Dokument vom:
18.09.2008
Der Schimmelreiter - Quellen

Quellen

  • Storms Quellen
  • Der gespenstige Reiter. Ein Reiseabenteuer
  • Historische Persönlichkeiten
  • Hans Momsen aus Fahretoft
  • Aus alten Chroniken
  • Sagen aus Schleswig-Holstein

Storms Quellen

Gespenstische Geschichten haben Storm schon sehr früh interessiert. In der Zeit, in der Storm Sagen aus Schleswig-Holstein sammelte, stieß er auch auf eine Reihe von Gespenstergeschichten, die er zu einem Manuskript zusammenstellte, das er unter dem Titel „Neues Gespensterbuch“ veröffentlichen wollte. Zu dieser Veröffentlichung ist es allerdings nicht gekommen, aber das Manuskript hat sich in Privatbesitz erhalten und wurde 1991 erstmals von Karl Ernst Laage herausgegeben. Eine Schimmelreiter-Sage allerdings finden wir weder in den von Storm gesammelten Sagen, noch in seiner Manuskriptsammlung „Neues Gespensterbuch“. Das erklärt sich leicht, denn am 13. Februar 1843 schrieb er an seinen Freund Theodor Mommsen: „Der Schimmelreiter, so sehr er auch als Deichsage seinem ganzen Charakter nach hier her paßt, gehört leider nicht unserm Vaterlande; auch habe ich das Wochenblatt, worin er abgedruckt war, noch nicht gefunden.“
In der Regionalliteratur Schleswig-Holsteins wird immer wieder auf eine Schimmelreitersage verwiesen, die ihre Wurzeln in Nordfriesland haben soll. Sogar im „Schleswig-Holsteinischen Wörterbuch“, hg. von Otto Mensing (Bd. 4, Neumünster 1933) kann man lesen: „In Eiderstedt geht die Sage von dem Deichgrafen, der bei hoher Flut den Damm durchstechen ließ und sich mit seinem Schimmel in den Bruch stürzte, worauf das Wasser langsam zurücktrat; man sieht ihn nachts auf seinem Pferde aus dem Bruch hervorstürzen.“ Kurz nach der Uraufführung der ersten „Schimmelreiter“-Verfilmung im Januar 1934 schrieb der Heimatforscher Felix Schmeißer aus Husum:[1] : "Seine eigentliche Heimat [...] hat er hier oben an der Nordseeküste, und zwar wie in Nord- so auch in Eiderfriesland und jenseits der Eider auch noch im verwandten Dithmarschen. Denn in allen drei Landschaften ist mir noch vor einigen Jahrzehnten die Sage vom gespenstischen, sich unheilverkündend in eine Wehle stürzenden Schimmelreiter von alten Leuten erzählt worden." Neben dieser Behauptung Schmeißers belegt eine zweite Äußerungen aus den späten zwanziger Jahren, daß den Zeitgenossen Storms die Erzählung als ursprüngliche Nordfriesische Sage erschien, denn J. Jaspers übernahm sie 1929 in einem Artikel über Sturmflutsagen. Eine Erzählung von einem gespenstischen Reiter findet man auch in der Sammlung "Friesische Legenden von Texel bis Sylt", die 1928 von Hermann Lübbing herausgegeben wurde. Eine inhaltlich übereinstimmende Sage teilt Rudolf Muus 1933 in seiner Sammlung "Nordfriesische Sagen" mit. Beide Herausgeber haben eine Text nacherzählt, der erstmals 1890 von Heinrich Momsen aus Garding unter der Überschrift "Der Schimmelreiter" herausgegeben worden war und der Anfang des 20. Jahrhunderts in eine pädagogische Sammlung zur Heimatkunde der Halbinsel Eiderstedt gelangte. Die Schimmelreiter-Sage findet sich auch in neuen Anthologien friesischer Sagen, die 1993 und 1994 auf den Markt kamen.[2]
Viele Besucher Husums und des Kreises Nordfriesland wollen sehen, wo der Schimmelreiter entlangritt und nacherleben, wo und wie Storms bekannteste Gestalt gewirkt hat. Von kaum einer anderen literarischen Figur hat sich in den Köpfen der Leser ein so realistisches Bild eingeprägt wie das von Hauke Haien und von seinem Kampf gegen die Gewalten der Sturmflut. Dazu haben auch die drei Filme beigetragen, die 1933, 1978 und 1984 nach der Novelle gedreht wurden und in denen eine eindrucksvolle Visualisierung der Novellenhandlung vorgenommen wurde. Die Landschaft an der Küste Nordfrieslands ist für viele ohne den Deichbaumeister Hauke Haien und ohne den Spuk des gespenstischen Reiters nicht mehr vorstellbar. Da liegt die Vermutung nahe, daß Storm, als er mit den Vorarbeiten zum „Schimmelreiter“ begann, auf eine Sage zurückgriff, die in seiner nordfriesischen Heimat mündlich tradiert worden war. Allerdings irren Felix Schmeißer und andere Heimatforscher, denn die Existenz einer Schimmelreiter-Sage läßt sich vor dem Erscheinen von Storms gleichnamiger Novelle (1888) weder in Nordfriesland noch in Dithmarschen belegen. Es gibt lediglich einen Hinweis in der vonm Karl Müllenhoff herausgegebenen Sagensammlung, dass in Lauenburg an der Unterelbe von einem Schimmelreiter erzählt wurde (s. unten).

