ab von Aspekten des privaten familiären und gesellschaftlichen Lebens Storms zwischen 1875 und 1887 und bestätigen das bekannte Bild Storm von einem fürsorglichen Familienvater, für den die häusliche Ordnung Grundbedingung für ein "behagliche" Existenz war. Erneut zeigt sich, wie bedeutsam für Storm das Weihnachtsfest als Kulminationspunkt der Geselligkeit im Familien- und Freundeskreis war.

Der jetzige Direktor der Landesbibliothek, unser Vizepräsident Dieter Lohmeier, berichtet über ein Konvolut von Briefen aus der Storm-Familie, das er im Vorjahr für das Land Schleswig-Holstein erwerben konnte und das den dort aufbewahrten Storm-Nachlass ergänzt. Er ediert in seinem Beitrag drei Briefe, die Paul Heyse nach Storm Tod an dessen Witwe Dorothea (genannt "Do") geschrieben hat und die uns Aufschluss über die enge Freundschaft der beiden Autoren und über die Fürsorge Heyses für die Witwe des verstorbenen Freundes geben.

Noch einmal wird das Thema "Theodor Storm und die Photographie" aufgegriffen, zu dem anlässlich der Storm-Tagung 1999 ein Symposion stattgefunden hat. Holger Borzikowsky, Archivar in Husum, hat sich mit Rudolph Christian Ström beschäftigt und legt seine Forschungsergebnisse über das Wirken des dänischen Photographen und Porträtisten der Storm-Familie vor, der nicht bloß sein Handwerk in der Storm-Stadt betreiben hat, sondern der uns in seinen erhaltenen Werken als ein sensibler Künstler-Photograph entgegentritt, dessen Arbeiten aus gutem Grund von Theodor Storm geschätzt wurden.

Es triff sich gut, dass der Präsident der Storm-Gesellschaft bei einem Storm-Nachkommen eine bisher unbekannte Photographie von Theodor Storm entdeckte, die Anfang des Jahres für das Archiv erworben werden konnte. Gerd Eversberg datiert dieses neue Photo und ordnet es in die bekannten Portraits des Dichters ein.

Diese Beiträge werden wieder durch eine Übersicht über Storm-Forschung und Storm-Gesellschaft des Sekretärs und durch die Storm-Bibliographie unserer Bibliothekarin Elke Jacobsen abgerundet.

Die Buchbesprechungen informieren über Veröffentlichungen zu Theodor Storm und zu seinem literarischen Umfeld; in diesem Jahr enthält der Rezensionsteil wieder einen didaktischen Schwerpunkt.
Prof. Dr. Karl Ernst Laage,

Dr. Gerd Eversberg

Präsident

Sekretär

Buchbesprechungen

Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Gerd Eversberg, David Jackson u. Eckart Pastor. - Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann GmbH 2000.

Dieser vorzüglich ausgestattete Band erweist sich bei näherer Betrachtung als eine außergewöhnlich gehaltvolle Festschrift. Herausgeber und Autoren bieten kein Sammelsurium der Stormforschung, sondern in sieben Themenbereichen, deren Beiträge z.T. ineinander übergreifen bzw. sich ergänzen, ein übersichtlich strukturiertes Bild markanter Erscheinungsformen der Stormschen Dichtung im Spiegel aktueller wissenschaftlicher Auseinandersetzung.
Bereits ein Blick auf das Autorenverzeichnis beweist, dass dem Werk des norddeutschen Dichters zunehmend Weltgeltung zuteil geworden ist, woran der Jubilar einen entscheidenden Anteil hat (S. 13-16).

Die Lektüre ist gewinnbringend, weil nicht nur der erreichte Forschungsstand reflektiert wird, sondern bisherige Erkenntnisse auch in Frage gestellt, problematisiert und durch neuere Einsichten vertieft bzw. erweitert werden. Beeindruckend ist nicht allein der Facettenreichtum der Beiträge; das eigentlich Inspirierende besteht darin, dass der Leser verschiedentlich einen bislang ungewöhnlichen Einblick in das Widersprüchliche, gelegentlich auch Verwirrende in Storms Werk, in seine Natur-, Kunst- und Gesellschaftsauffassung erhält. In diesem Sinne erweisen sich auch diskursive Auffassungen einiger Autoren zur gleichen Thematik als bereichernd; denn ein Sowohl-als-Auch regt zu weiteren Überlegungen an, zumal der Dichter dadurch in seiner konvergierenden und divergierenden Haltung zum konkreten sozial- und kulturhistorischen Umfeld deutlich Gestalt gewinnt.

Der Leser erhält u.a. neue Einsichten in Storms lyrisches Schaffen, vor allem bezüglich der Motive des Todes und der Vergänglichkeit, aber auch zu seiner exponierten Stellung unter den Lyrikern des 19. Jahrhunderts. In dieses Bezugsfeld gehören auch die anregenden Hinweise auf mögliche Einflüsse dänischer Poesie (S. 38 ff).

Neue Sichtweisen vermitteln ferner aufschlussreiche Arbeiten über den Einfluss der Naturerfahrungen des Dichters im Spiegel des naturwissenschaftlich-technischen Denkens seiner Zeit auf seine Erzählkunst (S. 183 ff, bes. S. 207-14; s. auch S. 47 ff).

Beiträge zur Novellistik, insbesondere zur künstlerischen Gestaltung des Motivs der Vaterschuld, gewinnen unter Einbeziehung biografischer Aspekte trotz - oder besser - wegen kontroverser Auffassungen neuen Erkenntniswert (S. 143 ff u. 163 ff).

Einen anschaulichen Einblick in den schwierigen Arbeitsprozess des bereits schwer erkrankten Storm bei der Gestaltung der "Schimmelreiter"-Novelle gewährt eine akribisch gearbeitete Textgenese, die sich auf neu erworbene Handschriften gründet. Durch den Abdruck bisher nicht bekannter Manuskriptteile gewinnt der Leser eine Vorstellung, wie sicher der Dichter den Text aufgebaut, strukturiert und erarbeitet hat (S. 331 ff). (Vgl. hierzu auch: Die Storm-Handschriften aus dem Nachlass von Ernst Storm. Mit der Edition des "Concepts" zur Novelle "Der Schimmelreiter" in: Patrimonia-Heft 151, hrsg. von der Kulturstiftung der Länder u.a., Berlin 1999.)

