Dokument vom:
18.09.2008
Der Schimmelreiter - Rezeptionsgeschichte

Rezeptionsgeschichte

Die Geschichte der Deutung des „Schimmelreiters“ stellt nach Regina Fasolds Forschungsbericht[1] einen wesentlichen Teil der Rezeptions von Storms Gesamtwerk dar. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wird – wie bereits von der älteren Storm-Forschung – Hauke Haien als „Willensmensch“ und „schöpferische Einzelpersönlichkeit“ gefeiert, weil er sich aus der Masse der wenig aktiven Menschen heraushebt. Der Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft endet für den Helden tragisch, weil er unausweichlich ist (Franz Stuckert und Walter Silz). Dagegen hat Peter Goldammer als Ursache für das Scheitern des Deichgrafen dessen gesellschaftliches Versagen betont, also seine Unfähigkeit, sich auf die Mentalität seiner Mitmenschen in der dörflichen Gesellschaft einzustellen.

„Der Schimmelreiter”, Gemälde von Alexander Eckener, 1941. (Storm-Haus, Husum)

In den folgenden Jahrzehnten hat es verschiedene Versuche gegeben, die Frage nach der Ursache von Hauke Haiens Untergang zu beantworten; dabei wurde betont, dass der Deichgraf als reiner Vernunftmensch wichtige Bereiche des menschlichen Lebens ausklammert und das Irrationale der Natur nicht begreift. Jost Hermand sah in Hauke Haien den Prototypen des „gründerzeitlichen Übermenschen“, dessen Scheitern in seiner Selbstüberschätzung gründet. Storm übt danach in seiner Novelle Kritik an den Auswüchsen der gesellschaftlichen Veränderung zur Entstehungszeit, also den späten 1880 Jahren im deutschen Kaiserreich.
Nach 1970 konzentrierte sich die Forschung vor allem auf den landesgeschichtlichen Hintergrund der Novelle (Holander, Laage, Lohmeier und Barz); es wurden die Quellen und die Entstehungsgeschichte der Erzählung erarbeitet und das Verhältnis von Novellenfiktion und der realen Deichbaugeschichte ermittelt. Die Erforschung der Schreibprozesse Storms wird bis heute fortgesetzt und konnte durch die Sicherung immer neuer Dokumente sehr verfeinert werden.
Wolfgang Frühwald deutet den „Schimmelreiter“ vor dem Hintergrund von Darwins Theorie vom Kampf ums Dasein, während Winfried Freund aus einer geschlechtsspezifischen Sicht argumentiert und der männlichen Welt von Hauke Haien eine weiblich bestimmte Welt gegenüberstellt, in der Fürsorge, Mitgefühl und Vertrauen herrschen. Harro Segeberg fragt in seiner umfangreichen Studie nach der Aktualität des Textes für die Gegenwart und betont den Geschlechterkampf, in dem Hauke Charakterschwächen zeigt, die es ihm verwehren, über seine technisch-rationale Weltsicht hinauszukommen und einen Blick auf die belebte Natur zu werfen, wie das Elke in ganz anderer Weise vermag.
In den letzten Jahren ist die Ebene des Aberglaubens der bäuerlichen Welt wieder in den Blick genommen und Haukes Tun als Teufelpaktgeschichte gelesen worden; welche Bedeutung diese Tradition im Zusammenhang mit Storms weltanschaulichen Positionen hat, ist noch nicht hinreichend beleuchtet worden. Schließlich hat man in der 1990er Jahren verstärkt auf die Erzählstruktur der Novelle geachtet und sieht die Bedeutung dieser Erzählung vor allem in der Mehrdeutigkeit des Textes, der dem Leser unterschiedliche Sichtweisen auf Hauke Haien und seine Welt ermöglicht. Storm gibt keine eindeutige Erklärung für das, was sein Held tut und erleidet, er bietet aber eine ganze Reihe von Erklärungen an, indem er eine Vielzahl von Erzählern von Ereignissen sprechen lässt, deren Authentizität an keiner Stelle verbürgt ist. Der Erzählvorgang selbst ist für die gesamte Novellistik Storms bedeutsam; Erzählen und Erinnern werden zu zentralen Mitteln seiner realistischen Darstellung. Storm wählt das Erinnerungsmotiv, um in dem Leser den Eindruck hervorzurufen, daß aus der Erinnerung heraus erzählt wird. Auch dadurch erreicht der Autor eine Nähe zum mündlichen Erzählen. Diese Fiktion der Mündlichkeit ist charakteristisches formales Merkmal des „Schimmelreiter“. In der kunstvoll geschachtelten Rahmenerzählung werden die Ereignisse um den Deichgrafen Hauke Haien von drei Erzählern mitgeteilt; in einem äußeren Rahmen berichtet der namenlose Erzähler von seiner