Anmerkungen:

  • [1] Felix Schmeißer: Storms Schimmelreiter. Seine Vorgeschichte und sein Schauplatz. In: Husumer Nachrichten vom 17.1.1934.
  • [2] Gerd Eversberg: Mündlichkeit/Schriftlichkeit/Drucktext. Literarische Produktion als Medienwechsel (am Beispiel von Sage und Spukgeschichte). In: Gerd Eversberg u. Harro Segeberg (Hg): Theodor Storm und die Medien. Berlin 1999, S. 49-66. Vergl. auch die Studie von Reimer Kay Holander: Theodor Storm. Der Schimmelreiter. Kommentar und Dokumente. Berlin 1976.

Storm konnte sich im Alter nicht mehr genau daran erinnern, wo er zum ersten Mal die Schimmelreiter-Sage gelesen oder gehört hatte. Er glaubte zunächst, dass er sie durch Lena Wies, jene Husumer Bäckerstochter, die ihn so nachhaltig als Knaben beeinflusst hat, gehört habe. Zumindest schreibt er in seinem Gedenkblatt „Lena Wies“: „Und dann – ja, dann erzählte Lena Wies; [...] und mochte es nun die Sage von dem gespenstischen Schimmelreiter sein, der bei Sturmfluten nachts auf den Deichen gesehen wird und, wenn ein Unglück bevorsteht, mit seiner Mähre sich in den Bruch hinabstürzt, oder mochte es ein eignes Erlebnis oder eine aus dem Wochenblatt oder sonst wie aufgelesene Geschichte sein.“ Storm glaubte noch im Jahre 1881, die Schimmelreiter-Sage im „Husumer Wochenblatt“ gelesen zu haben. Aber das ist nicht richtig, denn in dieser Zeitschrift ist eine solche Erzählung nicht zu finden. Der Dichter gibt uns in der Novelle selbst einen Hinweis auf die Quelle, für das, was er zu erzählen beabsichtigt. Der anonyme Ich-Erzähler im Anfangs-Rahmen erzählt, er habe vor „einem halben Jahrhundert“ im Hause seiner Urgroßmutter eine „in blaue Pappe“ eingebundene Zeitschrift gelesen, er vermag sich aber nicht mehr zu erinnern, „ob von den »Leipziger« oder von »Pappes Hamburger Lesefrüchten«.“ Nachforschung haben gezeigt (Karl Hoppe In: Westermanns Illustrirte Deutsche Monatshefte 1949, Nr.5, S. 54-47), dass hier auch wirklich für Theodor Storm die Quelle für die Schimmelreiter-Sage liegt. 1838 erschien in Hamburg die „Lesefrüchte vom Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes“, die von J. J. C. Pappe herausgegeben wurden. Der Band zwei enthält den Nachdruck einer Gespenstergeschichte aus der Zeitschrift „Danziger Dampfboot“ Nr. 45 vom 14.4.1838. Die Sage hat ihren Ursprung an der Weichsel und wurde 1838 erstmals mit der Überschrift „Der Deichgeschworene zu Güttland“ veröffentlicht.