Nicht ohne Bewegung liest man die Briefe zwischen dem älteren Storm und dem etwa 40 Jahre jüngeren Wissenschaftler F. Tönnies, die hier nach den Handschriften erstmalig neu ediert und kommentiert vorliegen (S: 91 ff). Diese Briefdokumente, vorwiegend aus der Feder des Husumer Dichters überliefert, lassen das berührend Menschliche dieser Freundschaftsbeziehung lebendig werden.

Als ein Phänomen in der europäischen Poesie des 19. Jahrhunderts erscheinen die überzeugend nachgewiesenen Gemeinsamkeiten im Bereich lyrischer Prosa zwischen Storm und Turgenjew, die Liliencron bereits 1872 treffend als ein "Genre 'Storm-Turgenjew'" (S. 275) charakterisierte.

Auf eine mögliche Adaption der Storm-Novelle "Der Herr Etatsrat" durch Kafka für seine Erzählung "Die Verwandlung" verweist zwar eine literaturhistorisch nicht gesicherte, aber dafür durchaus anregende Studie (S. 349 ff).

Es ist erfreulich, dass eine Festschrift, deren vielfältige wissenschaftliche Beiträge hier nur angedeutet werden konnten, sich nicht der filmischen Adaption Stormscher Novellen verschließt. Eine sehr gründlich gearbeitete Studie dokumentiert unter dem treffenden Titel "Storm ver-filmt"? (S: 363 ff) die umstrittene "Aquis submersus"-Verfilmung von Veit Harlan ("Unsterbliche Geliebte") in ihrer Wirkung auf Kino-Besucher von 1951 und belegt, wie nah bzw. wie fern der Film der Stormschen Dichtung war und mit welcher Strategie der Regisseur damalige Filmbedürfnisse beim deutschen Publikum zu berücksichtigen wusste. Dieser auch kulturgeschichtlich interessante Beitrag dürfte zu weiteren Untersuchungen über Storm-Verfilmungen anregen.

Als Resümee lässt sich nur bestätigen, dass sich die Erwartungen und Ziele der Herausgeber (S: 17) durch einen reichen Ertrag erfüllt haben. Doch wünschenswert wäre eine Arbeit zur Rezeption von Novellen und Gedichten dieses Künstlers in der Gegenwart gewesen, zumal "Storm-Lektüren" durchaus Fragen nach Interessen und Motiven heutiger Storm-Leser einschließen.

Manfred Horlitz, Potsdam

Theodor Storm: Pole Poppenspäler. Hg. von Johannes Diekhans. Erarbeitet und mit Anmerkungen versehen von Jean Lefebvre. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2000.

In der Lektüre-Reihe des Schöningh-Verlages ist ein neuer Band mit der Jugendnovelle "Pole Poppenspäler" erschienen, die Storm 1874 als Auftragsarbeit für die Zeitschrift "Die Jugend" geschrieben hat und die seit der Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts von der Jugend-Schriftenbewegung zum Muster klassischer Schullektüren erkoren wurde. Seit mehr als hundert Jahren gehört die Puppenspielergeschichte zum Lektürekanon der Sekundarstufe I sämtlicher Schulformen und hat bis heute ihre Attraktion auf Lehrer nicht verloren. Auch wenn vor einiger Zeit eine kritische Stimme auf das gesunkene Schülerinteresse verwiesen und für eine Behandlung der Novelle in der gymnasialen Oberstufe plädiert hat (Wilhelm Große: Theodor Storm. Pole Poppenspäler. In: Lehrpraktische Analysen. Stuttgart 1994), so belegen viele Gespräche mit Schülern und Lehrern, die das Storm-Haus in Husum besuchen, dass "Pole Poppenspäler" neben dem "Schimmelreiter" nach wie vor die meistgelesene Erzählung Storms ist.

Die neue Ausgabe in der Reihe "Einfach Deutsch" bietet zunächst den Text mit Lesehilfen in den Anmerkungen, ohne die eine Lektüre Schülern heute, mehr als hundert Jahre nach der Entstehung des Textes, kaum mehr zumutbar erscheint. Jean Lefebvre hat die Kommentare verschiedener wissenschaftlicher Editionen und früherer Schulausgaben geschickt für seinen Leserkreis verarbeitet und schafft somit die Grundlage eines ersten Leseverstehens. Der Text wird von den Illustrationen des Erstdrucks von Carl Ofterdinger begleitet. In einem Anhang bietet der Herausgeber umfangreiche Materialien an, die ebenfalls den didaktischen Blick des Schulpraktikers erkennen lassen. Der Kommentar ist nicht überfrachtet mit literaturwissenschaftlichen Informationen, sondern reduziert die biographischen Hinweise auf das Notwendigste und ist durch geschickt ausgewähltes Bildmaterial sehr anschaulich gestaltet. Eine Seite mit Daten zu Storm Leben wird durch Bild- und Textmaterial zum Schreibprozess und zur Entstehungsgeschichte der Erzählung ergänzt. Eine originelle Idee ist es, drei Lieder in den Anhang aufzunehmen, nämlich die beiden in der Novelle erwähnten: "Der Kosak und das Mädchen", gesungen vom Kröpel-Lieschen bei der misslingenden letzten Vorstellung Tendlers und das niederdeutsche Volkslied "Lott is dot", das von dem ungebildeten Publikum nach Sprengung der Vorstellung gegröhlt wird. Lefebvre ergänzt dieses Kapitel seines Anhangs durch Klaus Hoffmanns "Der König der Kinder", einer deutschen Adaption eines Chansons von Jean Ferrat. Trefflich ausgewählt wurden die von knappen Texten begleiteten Bildmaterialien zu den Schauplätzen der Novelle, Husum und Heiligenstadt, die durch Zeichnungen von Wilhelm M. Buch ergänzt werden. Es schließen sich Materialien zum Puppenspiel an; zwei Textauszüge aus Kellers Roman "Der grüne Heinrich" und ein Kapitel aus Karl von Holteis "Die Vagabunden" vermitteln neben einem Auszug aus Simrocks "Puppenspiel vom Doktor Faust" etwas von der zeitgenössischen Atmosphäre bei Marionettentheater-Aufführungen. Es folgen Hinweise für eine praktische Unterrichtsgestaltung mit Hilfe von Stabpuppen und zwei knappe Texte zur Novellentheorie. Damit erhalten die Schüler altersgerechte Informationen, die zu verschiedenen didaktischen Konzeptionen benutzt werden können, auf deren beispielhafte Skizzierung die Reihe aber verzichtet. Die letzte Seite enthält ein kurzes Literaturverzeichnis; vielleicht sollte der Verlag den Leseheften seiner Reihe ein kurzes Nachwort beigeben, in dem die historischen Zusammenhänge von Entstehung und Rezeption der Texte zumindest angedeutet werden.

