Dokument vom:
20.09.2008
ein Doppelgänger

John GLÜCKSTADT


Theodor Storms Novelle "Ein Doppelgänger" in der Verfilmung von Ulf Miehe

(Erarbeitet von ALMUT HOPPE)

 

Vorbemerkung: Die folgenden Überlegungen zu einer Unterrichtsreihe konkretisieren eine inhaltliche Empfehlung für den Unterricht der Jahrgangsstufen 9/10, wie sie in den Richtlinien des Landes Schleswig-Holstein enthalten ist.

Theodor Storms Novelle "Ein Doppelgänger"

Die vom 1. Oktober bis 15. Dezember 1886 in sechs Fortsetzungen in der Zeitschrift "Deutsche Dichtung" erschienene Novelle "Ein Doppelgänger" gehört zu Storms Spätwerk. 1) Sie unterscheidet sich insofern von Storms übrigem Novellenschaffen, als hier erstmals das Milieu des Arbeiters im Zentrum steht, unter rein stofflichem Aspekt also ein modernes Thema aufgegriffen wird. Es handelt sich um eine Rahmennovelle, in der ein Erzähler aus einer Erinnerungssituation heraus die zentrale Binnenhandlung präsentiert.

 

Inhalt:

Der Erzähler, ein Advokat aus Norddeutschland, hat sich in Jena in einem Gasthaus einquartiert und macht dort die Bekanntschaft eines Försters aus der Umgebung, den die Sprache des Advokaten an seine aus Norddeutschland stammende Frau erinnert und der daraufhin den Advokaten zu sich ins Forsthaus einlädt. In der Waldeinsamkeit trifft der Erzähler auf eine bürgerliche Familienidylle, die nur dadurch getrübt wird, dass die Frau des Försters, Christine, über einen dunklen Punkt in ihrer Vergangenheit grübelt. Nach ihrer Erinnerung vermeint sie, zwei Väter gehabt zu haben - einen gewalttätigen zu Lebzeiten ihrer Mutter und einen liebevollen nach deren Tode-, laut Kirchenbuch ist dies jedoch ausgeschlossen. Auch der Erzähler kann, obwohl er aus derselben Stadt stammt, der Försterfrau nicht weiterhelfen, erinnert sich jedoch sofort, als der Förster ihn später darüber aufklärt, dass der Vater seiner Frau gemeinhin wegen einer in seiner Jugend verbüßten Zuchthausstrafe John Glückstadt genannt wurde, wovon seine Frau jedoch nichts wisse. Es folgt die erinnerte Lebensgeschichte John Hansens.

Der junge John Hansen hat nach seiner Militärzeit Schwierigkeiten, Arbeit zu finden, und lässt sich zu einem Raubüberfall überreden, für den er sechs Jahre im Zuchthaus in Glückstadt einsitzen muss. Nach der Entlassung wird er mit den Vorurteilen der Gesellschaft gegenüber einem Exhäftling konfrontiert. Obwohl er voller guter Vorsätze, arbeitswillig und tüchtig ist, gelingt ihm die Resozialisierung nicht. Er heiratet das Bettelmädchen Hanna, die ebenfalls außerhalb der Gesellschaft steht, und verlebt mit ihr eine kurze glückliche Zeit, in der auch die Tochter Christine geboren wird. Seine Beschäftigungsverhältnisse als Tagelöhner sind jedoch nie von Dauer - auch der ihm wohlgesonnene Bürgermeister kann ihm nicht entscheidend helfen-, so dass die Familie bald an Armut und Hunger leidet. Mit der schlechten wirtschaftlichen Situation einher geht häuslicher Unfriede. Hanna und John, beide temperamentvoll und jähzornig, streiten und schlagen sich, obwohl sie sich nach wie vor sehr lieben. Anlässlich eines besonders heftigen Streites stürzt Hanna so unglücklich, dass sie ihren Verletzungen erliegt. Dies bedeutet den endgültigen Ausschluss Johns aus der Gesellschaft. Sein einziger Lebensinhalt ist fortan Christine, die er nach Kräften liebevoll umsorgt, doch da er immer häufiger ohne Arbeit bleibt, fehlt es meist am Notwendigsten. Zur Katastrophe kommt es, als der Dorfpolizist, der John zusammen mit seinem ehemaligen Komplizen gesehen hat, das Gerücht verbreitet, die beiden planten eine neue Straftat. In äußerster Not beschließt John, für sein hungerndes Kind Kartoffeln zu stehlen. Dabei stürzt er in der Dunkelheit in einen verlassenen Brunnen und verschwindet so auf für die Umwelt ominöse Weise aus dem Städtchen. Die Binnenhandlung endet hier. Was aus Christine wird, erfahren die Leserinnen und Leser erst aus der Rahmenhandlung.

Nachdem der Leser so die erinnerte Lebensgeschichte des Vaters der Förstersfrau erfahren hat, findet der Erzähler wieder in die Gegenwart zurück. Er berichtet dem Förster, was er über den Vater seiner Frau weiß, und dieser erzählt es später seiner Frau, die nunmehr ein realistisches Bild ihres Vaters mit allen Vorzügen und Schwächen seines Charakters gewinnt. Die quälende Doppelgesichtigkeit des Vaters vereinigt sich zu einem Bild und lässt Christine ihre innere Ruhe finden.

Der Titel

An dieser Stelle sei auf die Problematik des Titels verwiesen. In Briefen an Karl Emil Franzos, der Storm um diese Novelle gebeten hatte, nennt Storm verschiedene Titel: "'Der Brunnen' wird es vermutlich heißen", schreibt Storm im Brief vom 5. Juli 1886. (2). Am 11. April 1886 schreibt Storm: "Der Titel ist fast unfindbar; ich nenne es bis auf Weiter: Ein Doppelgänger"(3).

Der Titel hat zahlreichen Interpreten Schwierigkeiten bereitet. Einleuchtend erscheint mir die Deutung Grimms, der darauf hinweist, dass es sich bei John Hansen nicht um Doppelgängertum "als Konfrontierung eines Ichs mit seinem Spiegelbild" handelt, sondern um "zwei verschiedene Erinnerungsbilder" bei der Tochter Christine. "Negativbilder bewahren Hansens Tochter Christine, der Oberförster und der das allgemeine Vorurteil der Gesellschaft referierende Erzähler. Positivbilder dagegen Christine und der Bürgermeister"(4).