Danziger Dampfboot vom 14.4.1838; hier wurde die Quelle für Storms Novelle erstmals veröffentlicht.

 

Der gespenstige Reiter
Ein Reiseabenteuer

Es war in den ersten Tagen des Monates April, im Jahre 1829 - so erzählte mir mein Freund - als Geschäfte von Wichtigkeit mein persönliches Erscheinen in Marienburg erforderlich machten; ich mußte mich also zu einer Reise dahin entschließen, so gern ich sie auch bis zur schönern Jahreszeit aufgeschoben hätte, denn wer selten reiset, macht so eine Partie lieber bei schönem Wetter; allein die Nothwendigkeit der Sache machte, daß ich meine Reise beschleunigen mußte.
Ein gemiethetes Reitpferd stand um vier Uhr Nachmittags vor meiner Thüre; ich ließ den Braunen nicht lange warten, schwang mich hinauf, und nach wenigen Minuten hatte ich Danzig im Rücken.
Mein Weg längs der Chaussee ging gut, und das einzige Hinderniß, welches ich zu bekämpfen hatte, war das kalte, unangenehme, regnigte Wetter.
Durchfroren und durchnäßt kam ich bei ziemlicher Dunkelheit in Dirschau an; stieg im erstgelegenen Gasthof ab, um ein wenig zu ruhen, meinem sich einfindenden Appetit durch einen lmbiß zu begegnen, und durch einen erwärmenden Trunk meine Glieder zu erfrischen; fragte unter Anderm den Wirth, wie es mit der Weichsel stände, und bekam zur Antwort: „Schlecht; Ihr Hinüberkommen wird nicht allein beschwerlich, sondern auch gefährlich seyn;“ doch ich durfte mich nicht abschrecken lassen, weil ich nach meinem Bestimmungsorte mußte, und wo möglich wollte ich dort noch an demselben Abend eintreffen; ich bezahlte dem Wirthe meine Rechnung und eilte weiter; aber angekommen an der Weichsel, wurde ich von den Fährknechten zu meinem Schrecken unterrichtet, daß das heutige Hinüberkommen für keinen Preis ausführbar sey, wenn ich nicht mit Gewalt in die Arme des Todes eilen wolle; auch sahe ich zum Theil die Unmöglichkeit der Sache wohl selber ein; doch wurde mir der Vorschlag gemacht, daß ich bis zur Güttländer Fähre reiten solle, weil dort das Hinüberschaffen vielleicht noch zu bewerkstelligen seyn würde. Ich ließ mir dieses nicht zwei Mal sagen, griff in die Zügel, lenkte um, und fort ging's zur Güttlander Fähre. -
Dunkler und dunkler wurde es rings um mich, nur hin und wieder drang das Leuchten eines Sternes durch die Nebelwolken, fremd war mir die in schwarze Schatten gehüllte Gegend, kein menschliches Wesen erblickte ich, und nur das Brausen des Sturmes und das Geprassel des, durch das Wasser immer höher gehobenen und geborstenen Eises waren meine schaurigen Begleiter. - Da plötzlich höre ich dicht hinter mir das rasche Trappeln eines Pferdes, und freudig, in dem Wahne, einen Gesellschafter nahe zu haben, blicke ich mich erwartungsvoll um und sehe - Nichts - wohl aber trabt es immer schärfer und näher, mein Brauner schnaubt und stampft, kaum vermochte mein spitziger Sporn, ihn vorwärts zu treiben, und ein kalter Schauer überlief meinen ganzen Körper; doch beruhigte ich mich, da mein sonderbarer Begleiter verschwunden zu seyn schien; als ich ihn aber plötzlich wieder, ohne ihn zu sehen, vor mir hersprengen hörte, war es, als wollten mir meine Glieder die Dienste versagen, ein Fieberfrost durchrieselte mich, und mein Pferd wurde höchst unruhig; was aber die Unheimlichkeit noch mehr vermehrte, war: daß dieses unbegreifliche Wesen mir plötzlich und pfeilschnell vorüber zu sausen schien, so hörte sich das ungewöhnliche Geräusch wenigstens an, welches sich wieder allmählig verlor, um aber, wie es schien, mit erneuter Schnelligkeit zurückzukehren; es wieder hören, dicht hinter mir haben, die anscheinende Gestalt eines weißen Pferdes, mit einem schwarzen, menschenähnlichen Gebilde darauf sitzend, mir im fliegenden Galopp vorbeireiten zu sehen, war Eins; mein Brauner machte einen Seitensprung, und es fehlte nicht viel, so wären wir Beide den Damm, ohne es zu wollen, hinabgestürzt.