Gerd Eversberg, Husum

Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Hg. von Claudia Lorenz und Christiane von Schachtmeyer. München: Oldenbourg 2000. (Lektüre, Kopiervorlagen)

Seitdem der Deutschunterricht die handlungsorientierte Behandlung von Literatur entdeckt hat, bieten die Verlage den Deutschlehrern entsprechend ausgearbeitete Modelle, die die Schüler zu kreativer anstatt zu kopflastiger Auseinandersetzung anregen sollen. Storms "Schimmelreiter" eröffnet die Reihe 'Lektüre', die für einen lebendigen Umgang mit Ganzschriften Pate stehen soll. Die Grenzen dieser Methode sind jedoch bei dieser Darstellung offensichtlich.

In der Einleitung wird die Aufteilung des didaktischen Modells in einen nicht ganz nachvollziehbaren Texterschließungs- und in einen Interpretationsteil gegliedert. Dieser doppelte Zugang verlangt eine doppelte Auseinandersetzung, die sich für junge Leser als Belastung erweisen kann. Die textproduktiven Aufgabenstellungen sind zahlreich, vielleicht zu zahlreich, wenn man bedenkt, dass Storms Novelle hohe Anforderungen an die Fiktionskompetenz stellt und sich deshalb nicht nur schülerorientiert erschließen lässt. Das vorliegende Literaturkonzept lässt vermuten, dass sich die Textarbeit im Ankreuzen von vorgegebenen Lösungsmöglichkeiten oder in der Produktion paralleler Texte (Tagebuch, Theaterfassung, Eheberatung, Gerichtsverhandlung) erschöpft. Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass einzelne Lösungsmöglichkeiten in den multiple-choice-Aufgaben abwegig und unangemessen erscheinen. Dass sie zu einem verfälschenden Textverständnis führen können und deshalb mit Vorsicht zu handhaben sind, zeigen z.B. die Fragen zum Charakter Hauke Haiens, der sich nicht statisch fassen lässt. Seine Position im Dorf und sein Selbstverständnis sind dem Wandel unterworfen und verlangen eine detailliertere Antwort. Querverweise in den Fragestellungen hätten diese Schwäche abfangen können.

Grundsätzlich seien Bedenken angemeldet gegen eine Methode, die Begriffe und Ein-Wort-Sätze vorgibt, statt sie selbstständig von Schülern erarbeiten zu lassen. Zur Verbesserung des Leseverhaltens wird in der Einleitung die Verzögerung als methodische Möglichkeit genannt. Hier wäre es bestimmt leserfreundlicher gewesen, eine (wenn auch knappe) Vorstellung der Arbeitsergebnisse Lindehahns und der Theorie Isers über die Vorstellungserschwerung bei fiktiven Texten zu liefern. Diese ergiebige Rezeptionshaltung, wozu das Erarbeiten von Lesehypothesen gehört, wird aber in den gewählten Aufgaben nicht genügend fruchtbar gemacht. Zu begrüßen sind hingegen die ansprechenden Illustrationen, die in die Interpretationsarbeit einbezogen werden. Dass das Gemälde Caspar David Friedrichs ‚Mönch am Meer' von der ‚Schimmelreiter-Didaktik' bereits 1996 entdeckt wurde, tut dessen Verwendung keinen Abbruch.

Die Zielgruppe dieses Erschließungsmodells wird nicht genannt, aber aus der Art einzelner Fragen ist zu entnehmen, dass schon die 7. oder 8. Klasse anvisiert wird. Manche Aufgaben wiederum können die Schüler überfordern, entweder weil die Formulierung zu wissenschaftlich oder weil der Umfang der notwendigen Textkenntnis von Schülern in diesem Alter nicht zu leisten ist oder aber weil sich die Informationen außerhalb ihrer Erfahrungsbereiche befinden. Zu häufig bleibt die Funktion solcher Aufgaben unklar. Fragen zum aktuellen Deichbau können von Experten beantwortet werden, sie tragen aber nicht weiter zu einem besseren Verständnis der von der Novelle aufgeworfenen Problematik bei. Das Umschreiben einer Textvorlage in einen Wetterbericht mag das Sprachvermögen des Schülers schärfen, die poetische Funktion des Stils Storms wird aber durch den vorgeschlagenen Sachtext nicht verdeutlicht. Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass Schüler zuerst ihr eigenes Verhältnis zum Aberglauben prüfen, bevor sie über dessen Funktion im Werk nachdenken. Der ausgesuchte Weg wird aber nicht kritisch beleuchtet, so dass der Eindruck entsteht, dass Hauke Haien erfolglos gegen die unaufgeklärten Dorfbewohner kämpft und allein daran scheitert. Das unterdrückte weibliche Erzählen, dem die aktuelle Forschung einen besonderen Stellenwert widmet, hätte im Rahmen der Analyse des Aberglaubens oder der Autorintention untersucht werden müssen. Die Sekundärliteratur beschränkt sich allerdings auf einen verlagsinternen Titel, der vor zehn Jahren erschienen ist - die überarbeitete Fassung von 1999 wird nicht erwähnt.

Es ist zu bezweifeln, ob mit diesem einseitigen methodischen Ansatz der junge Schüler zu einem angemessenen Verständnis der Novelle geführt werden kann, es sei denn, dass die im Anhang angeführten Informationen und verschiedene Antwortmöglichkeiten in einem abschließenden Unterrichtsgespräch diskutiert werden, sodass die Lerngruppe die erzielten Arbeitsergebnisse in einem literarischen Zusammenhang betrachten kann.

Jean Lefebvre, Büsum

Storm-Texte in neuen "Oldenbourg Interpretationen". 1. Lyrik von der Romantik bis zur Jahrhundertwende. Interpretiert von Thomas Gräff. München: Oldenbourg 2000.
2. (Bd. 96) (K)ein Kanon. 30 Schulklassiker neu gelesen. Hg. von Klaus-Michael Bogdal und Clemens Kammler. München: Oldenbourg 2000. (Bd. 100)

Für den Schulgebrauch und damit als theoretische Basis für Deutschlehrer ist die Reihe "Oldenbourg Interpretationen" konzipiert. In den theoretischen Teilen der neu konzipierten Bände dieser Reihe finden sich fachwissenschaftlich fundierte Darstellungen epochenspezifischer Literaturkonzepte und methodische Reflexionen, die den neusten Stand literaturwissenschaftlicher Theorienbildung und Interpretation aufgreifen. Die hier vorgenommene Kanonisierung von Dichtung für Unterrichtszwecke vor allem der Gymnasien wirft immer auch ein Schlaglicht auf den Stand der Erforschung einzelner Autoren. Ich konzentriere mich in dieser Besprechung auf die Frage, was in diesen Publikationen Neues über Theodor Storm zu erfahren ist.