Problem des Außenseiters

Im Zentrum der Novelle steht das Thema der Stigmatisierung eines Außenseiters durch eine geschlossene kleinstädtische Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Ursachen und Mechanismen dieser Stigmatisierung erhellen aus der Untersuchung der vorgegebenen sozialen Strukturen und der Charakterisierung der handlungsrelevanten Figuren. Aus der Zusammenstellung des Personals der Binnenhandlung ergibt sich eine Art Gesellschaftspyramide, an deren Spitze der Bürgermeister und die Honoratioren der Stadt stehen. Es folgen der Gendarm als Garant der öffentlichen Ordnung und auf einer weiteren Stufe die Schicht der Handwerker, vertreten durch die Aufsteigermentalität demonstrierende Hebamme und den John freundlich gesonnenen Tischler. Die Arbeiter als unterste Gesellschaftsschicht, der auch John und Hanna angehören, werden repräsentiert durch Johns Arbeitskollegen und Frauen bei der Feldarbeit.

Eine Sonderstellung in diesem sozialen Querschnitt nehmen der alte Mann aus Hannas Kinderzeit (S. 42) und Küster-Mariken ein. In der Art, wie er auch im Alter noch seinen Lebensunterhalt mit Holzschnitzereien verdienen muss, kann der Greis als Pendant zu Mariken gedeutet werden, die, da sie keine Familie hat, ebenfalls ohne Altersversorgung und auf die Zuwendungen ihrer ehemaligen Arbeitgeber angewiesen ist (S. 58). Gleichzeitig spiegelt der Greis jedoch das Schicksal Johns. Auch er musste in jungen Jahren eine Straftat verbüßen und fristet nun ein kümmerliches Dasein, hat sich jedoch - im Gegensatz zu John- offensichtlich mit seinem Schicksal abgefunden. Ähnlich kontrapunktisch angelegt ist die Figur der Küster-Mariken, die es als völlig in der Ordnung betrachtet, das ihre früheren Arbeitgeber sie im Alter mit dem Notwendigsten versorgen (S. 50).

Innerhalb dieser Gesellschaft nehmen John und Hanna eine Außenseiterstellung ein, da sie auch innerhalb ihrer Schicht auf Ablehnung stoßen. Gegen die Vorurteile und die Feindseligkeit der Außenwelt bleibt ihnen nur die Familie als Zufluchtsort (S. 36, 42). Doch bei zunehmender materieller Not wird auch dieser Schutzwall brüchig. Bezeichnenderweise stirbt Hanna ausgerechnet dann, als auch sie die bisher geübte Solidarität aufgibt und Johns Vergangenheit erwähnt (5).

Der endgültige Zusammenbruch des kleinen Haushalts wird vorübergehend aufgehalten durch Marikens Einzug. Selbst obdachlos geworden, bittet sie John um Unterkunft und versorgt dafür dessen Tochter, so dass für kurze Zeit eine Art Familienleben aufrechterhalten wird.

Die Binnenhandlung zeigt also auf, wie ein zunächst unbescholtener junger Mann nach einer Straftat von der Gesellschaft geächtet wird und wie ihm trotz aller Bemühungen die Reintegration nicht gelingt.


Kontroverse Deutungen

Von den zahlreichen möglichen Untersuchungsaspekten erscheint es mir im Hinblick auf die Verfilmung besonders ergiebig, zu untersuchen, wie das Geschehen von den Rezipienten gedeutet worden ist; schon kurz nach dem Erscheinen der Novelle kristallisieren sich zwei konträre Deutungsansätze heraus. Alfred Biese deutet die Ereignisse als schicksalhaftes tragisches Geschehen, dem der Mensch ausgeliefert sei , (6) während Johannes Wedde in Storms Novelle bewusste Sozialkritik erkennt. (7) Diese Kontroverse durchzieht die Forschung bis heute.

Sicherlich spielt die Novellenhandlung in einem sozialen Milieu, dessen Behandlung zu damaliger Zeit von höchster Brisanz war. Auch sind es eindeutig die sozialen Verhältnisse, die John in seine ausweglose Lage treiben. In der Motivierung des Konflikts finden sich jedoch immer wieder Hinweise darauf, dass Storm großen Wert auf den psychologischen Kausalnexus legte. Man vergleiche hierzu die Charakterisierung Johns. Er wird als tüchtig, arbeitsam und als liebevoller Mann und Vater gleichzeitig jedoch als unberechenbar, aufbrausend und jähzornig geschildert. Die beiden Seiten seines Charakters führen bei seiner Tochter zu den zwei Erinnerungsbildern. Schon während der Militärzeit verhindert nur das Eingreifen eines Kameraden, dass er einen Vorgesetzten aus Wut ersticht (S. 21). Auch der Einbruch ist nicht primär aus finanzieller Not heraus motiviert, sondern aus jugendlichem Übermut und Abenteuerlust (S. 22). Die psychologische ist der soziologischen Motivation hier mindestens gleichrangig. Sie schwächt zugleich das Argument ab, dass nur das Gefängnis und die anschließende Stigmatisierung einen ursprünglich gutmütigen Menschen brutalisiert hätten.

Für die Ambiguität in Johns Charakter steht auch der Titel der Novelle. John wird von zwei starken gegensätzlichen Wesenszügen beherrscht, die je nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unterschiedlich stark in Erscheinung treten. In der Novelle werden sie personifiziert als John Hansen und John Glückstadt, die zusammen den Menschen John ausmachen (S. 76)

Auch die in die Binnenhandlung integrierten Kommentare zu John Glückstadts Leben - Erzählerkommentare oder Äußerungen des Bürgermeisters - begründen die Ereignisse psychologisch (Leiden an der verlorenen Ehre, S. 31; Jähzorn und Schuldgefühle, S.36, mangelndes Artikulationsvermögen des Arbeiters, S.40).

Als nicht-sozialkritisch sind Passagen zu bewerten, in denen es als normal akzeptiert wird, dass in schlechten Zeiten die Reichen den Armen aus Mitleid helfen (S. 51, 58), ferner die die wahren Verhältnisse verschleiernde idyllische Schilderung des Familienlebens nach Hannas Tod (S. 52 ff.). Weit entfernt von Kritik an ungerechter Besitzverteilung wird hier die bestehende Gesellschaftsordnung affirmiert.