Ich habe die letzten Feldzüge mitgemacht, feindliche Kugeln tödteten neben mir meine besten Kameraden, vom Kanonendonner bebte die Erde, doch mich machte nichts erbeben; aber hier auf dem Weichseldamme, ich gestehe es zu meiner Schande, zitterte ich an allen Gliedern. -
Da hörte ich in der Ferne das Bellen eines Hundes, und wurde das Blinken eines Lichtes gewahr. Ha! dachte ich, da werden sich auch Menschen befinden, wie du einer bist; schnell ritt ich dem Lichtscheine entgegen, und kam an eine sogenannte Wachtbude; ich stieg ab, und fragte die darin versammelte Menge, ob ich bei ihnen die Nacht über verweilen könnte - denn für heute war ich des Reisens satt- und meine Frage wurde mit „Ja“ beantwortet.
Froh, ein schützendes Obdach gefunden zu haben, brachte ich zuerst mein Pferd in Sicherheit, setzte mich dann ruhig in eine Ecke, pflegte mich, so gut es sich thun ließ, und hörte die Gespräche der Landleute, die hier auf Eiswache waren, mit an; ließ aber wohlbedächtig, um mich nicht Neckereien Preis zu geben, nichts von meinem überstandenen Abenteuer merken.
Da war's, als rauschte irgend etwas dem Fenster vorbei. Mit einem Schreckensausruf sprangen mehre Männer auf, und Einer von ihnen sagte: „Es muß irgendwo große Gefahr seyn, denn der Reiter auf dem Schimmel läßt sich sehen;<„> und der größte Theil eilte hinaus.
Der Reiter nun befremdete mich nicht, wohl aber die gemachte Bemerkung, weshalb ich den neben mir sitzenden alten Mann ersuchte mir hierüber eine genügende Erklärung zu geben, worauf ich folgende Auskunft erhielt:
„Vor vielen Jahren, da sich auch unsere Vorfahren hier einst versammelt hatten, um auf den Gefahr drohenden Eisgang genau Acht zu haben, bekleidete ein entschlossener, einsichtsvoller und allgemein beliebter Mann aus ihrer Mitte das Amt eines Deichgeschworenen. An einem jener verhängnißvollen Tage entstand eine Stopfung des Eises, mit jeder Minute stieg das Wasser und die Gefahr; der erwähnte Deichgeschworene, der einen prächtigen Schimmel ritt, sprengte auf und nieder, überzeugte sich überall selbst von der Gefahr und gab zu deren Abwehr die richtigsten und angemessensten Befehle; dennoch unterlagen die Kräfte der schwachen Menschen der schrecklichen Gewalt der Natur, das Wasser fand durch den Damm einen Durchweg, und schrecklich war die Verheerung, die es anrichtete. Mit niedergeschlagenem Muthe kam der Deichgeschworene in gestrecktem Gallopp beim Deichbruche an, durch den sich das Wasser mit furchtbarer Gewalt und brausendem Getöse auf die so ergiebigen Fluren ergoß; laut klagte er sich an, auf diese Seite nicht genug Acht gegeben zu haben, sah darauf still und unbewegt dieses Schrecken der Natur einige Augenblicke an; dann schien ihn die Verzweiflung in vollem Maaße zu ergreifen, er drückt seinem Schimmel die Sporen in die Seiten, ein Sprung - und Roß und Reiter verschwinden in den Abgrund. - Noch scheinen Beide nicht Ruhe gefunden zu haben, denn sobald Gefahr vorhanden ist, lassen sie sich noch immer sehen.“ -
Ich setzte am (andern) Morgen meine Reise weiter fort, sah den Reiter nicht wieder, wohl aber die schreckliche Verheerung, die das Wasser im obengenannten Jahre angerichtet hatte.
Hiemit schloß mein Freund, betheuerte die Wahrheit der Sache, und schien durch mein Kopfschütteln verdrießlich werden zu wollen.
(Das Danziger Dampfboot.)