Die Bedeutung des Lyrikers Storm, die von seinen Zeitgenossen nicht erkannt wurde, zeigt sich weniger in Einzelinterpretationen ausgewählter Gedichte als viel mehr in solchen Darstellungen, die im Kontext des Epochenwandels auf Verschiebungen von Akzenten oder gar auf Paradigmenwechsel hinweisen. So bestimmt der Verfasser im Kapitel über den Bürgerlichen Realismus als zentrales Anliegen der Dichtung zwischen 1848 und 1890 die Poetisierung und Verklärung der Wirklichkeit. Dies gelang in der Prosadichtung dieser Zeit einer ganzen Reihe von Autoren, die bedeutende Novellen und Romane publizierten, in herausragender Weise; die Produktion populärer Lyrik aber zeichnet sich eher durch Quantität denn durch Qualität aus, sie schon von Zeitgenossen als eklektizistisch abgewertet wurden.

Einer der wenigen Lyriker dieser Zeit, die sich neben Hebbel, Keller, Meyer und Fontane bewusst von der Goldschnittpoesie der Epigonen absetzte, war Theodor Storm. Ohne eine geschlossene Poetik des Gedichts zu schaffen, hat Storm seine Grundüberzeugungen mehrfach klar formuliert, nach denen im lyrischen Gedicht das Allgemeine sich im Individuellen auszusprechen habe, die Phrase vermieden werden müsse, aus der Inspiration Allgemeingültiges entstehen und auf die Gefühle des Lesers ein neues Licht geworfen werden müsse.

Thomas Gräff wählt zwei Gedichte Storms aus und zeigt an den Texten, wie der Dichter seinen an verschiedenen Orten schriftlich fixierten poetologischen Grundsätzen gerecht zu werden sucht. Das erste Gedicht ist "Meeresstrand", in dem Storm 1854 die Unmittelbarkeit seiner Naturerfahrung einfängt. Gräff stellt den Text in die Tradition des Abendliedes und zeigt, mit welchen sprachlichen Mitteln Storm die Atmosphäre der Einsamkeit gestaltet. Dadurch, dass Storm die Landschaft nicht mehr, wie das die romantische Naturlyrik versucht hatte, mit der Gefühlsregung des betrachtenden Ichs assimiliert, sondern sein Gefühl der Vereinzelung auf Elemente der Landschaft überträgt, weist der Text über die traditionelle Erlebnislyrik hinaus und vermittelt eine typische Erfahrung der Moderne. Dies trifft in noch größerem Maße auf das 1878 entstandene Gedicht "Geh nicht hinein" zu, in dem sich Storm mit einem Todeserlebnis auseinandersetzt. Der Detailrealismus der Beschreibungen und vor allem die ungewöhnliche Form belegt, wie Storm in seiner späten Lyrik die abgenutzten Muster der Erlebnislyrik weit hinter sich gelassen hat und wie nahe er mit seiner schlichten Sprache der modernen Lyrik steht.

Damit wird deutlich, dass die Charakterisierung Storms als letztem Lyriker in der Nachfolge der Poesie der klassischen und romantischen Epoche, die sich auf Aussagen des Dichters selbst berufen kann, einer dringen Ergänzung bedarf. Einige von Storms Gedichten weisen nicht nur auf die Moderne voraus, sie sind selber Teil einer neuen Dichtungsauffassung, die sich von dem klassischen Totalitätsanspruch der Weltauffassung verabschiedet und am Ende des 19. Jahrhunderts nur noch zu Selbstaussage und Vereinzelung fähig ist.

Etwas von der Bedeutung Storms für die Entfaltung der Lyrik des 20. Jahrhunderts wird auch im ersten Kapitel von Hermann Kortes Darstellung der theoretischen Voraussetzungen der lyrischen Moderne deutlich: Lyrik des 20. Jahrhunderts (1900-1945), München 2000.

Storms Unmittelbarkeitspostulat, das auf den Prämissen der erlebnismäßigen und stimmungshaften Wirkung von Gedichten gründet, wird mit programmatischen Statements von Hugo von Hofmannsthal und Stefan George kontrastiert. Wie kein anderer hat der Husumer Dichter versucht, das Ideal der im Gefühl gegründeten Dichtung für die eigene Gedichtproduktion ebenso wie für die Auswahl fremder Texte für Lyrikanthologien fruchtbar zu machen und dadurch die Illusion des Unmittelbaren seiner in den Text projizierten Seelenstimmung zu verabsolutieren. Diese Hoffnung auf eine Wirkungsmacht der Lyrik wird von Vertretern der Moderne endgültig verworfen und durch eine Poesie der Form ersetzt, in der die künstlerische Autonomie gegen jeden Anspruch einer Wirkungskonzeption abgegrenzt wird. Am Beginn des 20. Jahrhunderts dominiert die Selbstreferenz des autonomen Dichters, dem Schreiben zur existenziellen Notwendigkeit wird und dessen Texte nicht mehr in Abhängigkeit von Marktbedingungen, Literaturkritik und öffentlicher Meinung entstehen, sondern in denen sich der Anspruch individuellen Künstlertums sehr oft hermetisch ausdrückt. Dass einige der großen Gedichte Storms entgegen seiner eigenen theoretischen Konzeption nicht nur auf diese Wende verweisen, sondern bereits Elemente des Modernen selbst enthalten, ist eine These, die von der Storm-Forschung noch differenzierter untersucht werden muss.

Dass Storms Novellistik längst in den Kanon der Schullektüre Eingang gefunden hat, belegt auch der Jubiläumsband der Reihe (Odelbourg Interpretationen 100), in dem die Herausgeber 30 Schulklassiker von Lessing ("Emila Galotti" und "Nathan der Weise") bis Süskind ("Das Parfüm") neu beleuchten wollen. Sie haben Schulpraktiker und Hochschullehrer verschiedener Generationen gebeten, die bekannten Werke in knappen Beiträgen (in der Regel auf 5 bis 6 Druckseiten) neu zu interpretieren. Natürlich verlangt diese radikale Beschränkung des Umfangs eine Konzentration auf einen Aspekt und provoziert eine holzschnittartige Begründung der jeweiligen Bedeutung der Texte, die es sinnvoll erscheinen lässt, sie im Deutschunterricht zu behandeln.

