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Storm im Unterricht
Auf den Spuren Storms in der Stadt Husum und im Museum der Wasserreihe:
Fragebogen (118.7 kb) zu Storm und Husum
(Die Lösungen sind im Museum an der Kasse erhältlich.)
Zu Fragen der Didaktik im Literaturmuseum - Dr. Gerd Eversberg
Das Storm-Museum in Husum wird jährlich von mehr als 10.000 Schülern besucht; viele der Gruppen werden durch das Haus geführt, andere kommen vorbereitet in unser Haus und praktizieren "Museumsunterricht".
Die folgenden Überlegungen wollen Lehrern Hinweise geben, die einen eigenen Weg suchen, sich auf einen Besuch mit ihrer Klasse in unserem Haus entsprechend vorzubereiten.
Literaturunterricht ist seit einigen Jahren wieder "in", weil die Literaturdidaktik nicht müde wird, zu betonen, welchen Wert der Literatur für den schöpferischen Aneignungsprozess von Welt durch den Schüler zukommt. Die Wissenschaft vom Literaturunterricht beschreibt in immer neuen pädagogischen Paradigmata das Verhältnis von literarischer Realität und Literaturrezeption; sie erlaubt dem Schüler sogar, innerhalb ihrer Begründungsstrategien als Kommunikationselement mitzuspielen, rezeptiv oder kreativ, wenn es der lernpsychologische Ansatz fordert auch beides zugleich. Die vielfältigen Begründungsketten werden zudem zumeist stimmig vorgetragen, sie weisen uns einsichtig auf die Notwendigkeit hin, die übergreifende kulturelle Dimension von Literatur als bedeutsamen Inhalt des Deutschunterrichts zu akzeptieren: "Mehr Literatur im Deutschunterricht!" ist eine Forderung, die der Zustimmung fast aller pädagogischer Richtungen gewiss sein kann.
Der gängige Leseunterricht ist auf fixierbare Erkenntnisziele hin ausgerichtet; gleichgültig, welches Verständnis von "kritisch" den Leseprozess steuert, es geht dem Lehrer zu aller erst um rational fassbares und möglichst abfragbares Wissen, denn wenn er das vermittelt, wird sein unterrichtliches Tun gerechtfertigt, weil der Anspruch den herrschenden Normen genügt und die Ergebnisse überprüfbar sind. Dass diese Legitimation zu einem gewissen Teil in Selbsttäuschung gründet und auf fragwürdigen lerntheoretischen Voraussetzungen beruht, wird nur selten bewusst. Denn bei "dem Schüler", von dem die Didaktiker sprechen, handelt es sich immer um eine Abstraktion von wirklichen Kindern, mit denen wir Lehrer es in der Praxis zu tun haben.
Der Deutschlehrer täuscht sich nur allzu oft in der Annahme, seine eigene Form des Lesens sei identisch mit der seiner Schüler. Mehr noch, er glaubt allzu gern, sein affektives Verhältnis zum Unterrichtsgegenstand, also zur Literatur, entspräche dem Verhältnis seiner Schüler zu eben demselben Gegenstand. Das ist aber nur selten der Fall. Wohl dem Kollegen, dem es vergönnt ist, seine persönliche Freude an einem literarischen Kunstwerk auf seine Schüler zu übertragen! Auch die best durchdachten und mit pädagogischen Fingerspitzengefühl klein gearbeiteten kognitiven Lehrstrukturen helfen da oft gar nichts. Unsere Schüler lesen privat zumeist wenig oder gar keine Literatur; ihre emotionalen Bedürfnisse werden durch andere Medien, wie zum Beispiel das Fernsehen, viel besser angesprochen und befriedig. Wir brauchen uns nur einmal der Mühe zu unterziehen, die täglichen Kinderprogramme im Kabelnetz durchzutesten, und wir wissen, dass wir dagegen mit unserem vor allem rational aufbereiteten Literaturunterricht hoffnungslos ins Hintertreffen geraten. Und wenn Schüler privat lesen, dann wollen sie Vergnügen, Genuss und vor allem Freiheit von jedem didaktischen Kalkül.
In dieser Feststellung liegt aber auch etwas Positives für den Literaturunterricht, denn viele Schüler weichen nicht dem Lesen selber aus, sondern vor allem der ausschließlichen Verwendung des Lesens als Transportmittel für Wissen, für Einsichten und für intellektuelle Fähigkeiten. Es wäre also schon der Mühe wert, einige Überlegungen anzustellen, auf welche Weise die Intentionen des Literaturunterrichts mit den Erwartungshaltungen unserer Schüler vermittelt werden können.
Auch was das Lernen betrifft, geben wir uns manchen Täuschungen hin. Indem wir unter lernzielorientiertem Unterricht vor allem die Vermittlung von zumeist hierarchisch geordnetem Wissen und Fähigkeiten verstehen, ignorieren wir die Erkenntnisse der modernen Kognitionspsychologie. Sie hat gezeigt, dass Lernen eher als Aufbau von Begriffsnetzen zu verstehen ist denn als linearer Vorgang, der durch logische Operationen bestimmt wird. Das oft chaotisch erscheinende Lernen von Schülern außerhalb des Unterrichtszusammenhangs (selbst gesteuertes Lernen zum Beispiel am Computer) belegt, dass wir allen Anlass haben, über die Frage nachzudenken, ob die von uns wohl durchdachten Lehrstrategien, etwa der Weg vom Einfachen zu Komplexen, dem Lernvollzug unserer Schüler auch entsprechen. Was ist, wenn sich Lernen anders vollzieht, als es die Autoren von Lehrbüchern und die Verfasser von Unterrichtsmodellen annehmen?