Jugendzeit, in der er auf die Geschichte vom gespenstischen Reiter beim Durchblättern von Zeitschriften gestoßen sein will; der Erzähler beschreibt die Erinnerung an die Lektüre aber so, als ob es sich um eine mündliche Erzählung gehandelt habe. Er läßt nun diese Ereignisse von einem Reisenden erzählen, dem beim Ritt über den Deich bei einer Sturmflut ein Gespenst erscheint. In einem Gasthof entfaltet erst der dritte Erzähler, ein alter Schulmeister, die Geschichte von Hauke Haien als mündlichen Bericht. Allerdings hat der Schulmeister den Deichgrafen nicht gekannt, er kann also auch nur das erzählen, was ihm mündlich zugetragen wurde. Dieser Text der Novelle zeigt, daß Storm die dreifache Erzählerfiktion um eine weitere ergänzt; der Schulmeister wird in einem Atemzuge mit der alten Wirtschafterin Antje Vollmers genannt. Diese repräsentiert die einfachen Leute vom Lande, die von Hauke Haien - genau wie der Schulmeister - nur aus älteren Erzählungen wissen; im Gegensatz zu diesem glauben sie aber an Spuk und an Übernatürliches und würde daher das Vergangene in ganz anderer Weise erzählen. Selbst der Schulmeister, der vom Deichgrafen gerade als Gelehrter charakterisiert wurde und später der Aufklärung zugerechnet wird, relativiert das, was er zu erzählen beabsichtigt, mit dem Hinweis, daß viel Aberglauben dazwischen sei, und erst der fiktive Zuhörer, der Erzähler der zweiten Ebene also, traut es sich zu, die Spreu vom Weizen zu sondern.
Eine ähnliche Konstellation von Aufklärung und Aberglauben finden wir innerhalb der Erzählung wieder; dort stehen sich der rational kalkulierende Hauke Haien und einige Knechte und Mägde gegenüber, die in einem Konventikel eine Mischung von Aberglauben und radikalem Pietismus praktizieren. Durch diesen Erzählgriff erscheint Hauke Haien in der Erzählung des Schulmeisters einerseits als vernünftiger Neuerer und vorausdeutendes Genie, andererseits aber auch als unheimlicher Teufelsbündner, wie er von den abergläubischen Mägden und Knechten gesehen wird. Beide Sichtweisen werden in der Erzählung kunstvoll miteinander verflochten, und der zuhörende Reisende erklärt dem Leser nicht, ob und wie es ihm gelungen ist, die Spreu vom Weizen zu trennen. Im Gegenteil, am Ende der Erzählung des Schulmeisters bleibt als einzige Gewißheit, daß die Körper Haukes und der Seinen verschwunden blieben, nicht einmal Gräber gibt es von ihnen.
Spuren, die von der Existenz Hauke Haiens künden, sind nur der Deich und die Erinnerung von Menschen; letztere ließ sich aber auch im komplexen Erzählvorgang - die Erzählung des Schulmeisters wird mehrfach durch dialogische Reflexionen auf das Problem unterbrochen - nicht in Gewißheit und Vermutung, wirklich Geschehenes und bloß Phantasiertes trennen.
Als der Deichgraf der Rahmenerzählung in den Gasthof zurückkehrt, relativiert er gegenüber dem Reisenden die Erzählung des Schulmeisters auf seine Weise noch einmal; damit läßt Storm den Leser vollends im Unklaren darüber, ob die Ereignisse, die vorher mit dem Namen Hauke Haien in Verbindung gebracht wurden, der Sphäre der nüchternen Aufklärung angehören, oder ob sie nur Ausgeburten einer abergläubischen Phantasie sind. Und da der Reisende - dem Leser zeitlich und vom modernen Bewusstsein nahe - selber bloß einen Spuk wahrgenommen hat, bleib für den Leser die Frage nach der Existenz Hauke Haiens offen. Die andere Möglichkeit, die von den Nichtaufgeklärten geglaubt wird, gewinnt durch den Erzählvorgang sogar noch an Wahrscheinlichkeit. Jeder erzählt von Hauke Haien so, wie er ihn sieht; jeder dieser Erzählansätze wird wieder relativiert, obwohl Storm seine Erzähler im Prozess des Erzählens sich des Erzählten mehrfach vergewissern lässt. Das Mittel, um den Leser schließlich im Unklaren zu lassen, ist die Fiktion des mündlichen Erzählens. Sie eröffnet unterschiedliche, ja konträre Deutungsmöglichkeiten.

Anmerkung:

[1] Regina Fasold: Theodor Storm. Stuttgart 1997. (Sammlung Metzler 304), S. 158ff. Aus dieser Darstellung werden einige wichtige Ergebnisse vorgetragen; die erwähnten Beiträge werden im Literaturverzeichnis aufgelistet.

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