Elisabeth K. Paefgen verzichtet in ihrem Beitrag Frauen, die rechnen, und Männer, die nicht (mehr) reden können. Storm, "Der Schimmelreiter", 1888 auf eine Auseinandersetzung mit den bisherigen Deutungen von Storms Hauptwerk und konzentriert sich auf die Beziehung zwischen Elke und Hauke, auf weibliches und männliches Wissen, auf Rechnen und Leben. Sie weist auf die häufig vernachlässigte Tatsache hin, dass Elke als Mädchen Hauke Haien in der Rechenkunst ebenbürtig war, dass sie aber in der Ehe auf diese Fähigkeit nie zurückgreift. Daraus entsteht die Frage, welche Funktion die Klugheit Elkes für die Novellenhandlung überhaupt hat. Offenbar haben die Storm-Interpreten bisher übersehen, dass Elke ihren Mann nie bei der Verwirklichung von dessen Deichbauplänen unterstützt, dass sich ihr Segen allein auf ihre Ehe bezieht. Daraus und aus weiteren Indizien, darunter dem Bruch des alten Deiches, den Hauke zu erneuern versäumt hat, leitet die Verfasserin die These ab, das hätte verhindert werden können, "wenn Hauke die redende Verbindung mit seiner klugen Frau gehalten hätte."

Gerd Eversberg, Husum

Burkhard Seidler, Herwig Grau und Dietmar Wagner: Literaturkartei: "Der Schimmelreiter". Mülheim: Verlag an der Ruhr 2000.

Die Herausgeber der neuen Literaturkartei zu Storms 1888 erstmals veröffentlichten Hauptwerks "Der Schimmelreiter" zählen diese Novelle zu den "Klassikern" der Schullektüre und sind davon überzeugt, dass sich mit diesem Text "moderner Unterricht machen lässt" und dass er "Themen berührt, die Schüler berühren" (S. 3). Damit deckt sich die knappe didaktische Reflexion der Einleitung mit Beobachtungen, die mir von einer Storm-Renaissance sowohl der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem "Schimmelreiter" als auch seiner Bedeutung als Schullektüre zu sprechen erlauben. Ich habe in den letzten Bänden der "Schriften" auf die überraschende Aktualität des "Schimmelreiter" mehrfach hinweisen können.

Im Vordergrund der Kartei stehen die Materialien für den Unterricht; in der(zu) knappen Einleitung für Lehrer wird aber das didaktische Konzept der Autoren zumindest im Ansatz erkennbar. Der "Schimmelreiter" gilt als ein Stück "Weltliteratur", das in einer einzigartigen Landschaft verortet werden und moderne Leseerfahrung "auf eine faszinierende und irritierende Weise" erweitern kann. Dieser Hinweis auf das Spannungsgefüge von "nachvollziehbarer Realität und geahnter Irrealität" deckt sich mit den Beobachtungen, die man bei der Lektüre der vielen unterschiedlichen Interpretationen gewinnt, die in den letzten Jahrzehnten zu Storms Novelle veröffentlicht wurden. In ihnen wurde einerseits auf Storms Faszination durch das Konzept der Aufklärung und den dadurch ermöglichten technischen Fortschritt hingewiesen, andererseits aber auch die Brechung dieses optimistischen Denkens betont, das sich im "Schimmelreiter" vor allem durch die Bedeutung des Mythos und den Einbruch des Irrationalen zeigt. Vor diesem zumindest angedeuteten geistesgeschichtlichen Hintergrund entfalten die Autoren Unterrichtsmaterialien, "die Varianten der Textanalyse ebenso ermöglichen wie Textproduktion und das Denken und Verstehen im Handeln verankern wollen". (S. 3)

Die Kartei ist in "Arbeitsbogen" und "Hinweise zu dem Arbeitsbogen" gegliedert, die beide den Schülern zur Verfügung gestellt werden sollen. Die sehr umfangreichen Materialien - die Literaturkartei enthält fast einhundert Kopiervorlagen im Format DIN-A4 - provozieren gelegentlich die Frage nach der Unterrichtsökonomie; es darf aber nicht vergessen werden, dass sich die Reihe an Klassen aller Schulformen richtet und dass der Lehrer zur Auswahl aus dem angebotenen Material genötigt und zur Entwicklung eines didaktischen Konzepts verpflichtet ist, wenn die Unterrichtsreihe nicht ins Beliebige zerfließen soll. Dennoch erscheint mir eine Erweiterung der Kartei um ein paar Seiten fachliche und didaktische Überlegungen sinnvoll, vor allem um dem Benutzer ein paar Kriterien an die Hand zu geben, nach denen er die Ziele seines Unterrichts formulieren und Wege zu sinnvollen Zusammenstellungen ausgewählter Materialien finden kann. Eine vollständige Vervielfältigung des Materials für die Hand der Schüler kann doch wohl kaum das dahinter stehende didaktische Konzept sein.

Die Themen entfalten in ihrer Gesamtheit ein buntes Kaleidoskop möglicher Zugänge zum Text: Am Deich, am Meer, extreme Landschaft als Erfahrungswelt; Deichbau, Biographisches; Geographie der Schauplätze, Tier- und Pflanzenwelt u.s.w. In einer textorientierten Erarbeitungsphase werden diese Aspekte weiter differenziert: Land und Leute, Personen, Typen, Filmische Adaptionen sind Perspektiven, die zum größeren Teil auf produktionsorientierte Schüleraktivitäten zielen. Motivierend wirken Arbeitsaufgaben, die durch Gegenwartsbezüge den historischen Abstand zum Novellengeschehen aufheben, ohne das Bewusstsein dieser Distanz unkritisch aufzugeben: Zeitungstexte, Tagebuchnotizen, Produktion von Alternativerzählungen, Briefe und andere Schreibanlässe werden vor der historischen Textfolie zu jugendgemäßen Schreibversuchen und ermöglichen Assimilationen zwischen dem jeweiligen Schülerbewusstsein und der von einem klassischen Text ausgelösten Fiktion. Bei aller Aktualisierung (z.B. Buchgestaltung, Werbung) kommen aber Struktur der Novelle und Charakter der Personen nicht zu kurz. Haus, Deich, Meer, soziales Gefüge früherer Jahrhunderte sowie Haukes Verhältnis zur lebenden Kreatur werden so in einen Bedeutungszusammenhang mit der Landschaft und mit der Biographie des Autors gebracht und immer wieder auf primäre Textstellen zurückgeführt. Die Arbeitsbogen ermöglichen eine Vielfalt unterschiedlicher Schüleraktivitäten und dienen zugleich der Ergebnissicherung, der Leistungsüberprüfung und - für den Lehrer - der Unterrichtsevaluation. Es schließen sich Hinweise zu Referaten und Projekten sowie ein Quellen- und Medienverzeichnis an.