Höhepunkt dieser Form der psychologischen Motivierung ist die letzte Parteinahme des Bürgermeisters für John, die aufgrund ihrer exponierten Stellung am Ende der Binnenhandlung besonders gewichtig ist. Der Bürgermeister führt Johns Scheitern ausschließlich und eindeutig auf das Versagen der Gesellschaft zurück, die aufgrund ihrer Vorurteile eine Resozialisierung unmöglich gemacht habe (S.70). Kritisiert werden hier allgemeinmenschliche, überzeitliche Verhaltensweisen, nicht sozioökonomische Verhältnisse.

Gegen die These, dass Storm sich hier zum Fürsprecher der unterdrückten Arbeiterklasse erhebt, spricht ferner, dass zum einen Johns eigenes Streben stets darauf gerichtet ist, sich dem Bürgertum anzugleichen bzw. von diesem akzeptiert zu werden (vgl. die Uhr als Konfirmationsgeschenk, S.24, die Heirat, das Haus im Garten), zum anderen die Tatsache, dass er auch von Angehörigen seiner eigenen Schicht diskriminiert wird (S. 33). Es geht Storm also um die Aufdeckung allgemeinmenschlicher Verhaltensweisen, die ohne Konsequenz für die etablierte Gesellschaftsordnung bleiben.

Der sozialkritischen Tendenz entgegen wirkt auch das Motiv des Brunnens, das die Novelle leitmotivisch durchzieht. Der Brunnen wird zum zentralen Symbol für Johns Leben und sollte ursprünglich titelgebend sein. Seine Funktion ist durchaus ambivalent, die negativen Assoziationen überwiegen jedoch(8). Im Zusammenhang mit Johns Tod nimmt der Brunnen vollends schicksalhafte Züge an (S. 68f.).

Gefördert durch die Natursymbolik - Gewitter, Schwüle, dunkle Wolken, Abend - entfernt sich die Beschreibung dieser letzten Szene aus Johns Leben von der bisher vorherrschenden realistischen Darstellungsweise, und der Tod wird mystifiziert zu einem schicksalhaften Ereignis. Der Konflikt zwischen John und der Gesellschaft wird nicht gelöst, sondern erledigt sich durch Johns Tod. Lässt sich diese Lösung als bewusste Provokation verstehen, mit der Storm ähnlich wie Gerhart Hauptmann im "Biberpelz" hätte zeigen wollen, dass eine Auflösung des Konflikts unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht realistisch wäre? Angesichts der bisher herausgearbeiteten Tendenzen erscheint diese Deutungsvariante jedoch unwahrscheinlich. Eher angemessen erscheint mir die These Grimms, der im Brunnen ein Symbol für die "schicksalartige" Bedrohung sieht, der John ausgesetzt ist. Grimm stützt sich auf Tagebuchnotizen Storms, aus denen eine sozialdarwinistische, pessimistische Lebensanschauung hervorgeht, derzufolge der moderne Mensch im stetigen Kampf um Selbstbehauptung sich selbst und seinen Mitmenschen zum Verhängnis wird (9)..

 

Sozialkritik oder Schicksalsgläubigkeit?

Diese Novelle kann nicht als sozialkritisch bezeichnet werden, in dem Sinne, dass hier aus der Sicht der aufstrebenden Arbeiterschicht das Bürgertum kritisiert und demaskiert wird. Ohne Zweifel wagt sich Storm hier an einen politisch brisanten Stoff, indem er ein Mitglied des Arbeitermilieus zum Protagonisten wählt und erstmals auch soziale Fragen in einer Novelle behandelt. Insofern wird man dieser Novelle nicht gerecht, wenn man sie als bloße Schicksalsnovelle versteht. Doch es hat sich andererseits auch gezeigt, dass die Modernität Storms sich hier auf die Stoffwahl beschränkt. Storm bleibt sich in der Motivierung des Geschehens weltanschaulich treu. John geht schuldlos zugrunde; das Verhängnis liegt in der Beschaffenheit der menschlichen Gesellschaft begründet, der der Einzelne nicht entfliehen kann. Storms Weltsicht erlaubt es ihm wohl, in erzieherisch-humanistischer Absicht Fehlleistungen dieser Gesellschaft an den Pranger zu stellen, doch zieht er diese Gesellschaft als solche dabei nicht in Zweifel. Geht man wie Storm davon aus, dass das Verhängnis, dem der Einzelne unterworfen ist, objektiv vorgegeben ist, schließt dies die Propagierung konkreter sozialer Lösungsvorschläge aus (10).

Als Indiz hierfür sei noch einmal an die Rolle des Bürgermeisters in der Novelle erinnert. Als Vertreter des liberalen Bürgertums erkennt er zwar den Teufelskreis, dem John ausgeliefert ist, er unterstützt John durch Wort und Tat, doch sein Verhalten bleibt letztlich ohne weit reichende Wirkung. Er handelt als Privatperson aus Mitleid, ohne dass sein Handeln für die Gesellschaft insgesamt relevant würde. Überdies wäre aus heutiger Sicht zu fragen, ob seine Initiative nicht halbherzig bleibt. Aufgrund seiner Position hätte es ihm möglich sein müssen, entschiedener für die soziale Reintegration Johns zu sorgen, wenn der Kausalnexus von existenzieller Not und menschlichem Fehlverhalten konsequent zu Ende gedacht worden wäre. Das lag jedoch außerhalb der Vorstellungswelt Storms.


Rahmennovelle

Formal auffällig ist die Gliederung der Novelle in eine Binnenhandlung und eine sie umschließende Rahmenerzählung.

Diese Struktur ist bei Storm mit dem für seine Novellistik typischen Erinnerungsmotiv verbunden (11). Der reisende Advokat erfährt den Namen des Vaters seiner Wirtin und lässt vor seinem inneren Auge dessen Leben Revue passieren. Dabei wird der Einsatz der Erinnerungserzählung in der Rahmennovelle mehrfach realistisch motiviert: das Thema des Landsmanns, das gestörte Vaterbild, die Vision des Brunnens und des armseligen Hauses am Rande der Stadt sind auslösende Momente.