Lesefrüchten vom Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes. (Ernsten und fröhlichen Inhalts.) Gesammelt von J.J.C. Pappe, Jahrgang 1838, Zweiter Band. Hamburg, 1838, S. 125-128.

Titelblatt der „Lesefrüchte”; in dieser Zeitschrift wurde auf den Seiten 125-128 die Weichselsage vom „Gespenstigen Reiter” wieder abgedruckt, und in dieser Zeitschrift las der 20jährige Storm erstmals vom „Schimmelreiter”.

Historische Persönlichkeiten

Storm hatte, als er sich mit der Niederschrift und Konzeption seiner „Schimmelreiter“-Novelle beschäftigte, diesen Text nicht mehr vorliegen, er konnte Motive aus dieser Erzählung also nur aus der Erinnerung in seine Novelle übernehmen. Über diese Quelle hinaus verwendete er allerdings auch eine Reihe anderer schriftlicher Quellen. Zunächst sind einige historische Gestalten, die für den Deichbau und für die Küstenschutzmaßnahmen in Nordfriesland eine bedeutende Rolle gespielt haben, von Storm für die Gestaltung seiner Personen verwendet worden. Da ist Johann Claussen Rollwagen (1563-1623), der in Tönning saß und sich um das Deichwesen in Eiderstedt, auf Nordstrand und nördlich von Niebüll verdient gemacht hat. Weiter hat er die Gestalt des Hans Momsen aus Fahretoft (1735-1811) als Vorbild für seinen Hauke Haien genommen. Dieser Hans Momsen war besonders als Mathematiker, Astronom und Navigationslehrer bekannt. Darüber hinaus spielen historische Gestalten von Deichmeistern aus der näheren Umgebung für Storms Vorstellung von seiner Novellenwelt eine bedeutende Rolle, unter ihnen Hans Iwert Schmidt (1774-1824) und sein Sohn Johann Iwersen Schmidt (1798-1875), die Deichgrafen in der Hattstedter Marsch waren, an deren Außendeich Storm seine Erzählung angesiedelt hat.

Lundenberg, Hof des Deichgrafen Johann Iwersen Schmidt (1798-1875) in der Hattstedter Marsch. Aquarell von Julius Grelsdorff (1779). Vorbild für den „Deichgrafenhof“ in der Novelle