Die Dominanz des Abstrakten in unseren Klassenzimmern - man kann das in einem beliebigen Schulbuch jederzeit überprüfen - sollte Anlass genug sein, über die Bedeutung der modalen Repräsentation in kognitiven Prozessen nachzudenken. Da Denken und Begriff sich immer an Vorstellbarem orientieren, ja unlösbar mit Vorstellungen verbunden sind, kommt der Anschaulichkeit in jedem Lernprozess eine große Bedeutung zu. Das ist übrigens keine so neue Erkenntnis, denn schon 1968 hat Martin Wagenschein in seinem Buch "Verstehen lehren" auf die Bedeutung des anschaulichen Lernens - allerdings für den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht - hingewiesen. Wie bei jedem Begriffsaufbau benötigt der Schüler auch im Literaturunterricht Vorstellungsrepräsentanten, die es ihm ermöglichen, die ihm fremde Welt der Gedichte, Erzählungen und Theaterstücke für sich persönlich anzueignen. Die Bilder, die sich beim Lesen einstellen, müssen vom Leser selbst erzeugt werden; sie orientieren sich am bisher von ihm Erlebten. Gerade weil hier die Fantasie eine zentrale Rolle spielt, sollten wir dies als Chance nutzen, der allzu glatten Welt des Fernsehkonsums etwas Substanzielles entgegenzusetzen.
Der Besuch in einem Museum kann in besonderer Weise eine Antwort auf die beiden von mir skizzierten pädagogischen Problemfragen darstellen. Die dem Unterhaltungs- und Bewegungsbedürfnis der Schüler entgegenkommende Exkursion schafft günstige Voraussetzungen für eine produktive Aneignung von Literatur und erleichtert dem Lehrer die Organisation eines Prozesses, in dem die von ihm vorgeplante Rezeption auch ohne äußeren Zwang gelingen kann. Außerdem bietet der Museumsbesuch mannigfaltige Gelegenheiten, durch unmittelbare Wahrnehmungen (optisch, akustisch, haptisch) ein Vorstellungsrepertoire zu entwickeln, das in ein Gesamterlebnis eingebettet Teile der oft so fernen literarischen Fiktion ganz nah erlebbar macht. Weniger theoretisch ausgedrückt: Die Schullektüre ist oft schnell vergessen; der Museumsbesuch bleibt in der Erinnerung lange erhalten.
Allerdings muss - da ja auch das Museum eine didaktische Einrichtung ist - dieser Besuch gut vorbereitet sein. Die inhaltliche Vorbereitung verantwortet der Lehrer; bei der Gestaltung des Besuchs hier im Hause, kann er Vorbereitungshilfen anfordern. Eine geeignete Unterrichtsvorbereitung (Lektüre einer Storm-Novelle, Behandlung von Gedichten, Informationen über Leben und Werk usw.) schafft die Voraussetzung, dass eine Klasse nicht bloß durchs Haus "läuft", dass ihr nicht einfach Vortrag oder Videofilm vorgesetzt wird, vielmehr können den jeweiligen unterschiedlichen Voraussetzungen angemessenen Aktivitäten geplant und unterstützt werden. So können angemeldete Klassen ein aufbereitetes Feld für entdeckendes Lernen vorfinden, das ihren Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten optimal angemessen ist. Bewährt haben sich auch Referate, die "vor Ort" gehalten werden; schriftliche Suchaufgaben für jüngere Schüler in den Museumsräumen und gemeinsames Anschauen von Filmen, die im Zusammenhang mit der Unterrichtslektüre stehen. Das Storm-Archiv sammelt auch Dokumentationen, die von Lehrern mit ihren Klassen nach Unterrichtsreihen erarbeitet wurden, die mit Theodor Storm zu tun haben.
Das Storm-Haus bietet ihnen eine Fülle von Objekten, die werkbiographische Zusammenhänge veranschaulichen können; wir verstehen darunter historische Zeugnisse wie Möbel, Bilder, Handschriften, Drucke und andere Dokumente, die aus Storms Besitz oder dem der Familie bzw. des Freundeskreises stammen, und die auf jeweils spezifische Details im Leben des Dichters verweisen. Ihre didaktische Funktion erhalten diese Dokumente, wenn an ihnen der Zusammenhang mit einem literarischen Werk Storms verdeutlicht werden kann (Entstehung, Quellen, autobiographische Bedeutung, Rezeption), weil sie dann eine zweite Ebene der Anschauung bilden, die zur Vorstellung hinzutreten kann, die sich der Leser von einem literarischen Werk bereits gebildet hat. Diese konkrete Anschauung, zu der sich das Wissen von biographischen Fakten gesellen kann, vermittelt - zumindest im Idealfall - Leseerlebnis und kognitiven Anspruch des Literaturunterrichts. Solch eine altersgemäße Erarbeitung kann (vielleicht auch) sonst weniger lesewillige Schüler dazu motivieren, ältere Texte mit Lust zu rezipieren.