Im Stile einer Biografie präsentiert der Advokat dem Leser Fakten aus Johns Leben, wobei die Fiktion des authentisch Erinnerten zu Anfang noch gestützt wird durch die weitere Präsenz des Ich-Erzählers aus der Rahmennovelle in der Binnenhandlung (S. 23, 25). Im Folgenden verschwindet dieser Ich-Erzähler jedoch hinter der sich zunehmend verselbständigenden Handlung. Die szenische Darstellung nimmt immer breiteren Raum ein, und der Ich-Erzähler als außenstehender Beobachter der Rahmennovelle wandelt sich zu einem allwissenden auktorialen Erzähler. Es handelt sich hierbei allerdings um einen recht diskreten auktorialen Erzähler, dessen Präsenz sich zumeist in zusammenfassenden, Zeitsprünge thematisierenden Äußerungen kundtut (12). Zuerst fast unmerklich, zum Schluss jedoch immer deutlicher kommentiert er allerdings auch das Geschehen, ohne dabei ins Moralisieren zu Verfallen (13). Diese seltenen deutenden Eingriffe des Erzählers dienen ausschließlich der Erklärung von Johns Verhalten und Schicksal und tragen damit wesentlich dazu bei, dass der kritische Akzent der Novelle im humanistisch-psychologischen Bereich zu suchen ist.

Innenperspektive wird im "Doppelgänger" primär über die szenische Darstellung vermittelt. Eine Ausnahme bildet die Darstellung von Johns Tod (S. 67). Hier kombiniert Storm inneren Monolog, erlebte Rede und Naturdarstellung auf eindrucksvolle Weise, um Johns psychische Verfassung und das sein Leben bestimmende Fatum zu verdeutlichen.

Kennzeichnend für den "Doppelgänger" ist also, dass die Fiktion des Erinnerten in der Binnenhandlung zunehmend aufgegeben wird. Die Personen der Binnenhandlung treten selbst in Aktion und damit aus der Distanz heraus, in der sie als Erinnerte für die Leser bleiben würden. Über die Erzähltechnik und die Erinnerungsfiktion wird suggeriert, dass die Binnenhandlung für authentische Ereignisse steht. Realiter ist Johns Biografie jedoch ein ästhetisches Konstrukt, das unter Rückgriff auf wenig reale Fakten einen Lebenslauf imaginiert. Der Erzähler selbst weist auf den visionären Charakter seiner Erinnerungen hin (S. 71), erhält jedoch die Authentizitätsfiktion aufrecht, indem er nun den Ton des sachlichen Berichts Informationen zu Johns Tod nachliefert, die er seit langem kannte, die sich für ihn jedoch erst zu diesem Zeitpunkt zu einem sinnvollen Ganzen ordnen.

Psychologischer Realismus bei der Motivierung des Konflikts, bei der Gestaltung des Novellenpersonals und bei der Detailgenauigkeit in der Milieubeschreibung weisen Storm von der Erzähltechnik her als Vertreter des poetischen Realismus aus. Thematisch nähert er sich hier aufgrund der dargelegten fatalistischen Tendenzen dem Naturalismus.

Ein wichtiges kompositorisches Element der Novelle ist der auffällige Kontrast zwischen Rahmen- und Binnenerzählung. Formal zusammengehalten durch die Person Christines sowie das Brunnen- und das Doppelgängermotiv, werden hier zwei sich diametral entgegenstehende Welten entworfen. Die Idylle des Forsthauses erscheint unvereinbar mit der Darstellung des sozialen Elends in der Binnenhandlung. Die Deutung dieses Kontrasts ist umstritten. Man kann mit Wedde in der Rahmenhandlung den utopischen Gegenentwurf einer zukünftigen glücklicheren Welt sehen, die der eigentlichen Bestimmung des Menschen entspräche. Als Garant dieser Entwicklung erscheinen Christines gesellschaftlicher Aufstieg sowie die positive Zeichnung ihres Sohnes, der dem Großvater ähnelt, jedoch dessen negative Charakterzüge vermissen lässt (S.11) (14). Insofern ist diese Rahmenhandlung Protest gegen die herrschende Realität, versteht sich jedoch nicht als konkrete Handlungsanleitung zu deren Überwindung. Man kann aber auch die Einkleidung der Binnenerzählung in einen derart idyllischen Erinnerungsrahmen als Abschwächung des kritischen Potenzials der Binnenhandlung bewerten, da diese als vergangen dargestellt und durch die gegenwärtige Idylle aufgehoben erscheint.

Angesichts dieser gegensätzlichen Möglichkeiten findet Ingrid Schuster (15) eine Erklärung, die sowohl Binnen- als auch Rahmenhandlung in ihrer Aussage gelten lässt und ihnen dennoch eine für den heutigen Rezipienten akzeptable Funktion zuweist. Sie argumentiert im Sinne Brechts, wenn für sie die Rahmenerzählung keine Milderung der Binnenerzählung, sondern vielmehr eine Verstärkung des Kontrasts bedeutet. Es werde gezeigt, dass Johns Schicksal die Regel ist, während das Schicksal Christines die auf einem glücklichen Zufall beruhende Ausnahme darstelle. So steht es dann der Leserin oder dem Leser frei, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, und gerade dies verleiht dieser Novelle auch für die Gegenwart Aktualität.


Gattungstheorie

Abschließend sei noch auf die Gattungsfrage eingegangen, ohne allerdings in eine novellentheoretische Diskussion einsteigen zu wollen (16). Es sei hier nur auf Storms eigene Novellenkonzeption eingegangen, die weitgehend der Novellentheorie Paul Heyses entspricht. Kennzeichen der Novelle sind für Storm nicht primär Kürze und Ungewöhnlichkeit eines Themas. Er bezeichnet sie vielmehr als "Schwester des Dramas" und leitet von dieser Definition die entsprechenden formalen Forderungen ab: strenge Komposition, geschlossene Form, ein Konflikt im Zentrum, Ausscheidung alles Unwesentlichen und als Thema - wie in der Tragödie - "die tiefsten Probleme des Menschenlebens (17). Die für die Novelle spezifische Tragik entstehe dabei in der Regel dadurch, dass der Protagonist vergeblich kämpft gegen die Defekte der Menschheit, deren Bestandteil er ist (18).