Zu diesen Personen studierte Storm Quellenmaterial und prägte sich die Wirkungsstätten aus eigenem Augenschein genau ein. So konnte er in seiner Novelle die erfundenen Örtlichkeiten um das Dorf, in dem Hauke Haien groß wird und schließlich lebt und wirkt, die Örtlichkeiten draußen an der Nordsee am alten Deich und den späteren neu eingedeichten Koog „Hauke Haien-Koog“, mit den vorher von ihm selbst erlebten und erfahrenen Bildern der Marsch und der Deichlandschaft zu einem neuen Handlungsraum verknüpfen, in dem er die dramatischen Ereignisse um Hauke Haien ansiedelte. Über die großen Sturmfluten, die die Küstenlinie vor Nordfriesland im 17. Jahrhundert gravierend verändert haben, informierte sich Storm in der einschlägigen Chronikliteratur. Seine umfangreiche Bibliothek enthielt eine Reihe von Werken, die die Ereignisse dieser Zeit anschaulich beschrieben. So konnte er zunächst auf „Anton Heimreichs Nordfriesische Chronik“ vom Jahre 1668 zurückgreifen, in der die nordfriesischen Harden (Verwaltungsbezirke) mit den bestehenden Bedeichungen und den Schäden durch die Wasserfluten detailliert beschrieben werden. Man findet in Storms Novelle teilweise wörtliche Übernahmen, in dem Teil, in dem die große Sturmflut beschrieben wird. Auch der „Sammlung einiger Husumischer Nachrichten“ von J. Laß, die in Flensburg 1750 ff. erschien, entnahm Storm eine Reihe von Informationen für seine Novellenhandlung. Schließlich verwendete er ein Buch von Johann Nicolai Tetens „Reisen in die Marschländer an der Nordsee zur Beobachtung des Deichbaus“ (1788). In diesem Buch wird beschrieben, wie ungeeignet die alten friesischen Deiche sind, um großen Sturmfluten zu trotzen. Und es werden neue Deichprofile vorgestellt, die eine lange, flache Seite zum Meer aufweisen, an denen sich die Energie der Welle verzehren kann. Genauso plante Hauke Haien seine Deichprofile, und diese wurden seit dem 18. Jahrhundert vor der nordfriesischen Küste auch erfolgreich gebaut. Storm übertrug die von Tetens beschriebene historische Entwicklung aus dem 18. in das 19. Jahrhundert, denn Hauke Haien und sein soziales Umfeld entspricht dem Leben in Nordfriesland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Genau wie die Räume, die Storm für seine Novelle in der Fantasie konzipierte, die wirkliche Geografie an der Küste Nordfrieslands nur wie einen Steinbruch nutzte, um die einzelnen Örtlichkeiten so neu zusammenzusetzen, wie der Dichter sie in seiner Novelle gestalten wollte. So verwendete er auch historische Erfahrungen in seiner Heimat seit dem 17. Jahrhundert als Versatzstücke und kombinierte sie zu einem neuen Ganzen. Hauke Haiens energisches Wirken und sein schließliches Scheitern, das ist keine wirklichkeitsgetreue Abbildung historischer Ereignisse an der Nordseeküste. Storm will vielmehr mit seiner Novelle einen Menschen im Kampf gegen die Naturgewalten, aber auch gegen die Dummheit und Ignoranz seiner Mitmenschen zeigen, der den Fortschritt vertritt und dadurch erfolgreich für das Wohl der anderen wirken kann. Zugleich ist Hauke Haien aber unfähig, sich auf die anderen, weniger Einsichtigen einzulassen. Er isoliert sich mehr und mehr und muss schließlich erkennen, dass er von den Leuten gefürchtet wird. Er scheitert auch an der Hybris, weil er glaubt, alle Probleme technisch lösen zu können, und Storm kritisiert in dieser Gestalt den ungebrochenen Fortschrittsglauben seiner Zeit.

Es folgen einige Auszüge aus Chroniken und Sagensammlungen, die von Storm bei seinen Recherchen benutzt wurden:

1. Hans Momsen aus Fahretoft

Hans Momsen. Ein Zahl-, ein Maß- und auch ein Kraftmann. Ein Friese.
(Die Friesen rechnen gut.) (Nach Paulsen und Sörensen in den Prov. Berichten 1813 und 14.)

Hans Momsen, geboren 1735 in Fahretoft und gestorben in Fahretoft 1811, gehört zu den merkwürdigsten Männern, die unser Vaterland aufzuweisen gehabt und nach ihrem Tode den Nachkommen darzustellen hat; während sie leben thun sie es selber.
Was ist er gewesen? Ein Landmann und eines Landmannes Sohn, der als ein solcher sich zu einem Mathematiker und zu einem Künstler gemacht hat. Er hat sich dazu gemacht, das ist in einem so genauen Wortsinn zu nehmen, wie bei nicht Vielen, die auch etwas aus sich oder sich zu etwas gemacht haben. Die Schule des Orts kann sich Momsens als ihres Zöglings nicht rühmen, im Gegentheil, sein Schullehrer hatte gar kein Wohlgefallen daran, daß der Schüler schön ritzen und pricken konnte, wie seine Risse und Figuren genannt wurden. Das Haus hob ihn auch so wenig, daß der Vater vielmehr höchst unzufrieden damit war, wenn der Sohn zeichnete, goß, löthete, drechselte. Und Privatstunden hat Momsen nicht eine einzige gehabt; wer sollte sie ihm geben in Fahretoft? Doch der Schmid daselbst war sein Freund.
Wie meistens die ersten Anreize, die dem Geist eine Richtung geben, im Verborgenen gelegen sind, also bei Momsen auch, indessen, was ihn insonderheit für die Mathematik ein- und hingenommen hat, darüber findet sich eine Nachricht. Sein Vater, der etwas vom Landmessen verstand, zeichnete einmal die Figur eines gemessenen Stück Landes. Der Sohn sah zu und fragte den zeichnenden und berechnenden Vater einmal, warum dieß eben so und nicht anders wäre. Die Frage schien dem Vater nicht übel, er konnte sie aber nicht beantworten, die Theorie ging ihm ab, und sagte: Suche auf dem Boden unter meinen Büchern da eins heraus, das Euklid betitelt ist, das wird dir sagen, was du verlangst. Er fand den Euklid, aber der war in einer Sprache geschrieben, die er nicht verstand, in holländischer. Mit Hülfe einer holländischen Fibel und einer holländischen Bibel ward er aber bald der Sprache mächtig, dagegen die Figuren machten ihm ziemlich lange zu schaffen. Wo er ging und stand, trug er seinen Euklid bei sich, und studirte ihn so fleißig, daß er in seinem vierzehnten Jahr ihn doch völlig inne hatte. Daneben trieb er viele andre Dinge, bauete kleine Mühlen, Schiffe, arbeitete in Stahl, Messing, Kupfer und Blei. Dem Vater gefiel das wenig und um die Grillen, wie ers nannte, dem Sohn recht gründlich auszutreiben, schickte er ihn nach der Confirmation, im Sommer 1752, an den Deich, wo er von Ostern bis Martini den ganzen Tag Erde schieben mußte. Allein hier auch setzte er seine Studien fort in den Zwischenstunden, und eine Nacht um die andere wandte er für seine wissenschaftlichen und mechanischen Arbeiten an. Im Winter darauf war er fleißig besonders in Verfertigung verschiedener Instrumente, Meßketten, Boussolen, Bestecke u. a. m., die alle sich durch Genauigkeit und Schönheit auszeichneten.
Neue Schleswig-Holsteinische Provinzialberichte. In: Schleswig-Holsteinscher Gnomon. Lesebuch in Sonderheit für die Schuljugend. Kiel 1843, S.43f.