Insgesamt macht das Material einen solide recherchierten und didaktisch verantwortungsbewusst und schülernah durchdachten Eindruck und lässt sich in verschiedenen Jahrgangstufen der Sekundarstufe I unterschiedlicher Schulformen einsetzen.

Gerd Eversberg, Husum

Fontane-Handbuch. Hg. v. Christian Grawe und Helmuth Nürnberger. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2000.

Das vorliegende Fontane-Handbuch bietet Lesern und Benutzern ein umfassendes Kompendium der gegenwärtigen Fontane-Forschung. In der bewährten Reihe der "Handbücher" des Kröner Verlags haben 24 renommierte Fontane-Forscher aus sieben Ländern eine alle relevanten Aspekte beachtende Gesamtdarstellung auf dem aktuellen Kenntnisstand der Fontane-Forschung - im Zusammenwirken mit der Fontane-Gesellschaft - in gebotener Komprimierung publiziert. Das informations- und kenntnisreiche Handbuch entspricht mit seiner übersichtlich strukturierten Themenvielfalt dem aktuellen literarischen Interesse, das dem Werk Theodor Fontanes wie nie zuvor gilt.

Im Zentrum dieses auf vielfältige Weise anregenden Kompendiums stehen thematisch organisierte Forschungsbeiträge des gegenwärtigen Wissens über Fontane, sein Leben und Werk sowie seine Wirkung. Der übersichtlichen Gliederung der Themenvielfalt unter den leitenden Aspekten "Theodor Fontane in seiner Zeit", "Kulturelle Tradition und Poetik", das Werk und dessen Wirkung, entspricht eine leser- und benutzerfreundliche Konzeption des Kompendiums, das den Wunsch nach überblicksartiger Orientierung und schwerpunktsetzender Information optimal erfüllt und auf die vielfältigen Interessen und Tendenzen der heutigen Fontane-Forschung verweist.

In die einzelnen Beiträge wie in die bibliografischen Angaben und Hinweise, die auch Anhaltspunkte für weitere Studien mitliefern, sind die Erträge zahlreicher Publikationen der letzten Jahre aufgenommen und eingearbeitet. In den Mittelpunkt des spezifisch literarischen Interesses gerückt sind Fontanes Erzählwerk (seine Romane, Novellen, Erzählungen, Fragmente, Entwürfe), die Lyrik, die selbstbiografischen Schriften (Tagebücher und Briefwerk) und die journalistischen Texte (politische Journalistik, Kriegsberichte und Kritiken). Der biografisch-historische Teil "Theodor Fontane in seiner Zeit" mit seinen umfang- und einsichtsreichen biografischen Fassetten zeigt Fontane als Zeugen und Chronisten seines Jahrhunderts, seine Verflechtung mit dem literarischen Leben und seine produktive Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Stilrichtungen. Instruktiv werden "Kulturelle Traditionen", mit denen Fontane sich engagiert befasst hat, referiert: Fontanes differenziertes Verhältnis zur deutschen, englischen und russischen Literatur, zum europäischen Naturalismus und darüber hinaus zu Kirche, Religion und Philosophie und bildenden Kunst. Gegenwärtig wird Fontanes bedeutendes literarisches Erzählwerk als Kulminationspunkt des realistischen Romans der europäischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zugleich als eine der bedeutendsten künstlerischen Leistungen der Weltliteratur gewürdigt. Während Fontane ein Zeitgenosse von Heine, Büchner, Hebbel, Keller, Storm und Heyse war, trat er als Romancier von europäischem Rang erst mit Nietzsche, Freud und Gerhart Hauptmann an die literarisch interessierte Öffentlichkeit. Vor allem führte Fontane den realistischen Roman, auf Grund seiner eigenen poetischen Positionen und Techniken, auf das Niveau des europäischen Realismus bis an die Grenze der Moderne - das vorgestellte Fontane-Bild steht heute auf Augenhöhe mit Dickens, Zola und Turgenjew. Naturalismus, Impressionismus, Symbolismus, Jugendstil sind die kulturellen Traditionen und Stilrichtungen, mit denen sich Fontane in rezeptiver Produktion auseinander setzte, seine charakteristische Poetik und seine spezifisch realistische Technik entwickelt und ausgebildet hat- - vielleicht deutet dieser literaturkritische Impetus Fontanes am meisten auf die eindrucksvolle Modernität seines Erzählwerkes. Das Kapitel über die Wirkung und Rezeption referiert daher nicht nur die Editions- und Forschungsgeschichte sowie die Literaturkritik, die Fontanes Werk auf sich ziehen konnte, sondern darüber hinaus auch Fontanes Einfluss auf die Literatur des 20. Jahrhunderts.

Das benutzerfreundliche Handbuch bietet den nicht zu unterschätzenden Vorteil, sich dem dargestellten Werk Fontanes mit konzentriertem Blick und zugleich aus erweiterter Perspektive zu nähern. Es kann gerade auch dem jüngeren Leser und Benutzer, der Fontane und sein Werk noch nicht kennt, oder dem Leser, der ihn aus einem verengten oder verstellten Blickwinkel kennengelernt hat, einen grundlegenden und darüber hinaus blickerweiternden Zugang eröffnen und erleichtern. Auch wer schon zu den Fontane-Freunden gehört, wird Bekanntes wieder erkennen, zu unrecht fast Vergessenes und sogar ihm Unbekanntes, biografisch und werkgeschichtlich kompetent kommentiert, vorfinden; es wird wohl wenige Fontane-Freunde geben, die durch dieses kenntnis- und lehrreiche Kompendium nicht dazulernen können -Vertrautes wirkt selten langweilig, Verborgenes weckt Neugierde.