Die von Storm angeführten Merkmale der Novelle lassen sich an der Binnenhandlung des "Doppelgängers" aufzeigen: Stigmatisierung als zentraler Konflikt, begrenztes Personenrepertoire, Konzentration auf die Wiedergabe wesentlicher Episoden, Abgeschlossenheit der Handlung. Der Handlungsverlauf entspricht in etwa der klassischen Fünfteiligkeit des Dramas: Johns Straftat und anschließende Haft als Exposition und Konfliktauslösung, anschließend die daraus resultierende Verwicklung bis zu Hannas Tod als Höhepunkt, dann die Fortsetzung des unaufhaltsamen Abstiegs - kurzfristig retardiert durch Küster-Marikens Anwesenheit und vorübergehende Verbesserung der finanziellen Situation - bis hin zur Katastrophe, Johns Tod. Der für die Novelle geforderten Konzentration und Verdichtung auf das Wesentliche entspricht die Verwendung des Brunnenmotivs als Symbol für die Schicksalhaftigkeit des Geschehens.

 

Der Film "John Glückstadt"

Der 1975 erstaufgeführte, unter der Regie Ulf Miehes entstandene und mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnete Film "John Glückstadt" hat den Untertitel "Frei nach Theodor Storms Novelle 'Ein Doppelgänger'". Damit signalisiert der Regisseur einen freien Umgang mit der literarischen Vorlage. So richtet sich der erste Blick zunächst auch darauf, was Miehe verändert, weggelassen und hinzugefügt hat.

Weggelassen wurden die Rahmenhandlung, das Brunnenmotiv sowie - von weniger weittragender Bedeutung - die auch in der Novelle nur am Rande erwähnte Figur der Mutter Hannas. Hinzugefügt wurde die Person des Michel, das Thema des Alkoholismus, das Amerikamotiv sowie einige Szenen, in denen die Bürger der Kleinstadt sich in ihren Gesinnungen darstellen.

Wichtige Veränderungen betreffen die Ausweitung der Gendarmrolle zu einer leitmotivischen Szene, die Pointierung des Bürgermeisters sowie die Modifikation des Schlusses. Es würde zu weit führen, auf jede Veränderung im Einzelnen einzugehen. Im Folgenden soll an einigen herausragenden Beispielen demonstriert werden, wie Miehe seine Interpretation des Novellenstoffes in Szene setzt.


Interpretationsschwerpunkt der Verfilmung

Miehe legt den Schwerpunkt auf die bei Storm latent vorhandene Sozialkritik und setzt dementsprechend seine Akzente. Als allgemeine Regel könnte man formulieren: Szenen mit sozialkritischem Potenzial, die in der Novelle oft nur kurz skizziert werden, weitet Miehe aus und ergänzt sie, während in der Novelle ausführlich szenisch dargestellte Ereignisse teilweise nur kurz gestreift bzw. fortgelassen werden. Die Auslassungen betreffen Szenen, in denen menschliche Beziehungen idyllisch verklärt werden. Ausgelassen wird alles, was auf eine schicksalhafte Deutung des Geschehens verweisen könnte. Alles, was zur kulinarischen Rezeption verleiten könnte - Darstellung des schrecklichen Winters, der Gewissensqualen Johns, seine Monologe und Visionen - wird auf ein Minimum beschränkt. Stattdessen wird die in der Novelle nur erwähnte Zuchthausstrafe zu einer Gefängnisszene konkretisiert, in der Johns Hoffnung auf soziale Rehabilitation den Ausgangspunkt der Handlung bildet. Neu hinzu kommt nach Johns Entlassung das Thema des latenten Alkoholismus. Bereits am ersten Abend findet sich John betrunken und zusammengeschlagen auf der Straße wieder. Während seiner Hochzeitsfeier suggeriert eine lange Einstellung auf John, der ein Bierglas in einem Zuge leert, und die ihn zunehmend ernster beobachtende Hanna die Gefährdung durch Alkohol. Diese Anspielung bestätigt sich, wenn John an Krisenpunkten seines Lebens entweder angetrunken oder trinkend gezeigt wird.

Dem aufgrund seiner Vergangenheit gebrandmarkten John stellt Miehe die Figur des Michel an die Seite, der ebenfalls aus der Gesellschaft ausgeschlossen und permanent von Arbeitslosigkeit bedroht ist. Seine Misere resultiert allerdings aus einer zerrütteten Gesundheit, die ihn für schwere körperliche Arbeit untauglich werden ließ. Dieser ohne eigenes Verschulden Ausgestoßene an Johns Seite dient der Akzentuierung der gesellschaftlichen Bedingtheit des Geschehens: nicht nur dem straffällig Gewordenen, sondern jedem, der Schwäche zeigt, verweigert die Gesellschaft hier ihre Hilfe. Es gibt weder Arbeitslosen- noch Kranken- oder Rentenversicherung, die die sozial Schwachen stützen. Wollen sie überleben, sind sie auf die Almosen der Reichen angewiesen, wie am Beispiel Küster-Marikens demonstriert wird. Im Zusammenspiel Johns, Michels und Marikens werden zwei Gesellschaftsformen miteinander konfrontiert: die alte, feudale Sozialordnung mit der Fürsorgepflicht des Herren für sein Gesinde und die beginnende Industriegesellschaft, in der, wer dem Leistungsanspruch nicht genügt, aus dem Produktionsprozess ausscheidet und sich selbst überlassen wird, ohne dass ihn ein Netz der sozialen Sicherung auffängt.

Der so auf die Sozialkritik gelegte Schwerpunkt wird folgerichtig weiterentwickelt in der Zeichnung des Bürgermeisters. Bereits bei der Lektüre der Novelle entstand die Frage, ob er die Macht seines Amtes ausreichend in die Waagschale geworfen habe, um John zu helfen. Im Film wird die Zwiespältigkeit seines Wesens deutlich akzentuiert. Einerseits gibt er sich als fortschrittlicher Verteidiger der Armen und Diffamierten (vgl. Sequenz 14), andererseits ist er auch noch der großbürgerlichen Ideologie verhaftet, wie sich besonders in seiner in der Novelle nicht vorgegebenen Rede auf dem Zichorienfest zeigt (Sequenz 15). Dem entspricht sein Verhalten gegenüber John, in dem trotz aller Freundlichkeit auch Herablassung und letztlich Nichtachtung mitschwingen (vgl. Sequenz 13 oder 30). Sein immer öfter vorgebrachter Vorschlag, nach Amerika auszuwandern, bezeugt Hilflosigkeit. Mit Johns Auswanderung wäre das Problem erledigt, ohne dass die Gesellschaft in ihrer bornierten Selbstgenügsamkeit beunruhigt würde. Die Person des Bürgermeisters wird also von Miehe negativer interpretiert, als sie in der Novelle angelegt ist. Entsprechend wird auch das übrige Bürgertum verstärkt negativ in Szene gesetzt (vgl. Sequenzen 14, 36 und 44).