2. Aus alten Chroniken

Wie auch An. 1636 am tage Petri Stuelf. Zu Londen in des landschreibers behäusung ein sonderbahres blutzeichen ist geschehen, massen da er sich waschen wollen, er nicht allein zu unterschiedenen mahlen blut gefunden, sondern auch im handbecken 5. todtenköpffe gesehen, die theils wie ein erbs, theils etwas grösser gewesen, und ist die materia derselben so hart gewesen, daß da andere leute dazu gefodert worden, etwas davon sey abgefallen.
(S. 322.)

Also ist auch An. 1648. Den 12. Jun. Und An. 1653. den 1. Maij ein starcker hagel gefallen, so beyde grosse steine und schlossen herunter geworffen, und ist für dem letzten ein groß geschmeiß einer sonderlichen art von fliegen fast wie ein schnee herunter gefallen, daß man nerlich die augen dafür hat können auffthun, wie denn auch A. 1663. ein starcker hagel neben einem grossen wirbelwind den 28. Jun. In Pilworm entstanden, so ein haus an der newen kirchen halb herunter geworffen, und die fenster hin und wieder eingeschlagen.
(S.325)

Wie denn auch An. 1655. den 4. Aug. ein schrecklicher Südweststurm entstanden dadurch der teich von Bretstede nacher Husum überall eingebrochen, auch zu S. Annen in Dithmarschen ein einbruch ist geschehen, und in dem im vorigen jahre new beteichtem Friedrichskoge bey 150. Ruthen teiches fast gantz sein weggeschlagen. (S. 408)

M. Antoni Heimreichs Ernewrete NordFresische Chronick. Außgegeben Anno 1668.

Titelblatt von Heimreichs Nordfriesischer Chronik; Exemplar aus Storms Bibliothek