Auf diese Weise kann das Fontane-Handbuch zum aktuellen Bild Fontanes wirksam beitragen: Es legitimiert sich durch die leitende Intention der Autoren, Fontanes Leben und Persönlichkeit, seine Verflechtung mit den Zeitströmungen, seine Bedeutung als Zeuge und Chronist seines Jahrhunderts, sein Verhältnis zur europäischen Literatur und Kultur sowie sein literarisches Gesamtwerk und dessen Wirkung komprimiert darzustellen. Das mit diesem Kompendium gelungene Arrangement einer Gesamtdarstellung von Leben, Werk und Wirkung Fontanes lädt gerade auch jüngere Leser ein zu gezielter oder überblicksartiger Lektüre eines unverzichtbaren Nachschlagewerks, das auch spezielle Einzelforschungen inspirieren wird. Die versammelten Erkenntnisse und Einsichten der gegenwärtigen Fontane-Forschung erscheinen wie eine Kulturreise durch die Fontane-Zeit, auf der auch Unerwartetes überrascht.

Walter Zimorski, Oberhausen

Ludwig Pietsch: Wie ich Schriftsteller geworden bin. Der wunderliche Roman meines Lebens. Herausgegeben von Peter Goldammer, Berlin: Aufbau-Verlag GmbH 2000.

Peter Goldammer legt mit der zweibändigen Autobiografie Ludwig Pietschs "Wie ich Schriftsteller geworden bin" die Neu-Edition des Memoirenwerkes eines Mannes vor, der, wie der Herausgeber wohl weiß, den Anspruch auf den Titel Schriftsteller nur sehr bedingt erheben kann. Pietschs Erinnerungen an das Berlin seiner Entwicklungsjahre zwischen 1852 und 1866, vom mühseligen Beginn als Zeichner für die "Leipziger Illustrierte Zeitung" bis hin zum anerkannten Kunstberichterstatter der großen Berliner Blätter, "Spenersche Zeitung", "Berliner Allgemeine" und vor allem "Vossische Zeitung", werden für den heutigen Leser nicht durch die Selbstdarstellung einer faszinierend originellen Künstlerpersönlichkeit interessant, sondern fast ausschließlich dadurch, dass der Verfasser zu einer großen Anzahl bedeutender Menschen seiner Zeit, die nicht nur aus Künstlerkreisen stammten, in enger, ja freundschaftlicher Beziehung stand. Diese erstaunliche Bindungsfähigkeit und eine Zeitgenossenschaft mit wachem Sinn für Entwicklungen in Kunst, Literatur und Politik machen Pietschs Memoiren zu einer "kulturgeschichtlichen Quelle ersten Ranges" (584), wie Goldammer mit Recht hervorhebt. Zumindest die Kenner der Storm-Biografie werden ihm darin sofort zustimmen, denn Pietschs Erinnerungen an die Besuche der Storm-Familie in Heiligenstadt zählen zu den wenigen Zeugnissen, die aus der Sicht eines Außenstehenden Lebensstil und Geselligkeiten sowie speziell den Freund des Husumer Dichters, Alexander von Wussow, in jenen Jahren auf dem Eichsfeld schildern. Darüber hinaus gehören der Rückblick auf seine erste Begegnung mit Storm im Frühling 1855 im Gebäude der Berliner Kunstakademie vor einer der unheimlich-traumhaften Landschaften Karl Blechens und die auf der exakten Beobachtungsgabe des Malers Pietsch beruhenden Porträts von Theodor und Constanze, zu den einzigartigen historischen Momentaufnahmen, die eine Dichterbiografie zu verlebendigen vermögen.