Ins Auge fallendes Beispiel für die Ausweitung einer Einzelszene zu einem Leitmotiv sind Szenen im Büro des Gendarmen, bei dem John sich als ehemals Straffälliger melden muss. In der Novelle tragen die vom Polizisten verbreiteten Gerüchte um eine erneute Komplizenschaft zwischen John und Wenzel (S. 64) entscheidend zu seinem sozialen Abstieg bei; im Film demonstriert das mehrfach wortwörtlich wiederholte Ritual der Personalienfeststellung eindringlich den Mechanismus der Stigmatisierung (Sequenzen 8, 20 und 29).

Ähnlich verdankt das zentrale Amerikamotiv seinen Ursprung einer eher beiläufigen Vermutung anlässlich Johns Verschwinden. Diese in der der Novelle mit negativen Konnotationen versehene Äußerung (S.70) greift Miehe auf und wandelt sie um zu einem Hoffnungsträger für diejenigen, denen in der "alten Welt" annehmbare Lebensbedingungen versagt werden. John sperrt sich lange gegen den mehrfach an ihn herangetragenen Vorschlag des Auswanderns, da er nach Verbüßung seiner Strafe seinen Anspruch auf Wiedereingliederung in die Gesellschaft durchsetzen will (Sequenz 23). Erst nach Christines Zwangseinweisung in ein kirchliches Kinderheim und der Verdächtigung, erneut mit Wenzel einen Einbruch begangen zu haben, ist der Leidensdruck so groß, dass John die Auswanderung beschließt. Desillusioniert hinsichtlich der Gerechtigkeit der Gesellschaft, hält auch er sich nun nicht mehr an die "Spielregeln", sondern versorgt sich auf eigene Faust beim Kolonialwarenhändler mit dem zur Auswanderung Notwendigen, holt Christine unter Gewaltandrohung aus dem Kinderheim und geht mit ihr nach Hamburg. Die letzte Szene des Films zeigt John und Christine bei der Einschiffung. Im Gegensatz zu Storms Novelle, die John als schuldlos zugrundegehenden, in seinen Verhältnissen gefangenen Menschen schildert, wandelt sich der John des Films vom Leidenden, um Anpassung Bemühten zum Empörten, Handelnden, der einer Gesellschaft, die nicht bereit ist, seine Sühne und seine Anstrengungen zu akzeptieren, den Rücken kehrt. John wird systematisch als positiver Held aufgebaut (vgl. Sequenz 24), der eine bornierte, überlebte Gesellschaft diskreditiert.

John Glückstadt; Sequenzliste

Der Zählerstand gibt Stunden, Minuten und Sekunden an.

Sequenz
Zählwerk
Szene
Inhalt
1
00:00:00
Vorspann
Musik, Landschaft
2
00:01:52
Gefängnishof
Hofgang; John und Wenzel unterhalten sich über den missglückten Einbruch