Der 11te Sept. des 1751sten Jahrs ist annoch unvergessen, jedoch bleibt der 7 Octobr. dieses Jaars in mehrerem ja fürchterlicherm Andenken, zumahl da bekannt, daß die Gefahr, so dieser Tag theils durch einen abscheulichen Sturm-Wind, theils durch die ausserordentliche wütende Wellen des schäumenden und hoch auflauffenden Wassers, so wohl Jungen als Alten angedrohet hat, bis auf die späteste Zeiten Spuren nachlassen werde. Ich beziehe mich überhaupt in Hinsicht anderer Oerter auf die politische Zeitungen vom Octobr. Monaht h. a. <huius anni>. In Hinsicht der Stadt Husum, und derer auf der Nähe derselben belegenen Orter, und Halligen aber bemerke folgende erschreckende Umstände.
Der Wind wehete an demselben Tag erstlich aus dem Westen, nachhero drehete selbiger sich nach Nord-Westen, und fing an dergestalt heftig zu werden, daß auch die aller älteste Leute dergleichen Sturm-Wind gehöret zu haben, sich nicht entsinnen können. [...]
So heftig dieser Sturm war, so heftig fing das Wasser an zu steigen. Die Wuht desselben war unbeschreiblich. Es schiene als wann die gethürmte Wellen des mit aller Macht brausenden Wassers auf einmahl Häuser und Keller umstürzen und anfüllen wollten. Des Nachmittags zwischen 1 und 2 Uhr waren die Wasser-Reihe, die Krämer Strasse und die Gasse bey der Brücken völlig unter Wasser gesetzet. [...] die wütende Wellen rauschten mit der grössesten Wuht und unerhörter Geschwindigkeit über die höchste Teiche und Dämme weg, gleichdann diese an unterschiedenen Oertern solcher Wuht nicht widerstehen konnten; der Porrenkoog, so an der Wester-Seite der Stadt Husum liegt, bekam dahero unterschiedene Kamm Stürzungen. Es ward selbiger zwischen 5 und 6 Uhr Abends mit salzem Wasser angefüllet, und kaum hatte man Zeit die Milch-Kühe aus selbigem zu retten.
Die Hattstetter-Marsch brach durch und bekam eine Wehle von 7 Ruhten und 16 Ruhten tief, welche jedoch nach Ablauf einiger Wochen GOtt Lob! wieder zugeschlagen wurde.
J. Laß: Sammlung Husumscher Nachrichten, Zweyter Fortsetzung, 8 Stücke, nebst Register. Flensburg 1756, S. 309f.

3. Sagen aus Schleswig-Holstein

In Lauenburg: Ein Deichgraf reitet den Deich an der Elbe entlang um nachzusehen. Man zwingt ihn in die Fluthen hinein zu reiten. Seitdem sieht man ihn allnächtlich auf seinem weißen Pferde.
(Anmerkung zu Nr. 243)

Das vergrabene Kind
Bei H e i l i g e n s t e d e n war am Stördeich ein großes Loch, das man auf keine Weise ausfüllen konnte, soviel Erde und Steine man auch hineinwarf. Weil aber der ganze Deich sonst weggerissen und viel Land überschwemmt wäre, muste das Loch doch auf jeden Fall ausgefüllt werden. Da fragte man in der Noth eine alte kluge Frau: die sagte, es gäbe keinen andern Rath als ein lebendiges Kind da zu vergraben, es müste aber freiwillig hinein gehn. Da war da nun eine Zigeunermutter, der man tausend Thaler für ihr Kind bot und die es dafür austhat. Nun legte man ein Weißbrot auf das eine Ende eines Brettes und schob dieses so über das Loch, daß es bis in die Mitte reichte. Da nun das Kind hungrig darauf entlang lief und nach dem Brote griff, schlug das Brett über und das Kind sank unter. Doch tauchte es noch ein paar Mal wieder auf und rief beim ersten Mal: „Ist nichts so weich als Mutters Schooß?“ und beim zweiten Male: „Ist nichts so süß als Mutters Lieb?“ und zuletzt: „Ist nichts so fest als Mutters Treu?“ Da aber waren die Leute herbeigeeilt und schütteten viel Erde auf, daß das Loch bald voll ward und die Gefahr für immer abgewandt ist. Doch sieht man bis auf den heutigen Tag noch eine Vertiefung, die immer mit Seegras bewachsen ist.
(Nr. 331)

Die Meerweiber
Bei W e n n i n g s t e d e, am Fuße des rothen Kliffs, dem hohen westlichen Ufer Silts, trieb einst eine Meerfrau auf den Strand. Zwei Silterinnen, die eben zur Stelle waren, ergriffen sie, trugen sie nach Hause und setzten sie in einen Kübel, der zur Hälfte voll Wasser war; allein das Meerweibchen schrie und weinte jämmerlich, und wollte sich nicht zufrieden geben. Da befahl der mitleidige Bauervogt des Orts den Frauen, das arme Wesen wieder ins Wasser zu tragen; es wäre sonst auch halb umgekommen. ...]
(Nr. 453)

Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg, Kiel 1845.

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