Und damit sind wir bereits mitten in der Schilderungskunst des im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts so renommierten Berliner Journalisten. Freilich sollte man etwas Muße und Geduld mitbringen, um mit dem Verfasser in die Welt der literarischen Zirkel, der großen Sänger, der Berliner Ateliers, der Redaktionsstuben seiner Zeit einzutauchen, denn Pietsch ist nicht der pointenreiche, witzige Plauderer, sondern ein ernsthafter Berichterstatter, der in seiner Affinität zum Bohemeleben nie die großen politischen Ereignisse im Europa jener Jahre und speziell natürlich die in Preußen aus dem Blick verliert. Das betrifft den Krimkrieg (1853 - 1856) genauso wie die Befreiung Italiens im französisch-italienisch-österreichischen Krieg von 1859, die Erhebung Bismarcks zum preußischen Ministerpräsidenten 1862 und den in kriegerische Auseinandersetzungen der europäischen Großmächte einmündenden Schleswig-Holstein-Konflikt 1864/66, um nur einige Eckdaten des politischen Kommentars zu nennen. Die geheimen Fluchtpunkte von Pietschs Zeitdarstellung aber sind im Grunde die bürgerliche Revolution von 1848/49, das ‚tolle Jahr' in Köthen im Kreise von befreundeten Demokraten, die im Herzogtum Anhalt-Dessau eine der freiheitlichsten Verfassungen durchgesetzt hatten, sowie die sich daran anschließenden Erfahrungen, welche sich in einem Satz andeuten, den er in Bezug auf Ferdinand Lassalle formuliert: "Sehr merkwürdig und schwer verständlich erschien es mir, dass die furchtbare, vernichtende praktische Kritik, welche doch die von uns allen miterlebte Weltgeschichte von 1849 - 57 an den Ideen von 1848 geübt hatte, auf ihn ganz ohne Eindruck geblieben war und seinen Glauben durchaus unerschüttert gelassen hatte." (210) Das Porträt Ferdinand Lassalles, des Begründers der Sozialdemokratie in Deutschland, im 1. Band, 17., 18.und 22. Kapitel ist unbedingt zur Lektüre zu empfehlen. Pietsch, der Lassalle über Lina und Franz Duncker, den Verlagsbuchhändler und Herausgeber der "Volkszeitung" , 1857 kennen gelernt hatte, besuchte trotz des eingestandenen Gegensatzes "zwischen meiner und seiner Lebensstellung, seinem und meinem Naturell, seinen und meinen Anschauungen von der Kunst, der Dichtung, der Natur und Geschichte" (210) regelmäßig die abendlichen Gesprächsrunden in der Wohnung Lassalles, zu denen u.a. auch Varnhagen von Ense, der General a. D. von Pfuel (Jugendfreund Heinrich von Kleists), Ernst Dohm, der Redakteur des "Kladderadatsch", Adolf Stahr und Fanny Lewald sowie Hans von Bülow kamen. Die Eindrücke Pietschs von diesen geselligen Zusammenkünften, die im Sommer auch im Biergarten stattfanden, den der Verfasser wie viele andere Lokalitäten Berlins, Straßenzüge, Häuser etc., mit viel Liebe fürs Detail beschreibt, beschränken sich hier nicht nur auf den äußeren, z.T. recht exzentrischen Lebensstil des Philosophen, der seinen Ausdruck findet in der heute freilich etwas lächerlich anmutenden Haschisch-Séance zu Beginn des 18. Kapitels, sondern Pietsch versteht es durchaus auch, ein Charakterporträt des Mannes zu entwerfen und dessen Stellung in der Berliner Gesellschaft zu erfassen, die durch Lassalles Verhältnis zur geschiedenen Gräfin Sophie von Hatzfeld nicht unkompliziert war. Die im März 1862 erschienene Kritik Lassalles an Julian Schmidts Literaturgeschichte, "Herr Julian Schmidt, der Literaturhistoriker" hat auf Seiten Pietschs zu einer Abkühlung der Beziehung geführt, da er unterdessen in ein geradezu familiäres Verhältnis zum mächtigen Literaturkritiker der "Grenzboten" getreten war. Die Schilderung von Julian Schmidts Häuslichkeit in Berlin zur Zeit seiner Arbeit an der "Berliner Allgemeinen Zeitung", der warmherzigen Beziehung zu seiner Frau zeigen menschliche Seiten eines Mannes, über den die Nachwelt harsche Urteile fällte aufgrund seines doktrinären, einen Großteil der modernen Literatur ausgrenzenden Literaturverständnisses; gerade um dieser Mitteilungen wegen liest man Pietschs Buch jedoch gern und nimmt manche Eigentümlichkeiten in Kauf, nicht zuletzt den stilprägenden, permanenten Enthusiasmus des Verfassers für eine durch "Geist und Kunst geadelte Geselligkeit" (499), die in der Beschreibung des Salons der von ihm hochverehrten Sängerin Pauline Viardot-García seinen Höhepunkt findet. Vieles wäre noch zu nennen, was die Lektüre lohnt, es sind vor allem die authentisch wirkenden Einzelzüge, die für den Kenner das Bild von der jeweiligen historischen Persönlichkeit runden bzw. sanft korrigieren, angefangen bei Christian Rauch, den Pietsch noch in seinem Atelier gezeichnet hat, über Paul Konewka, dessen so einzigartige Begabung für den Scherenschnitt er begreifbar zu machen sucht, bis hin zu Adolf Menzel, den er bei seiner Arbeit am Gemälde der Krönung Wilhelms I. beobachtete, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. "Wer kennt die Völker, nennt die Namen..." könnte man mit Recht bei diesem 566 Seiten umfassenden Memoirenwerk fragen, ca. 900 Personen umfasst letztlich das Register. Man wäre wohl im Meer des eigenen Unwissens oder des Vergessenen verloren, würde man nicht einen sicheren Lotsen an seiner Seite wissen, der den Leser wie den Autor begleitet: Peter Goldammer erweist sich wieder einmal als ausgezeichneter Editor, dessen Nachwort (574 -584) zu Pietschs zweibändigem Werk, das 1893/94 erstmals im Verlag von F. Fontane & Co. in Berlin erschien, als Vorwort zu empfehlen wäre, denn der Herausgeber erläutert am souveränsten Vorzüge und Grenzen der Autobiografie des Verfassers und gibt neben knappen biografischen Notizen auch wichtige Hinweise für dessen Einordnung in die Berliner Literatenszene. Sehr hilfreich erweisen sich hierbei die im Anhang publizierten Äußerungen "Über Ludwig Pietsch" von Wilhelm Lübke, Theodor Fontane und Alfred Kerr, die aus höchst unterschiedlichen Blickwinkeln die Fähigkeiten des Autors abschätzen - vielleicht ist Kerrs Porträt das treffendste. Aber wofür man dem Herausgeber vor allem dankt, ist die Aufmerksamkeit, mit der er den Text leserfreundlich erschließt, das betrifft nicht nur den ca. 40-seitigen Anmerkungsteil und das Personenregister, sondern auch die Kolumnentitel, mit denen Goldammer jede zweite Seite versieht, da Pietsch selbst für die Orientierung des Lesers in seinem Erinnerungswerk fast nichts getan hat: Die je zweiundzwanzig Kapitel des ersten und zweiten Teils sind von ihm nur durchnummeriert worden. Erst durch die thematischen Hinweise und natürlich durch das Personenregister wird es möglich, den Text je nach Interessenlage auch auszugsweise zu lesen und den Zugriff auf Informationen, die einen bestimmten Personenkreis betreffen, zu erlangen. Diese editorische Sorgfalt erstreckt sich, fast könnte man sagen, selbstverständlich bei Goldammer, auch auf den Anmerkungsteil, der solide Informationen zu historischen Ereignissen, Personen, Werken etc. bringt, ohne die der Leser hier nicht auskommt. Wichtig in dem Zusammenhang sind auch eine ganze Reihe von Korrekturen an Mitteilungen Ludwig Pietschs, entbehrlicher dagegen wäre vielleicht mancher Nachweis von schöngeistigen Anspielungen gewesen. Aber wer wollte Letzteres als editorisches Manko verbuchen bei diesem gelungenen und heute immer seltener werdenden Versuch, einen Mann, dessen Texte nicht zum literarischen Kanon gehören, dessen lebendiges Zeitbild jedoch so manche literatur- bzw. kunsthistorische Zusammenhänge zu erhellen vermag, dem Vergessen zu entreißen. Dazu gehören Interessen und Kenntnisse, die die ganze Breite der Literaturgeschichte erfassen, sowie das Verantwortungsgefühl dafür, dass dem heutigen Leser die einstige literarische Vielfalt nicht gänzlich aus dem Blick schwindet. Von dieser Überzeugung sind Goldammers Editionen stets getragen gewesen, wir denken hier nur an die "Begegnungen und Würdigungen. Literarische Porträts von Carl Spitteler bis Klaus Mann" von 1984 oder den schönen Band: Otto Gildemeister: "Allerhand Nörgeleien. Essays" von 1991. Man wünscht dem Altmeister der Storm-Edition noch viele Jahre, in denen er im Sinne dieses Bildungsauftrages wirken möge und uns mit seinen Entdeckungen Lektürevergnügen der besonderen Art verschafft.

Regina Fasold, Leipzig

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