3

00:02:54
Gefängniszelle
John und Wenzel reden über Frauen, Arbeit, Auswanderung. Wenzel plant Ausbruch, John macht nicht mit. Wenzel lacht John aus, der auf Resozialisation hofft.
4
00:06:34
Entlassung Johns
John verlässt optimistisch das Gefängnis, Wärter geht davon aus, dass er rückfällig wird.
5
00:07:11
Wiesen, Allee
John geht beschwingt über einen alleeartigen Wirtschaftsweg
6
00:07:32
Nächtliche Straße in der Stadt
Zwei Männer bringen den betrunkenen John auf die Straße. Michel hilft John, der erzählt, dass er sechs Jahre auf See war.
7
00:10:30
John und Michel in einer Scheune
Sie trinken Wein, teilen sich eine Zigarre. John erzählt, dass der Bürgermeister ihm Arbeit verschafft habe. Michel spricht von seiner Krankheit, fragt nach Johns Südsee-Erlebnissen.
8
00:13:26
Büro des Gendarmen
Gendarm nimmt Johns Personalien auf, unterstellt John, dass er rückfällig wird, erzählt, dass Wenzel wieder im Gefängnis ist und fordert John auf, sich regelmäßig zu melden.
9
00:14:42
Wäscherinnen am Fluss
Frauen, unter ihnen Hanna, beim Wäschewaschen. John bringt Wäsche vom Bürgermeister. Erste Begegnung zwischen Hanna und John.
10
00:18:09
Feld
John geht Wache auf dem Feld, überrascht Hanna beim Kartoffelstehlen. Hanna verführt John, als er einen vorgetäuschten Bienenstich aussaugen soll.
11
00:20:16
John und Hanna in der Kate
John erzählt stolz , dass er mit seiner Arbeit zufrieden ist, Hanna spricht vom bevorstehenden Zichorienfest. John ist deprimiert, da auf dem Feld auch Frauen aus dem Gefängnis arbeiten. Hanna und John beschwören ihre Liebe als Schutz gegen die feindliche Umwelt.
12
00:21:59
Straße vor dem Rathaus
Michel kommt vom Bürgermeister und erzählt John, dass er wegen seiner Krankheit keine Arbeit bekommt.
13
00:22:32
Büro des Bürgermeisters
Bürgermeister ermahnt John, sein Verhältnis mit Hanna zu legalisieren. Das Leben in der Gemeinschaft verlange Einhalten bestimmter Regeln. John fragt nach Arbeit nach der Erntezeit. Apotheker Brandes kommt, John wird vom Bürgermeister abgeschoben.
14
00:23:54
Gasthaus
Honoratioren der Stadt sitzen zusammen, Bürgermeister verteidigt John gegen Vorurteile. Diskussion über einen Zeitungsartikel zum Thema Reisigsammeln. Bürgermeister verweist auf ungerechte Besitzverhältnisse als Ursachen für soziale Unruhen.
15
00:28:00
Zichorienfest
John und Hanna haben geheiratet, Hanna ist schwanger. Wahrsagerin sagt dunkle Zukunft voraus. Bürgermeister hält Rede, tanzt mit Küster-Marieke, spendiert Freibier. John leert Bierglas in zwei Zügen.
16
00:34:34
Kate
Hanna liegt in den Wehen, schickt John zu Mutter Grieten, der Hebamme.
17
00:34:50
Straße, Haustür der Hebamme
John läuft zur Hebamme. Hebamme zeigt John deutlich ihre Geringschätzung.
18
00:35:56
Kate
Hanna bringt ihre Tochter Christine zur Welt, beißt Nabelschnur durch. Hebamme kommt, rügt, dass nichts besorgt wurde, und schickt John zum Einkaufen.
19
00:37:40
Gärtnerei
Neuer Verwalter berichtet John vom Tod des Senators und entlässt ihn, da er ein Ex-Häftling ist.
20
00:38:31
Büro des Gendarmen
John kommt seiner Meldepflicht nach. Gendarm unterstellt als Grund für die Entlassung Johns, dass er sich etwas habe zuschulden kommen lassen.
21
00:39:29
Am Meer
John steht am Meer, trinkt, wirft die Flasche auf die Steine.
22
00:39:48
Kate
Hanna sitzt nähend am Tisch, bringt das schlafende Kind weg, als John kommt. Erster Streit, der jedoch versöhnlich endet. Hanna ermutigt John, noch einmal zum Bürgermeister zu gehen.
23
00:42:11
Büro des Bürgermeisters
Ratloser Bürgermeister schlägt John vor auszuwandern. John folgt dem Ratschlag nicht, weil er sein Vergehen für gesühnt hält und Hanna du Christine nicht die Heimat nehmen will. Der Bürgermeister will versuchen, John beim Deichbau unterzubringen.
24
00:44:29
Am Deich
Männer, unter ihnen John und Michel, beim Deichbau. Michel bricht unter der schweren Arbeit zusammen und wird entlassen. Als John sich für ihn einsetzt, wird er auch entlassen.
25
00:46:23
Nächtliche Straße
John von hinten, vermutlich angetrunken, Bürgerpaar begegnet ihm.
26
00:46:44
Kate
Hanna wartend am Tisch, Christine schläft. John kommt nach Hause und fordert aggressiv sein Essen. Als Hanna ihm seine Arbeitslosigkeit und das vertrunkenen Geld vorwirft, schlägt John sie erstmals. Dies bringt ihn wieder zu sich, er bittet um Verzeihung und bezeichnet sich als Versager. Hanna räumt eigene Schuld ein, sie versöhnen sich.
27
00:50:10
Kirche
Hanna sitzt in der Kirchenbank.
28
00:50:38
Straße
John kommt aus dem Rathaus, die vor ihm gehende Hanna wird von einem Matrosen belästigt. John schlägt ihn nieder. Zwei vorbeikommende Bürger bezeichnen John als gemeingefährlich. John verbietet Hanna das Betteln, Hanna ist resigniert.
29
00:52:25
Büro des Gendarmen
Personalienfeststellung. Gendarm wirft John schwere Körperverletzung vor, verhöhnt ihn und schickt ihn zum Bürgermeister, der ihn zu sprechen wünsche. Gendarm packt sein Butterbrot aus.
30
00:53:39
Im Rathaus
John begegnet dem Bürgermeister auf der Treppe. Dieser macht ihm Vorwürfe wegen der Schlägerei und lässt ihn stehen, der einen Termin in Hamburg habe.
31
00:54:10
Kate
John am Tisch, Hanna zieht Christine an und schickt sie hinaus. John und Hanna werfen sich gegenseitig vor, Schuld an der Misere zu sein. John stößt Hanna von sich, sie fällt an die Ofenkante und stirbt. Christine und der Nachbar Tischler finden John neben der toten Hanna.
32
00:58:50
Büro des Bürgermeisters
Verhandlung wegen Hannas Tod. Tischler entlastet John durch eine Falschaussage, der Bürgermeister erklärt John für unschuldig am Tod seiner Frau.
33
01:00:53
Straße
Tischler und John auf dem Heimweg. Tischler sagt, dass er falsch ausgesagt habe, um Christine den Vater zu erhalten, schlägt Johns zum Dank ausgestreckte Hand aus.
34
01:02:01
Kate
Hanna aufgebahrt im Sarg, John sitzt daneben. Er schickt Christine zum Nachbarn und nagelt den Sarg zu.
35
01:03:43
Am Meer
John sitzt verzweifelt am Meer.
36
01:03:58

Kolonialwarenladen

John steht unschlüssig vorm Laden, Wenzel beobachtet ihn. John fragt im Laden nach Arbeit, vergebens. Im Hinausgehen begegnet er dem Apotheker Brandes, der den Händler fragt, was für Gelichter er als Kundschaft habe. Spekulationen über Hannas Tod.
37
01:06:02
Kate
John mit Hannas Mieder. Küster-Mariken kommt und bietet ihre Hilfe an, wenn er sie aufnehme. Marike verweist auf Verpflichtung ihres ehemaligen Arbeitgebers, sie im Alter zu unterstützen. John lässt Christine entscheiden, ob Marieke bleiben soll.
38
01:06:17
Kate
John, Christine, Marike beim Essen. Wenzel kommt und will sich bei John einmieten. John weist ihn ab, Mariken wirft ihn hinaus.
39
01:11:12
Straße
John und Michel begegnen sich, im Hintergrund die Kutsche des Bürgermeisters. Michel hat die Wahrheit über Johns Vergangenheit erfahren und kündigt ihm die Freundschaft auf. Der Bürgermeister schlägt John nochmals die Auswanderung vor, Christine soll in ein kirchliches Heim kommen. Er gibt John eine Liste der für die Überfahrt nötigen Dinge.
40
01:13:32
Kate
John, Cristine, Mariken am Tisch. John bittet Marike, die Liste des Bürgermeisters vorzulesen. Er schickt Christine ins Bett, gibt ihr Hannas Umschlagtuch zum Wärmen der Füße. Dann nimt er die Axt und verlässt das Haus.
41
01:16:05
Feld
Wind, Nebel, patroulierender Wächter. John stiehlt Kartoffeln und läuft über das Feld fort.
42
01:17:05
Straße
John kommt mit den gestohlenen Kartoffeln zurück und trifft Wenzel, der auf ihn gewartet hat. John hat Angst, mit ihm gesehen zu werden. Wenzel will John zum Einbruch im Kolonialwarenladen überreden.
43
01:17:43
Kate
Nacht, John und Christine im Bett. Gendarmen kommen und bezichtigen John der Komplizenschaft beim Einbruch im Laden.
44
01:20:19
Gasthaus
Honoratioren wollen John das Sorgerecht für Christine entziehen und Christine in ein Heim geben. Mariken ist krank.
45
01:22:03
Kate
John sitzt am Tisch, den Kopf auf den Armen; Christine fragt nach Marike.
46
01:23:24
Kate
Gendarmen holen Christine ins Heim. John verspricht ihr, sie wiederzuholen und mit ihr nach Amerika zu gehen, er beleibt allein zurück.
47
01:24:20
Kolonialwarenladen
Nacht. John ist eingebrochen, versorgt sich mit Lebensmitteln und etwas Geld.
48
01:25:19
Straße vor dem Kinderheim
John mit Sack auf dem Rücken und Axt in der Hand vor dem Kind, trinkt und wirft die Flasche an die Mauer.
49
01:25:35
Kinderheim
John dringt in den Unterrichtsraum ein, fordert den Nonnen Christine ab und verlässt mit ihr das Heim, indem er alle, die sich ihm entgegenstellen, mit der Axt bedroht.
50
01:26:41
Felder
John geht mit Christine auf dem Rücken über Felder.
51
01:27.14
Hafen
Schiff, im Hintergrund wartende Menschen. Ein Boot setzt Leute über, sie gehen an Bord, als letzte John und Christine.
52
01:29:58
Abspann
 


