Dokument vom:
18.09.2008
Eine Halligfahrt - Deutung

Deutung

 

 

Die Novelle "Eine Halligfahrt" ist mehrfach - u.a. Martini (S.647) und Stuckert (S.303) - als Rückfall in den weichen, elegischen Erzählton der Frühnovellen gedeutet worden. Von anderer Seite dagegen ist darauf hingewiesen worden, dass Storm in dieser Novelle „eine seelische Weite und Freiheit erstrebt und erreicht, durch welche er <...> über die Stufe des Frühwerkes hinaussteigt, wo einsame Erinnerung und müder Verzicht die Alleinherrschaft führen.“ (Herman Meyer, S.215.)

Auf jeden Fall ist die Novelle ein Dokument der Krise, in der sich Storm nach dem Tod seiner Frau Constanze Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre befand. Er hatte - wie er selbst sagt (an Pietsch, 8.11.1867) - „kein rechtes Vertrauen mehr“ zu seiner Kunst und betrachtete sich als einen „quieszierten Poeten“ (an Heyse, 18.3.1870), der sein Testament zu machen habe (am 26.6.1868 nennt er Westermann, den Verleger seiner Sämtlichen Schriften, einen „Testamentsexekutor“). So erklären sich die überaus gefühlsbetonten und elegischen Schlussworte der „Aufzeichnungen“ des Vetters: „Du aber, o Muse des Gesanges, verlasse du mich noch nicht. Laß mich mein Haupt an deine Schulter lehnen; denn ich bin müde, müde wie ein gehetztes Wild <...>!“ (S.68,14-16.)

Die Novelle Eine Halligfahrt muss aber gleichzeitig als Versuch verstanden werden, einmal „anders“ zu schreiben und über die Stimmungsnovelle hinauszukommen. Die Art, wie hier - man könnte fast sagen, in >unstormscher< Weise - Naturbeschreibungen, Sagenerzählungen, politische Anspielungen und Erinnerungsblätter locker in eine Liebesgeschichte verwoben werden und der Ton immer wieder zwischen berichtender Nüchternheit, feinem Humor, bitterem Sarkasmus und wehmütiger Trauer wechselt, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass Storm in Eine Halligfahrt eine neue Form des Erzählens sucht und wagt. Die eingestreuten, von Humor und Sarkasmus bestimmten Partien sowie die nüchternen Verweise auf überlieferte Sagen und Erzählungen sind ein Indiz für das Bestreben des Dichters, den Subjektivismus der Stimmung in Grenzen zu halten. Gerade in der lockeren Erzählform und in den Partien, die Distanz schaffen, ist die Nachahmung E. T. A. Hoffmanns und Heines unschwer zu erkennen. Storm verfügt noch nicht sicher über eine eigene neue Form. Trotzdem ist es ihm gelungen, die Novelle durch ein schon in Immensee benutztes Stilmittel kunstvoll zu einem Ganzen zusammenzufügen. Versteckte Verweisungen und Klangformen verbinden die verschiedenen Erzählabschnitte miteinander (vgl. Th. Kuchenbuch und auch R. M. Browning).

Schon die Eingangspassage lässt in ihrem Dreiklang die „sonatengleiche“ Struktur (Browning, S.392) der Novelle aufklingen („Eichenwälder“ - „Schlamm der Watten“ - „von Deichen geschütztes Land“). Tiefergehend sind die symbolischen Bezüge. Die Chiffre „Lebensfahrt“ schimmert überall durch: im Namen des Schiffes („Die Wohlfahrt“), in dem „neuen Boot“ (S.54,20), das den jungen Assessor zu Zukunftsträumen verleitet und in das er Susanne aufnehmen möchte, die aber nicht einsteigt, weil sie seiner „Steuerkunst“ misstraut (S.55 ,15); schließlich als Warnung in dem „gestrandeten“ Schiff, dessen Mast in die Luft starrt (S. 48,3). Die ganze Fahrt ist „Modell und Gleichnis“ (Kuchenbuch S.26). Der Ausflug zur „Zauberinsel“ (S. 45, 8) symbolisiert den jugendlich illusionistischen Aufbruch ins Glück. Die Insel selbst ist zwar äußerlich eine „Hallig des alten Nordfrieslands“; in übertragenem Sinne aber verkörpert sie verschiedene Lebensstufen:

Für die jungen Leute erweist sich das „Eiland“, das zunächst „wie im Märchen“ da liegt, als Ort der Desillusionierung; für den Vetter ist die Hallig ein „Ländchen der Freiheit“ (S.46,34), wo er unabhängig von jugendlichen Illusionen und außerhalb der Gewalt „regierungslustiger Mitkreaturen“ (S.50,15) leben kann. Schließlich ist die Hallig der Ort, wo des Vetters Aufzeichnungen entstehen. Sie verdeutlichen, dass Unabhängigkeit nicht anders erreicht werden kann als in drei Schritten: von der Illusion über die Desillusionierung (Evelin = Susanne) zur resignativen Freiheit des Alters.

s. auch: Jean Lefebvre: Schuld und Scheitern in Storms Novelle "Eine Halligfahrt", in: STSG 53/2004. Der Aufsatz wurde für die Didaktisierung der Novelle zugrunde gelegt.

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