Interpretation des Films;

einzelne Bilder, Motive und Handlungsstränge

 

Das erste Bild

Die erste Einstellung des Films zeigt eine durch Wolken brechende Sonne im Zentrum des Bildes, die eine neblige Ebene, vielleicht einen Flusslauf, und Hügel im Vordergrund erhellt. Es bleibt im Film die einzige Szene, in der die Sonne zu sehen ist: erst in der 43. Sequenz spricht Christine, die Tochter von Hanna und John Hansen, über den Himmel als Ort der Verstorbenen. "Dort scheint den ganzen Tag die Sonne", sagt sie gegen Ende des Films, in dem das Diesseits als dunkel, bedrohlich und hoffnungslos gezeigt wird; im Hinblick auf den Film, die Gesamtproblematik und die hier gezeigte Lösung, ist diese erste Einstellung als Metapher der Hoffnung zu deuten.

Erst nach dieser Einstellung präsentiert der Vorspann auf dem Hintergrund der überstrahlten Landschaft die Informationen über den Film.


Enge und Weite, Licht und Schatten

Der Weite der Landschaft stellt Miehe zu Beginn des Films die Enge des Gefängnisses gegenüber. Mit langen, ruhigen Einstellungen (in 3 Minuten mit nur 2 Schnitten) und mit nur geringen Veränderungen in der Wahl der Bildausschnittsgröße zeigt Miehe die Eintönigkeit im Gefängnis.

Die Enge des Pausenhofs wird durch nach hinten zusammenlaufende Seitenwände, die Senkrechte im Hintergrund und den vorn links stehenden Wächter, der ebenfalls eine Senkrechte bildet, betont. Dieses Bild wirkt durch den Bildaufbau und die langsame Kreisbewegung, die die Gefangenen innerhalb des engen Rahmens beschreiben, sehr statisch. Inhaltlich dient die Einstellung der Einführung der Personen und der Handlung, hier der Vorgeschichte; durch die Änderung des Ausschnitts (von der Totalen zur halbnahen Einstellung) werden zwei Personen herausgehoben und somit vorgestellt. Der Name John wird genannt, und wir erfahren, dass nach dem Plan des zweiten Mannes ein Einbruch verübt worden ist, bei dem John durch die Verschonung des Dieners beide vor dem Galgen bewahrt hat. Die Dunkelheit der Zelle in der nächsten Sequenz unterstreicht die düstere Atmosphäre.

Im schrägen Lichteinfall werden auf John und seinen Begleiter Schattenstreifen geworfen; die Personen der Nebenhandlung werden wie mit einem Punktstrahler aus dem Dunkel herausgearbeitet; dieser Lichteinfall ist im Gegensatz zu dem am Fenster nicht realistisch motiviert; hier wird demonstrativ auf etwas hingewiesen. John und sein Partner stehen zunächst hintereinander, beide sind zum Fenster gerichtet; Licht und Schatten sind gleichmäßig auf sie verteilt; die Licht- und Schattenstreifen führen von links unten nach rechts oben, also aufwärts, was hier Sehnsucht und Hoffnung ausdrücken kann. Als sich im Gespräch unterschiedliche Meinungen ergeben, werden die Personen gegenübergestellt, bis sie bei der Aussprache über ihre unterschiedlichen Auffassungen im Schuss- und Gegenschussverfahren gezeigt werden (00:05:00); damit wird der Gegensatz zwischen ihnen optisch deutlich. Das Lachen des einen Mannes bildet einen Kontrast zum Ernst des anderen. Zwei Gleiche werden also durch filmische Mittel als Gegenspieler gestaltet.

 

Exposition

Schon in diesem ersten Dialog, in dem Wenzel John Hansen überreden will, mit ihm auszubrechen, klingt das Amerika-Motiv an.

 

John Hansen:

Die wandern alle aus in die Neue Welt - nach Amerika. (...)

 

Wenzel:

Bleib' im Lande und nähre dich redlich: ich will bloß raus hier. Willst du wahnsinnig werden wie der Alte neulich?

 

John Hansen:

Ich hab nicht mehr lange; 5 von meinen 6 Jahren hab' ich schon hinter mir; den Rest schaff' ich auch noch, dann bin ich frei; dann kann ich gehen, wohin ich will.

 

Wenzel:

Dann bist du frei?

Mein Onkel Ferdinand, was hat der nicht alles angestellt, um wieder ein anständiger Mensch zu werden; und wie ist es ausgegangen? Er sitzt heute noch in Hameln an der Weser.

 

John Hansen:

Hör zu Wenzel, dafür gibt es doch die Strafe, dass man damit abbüßt, was man getan hat, das hat der Richter so gesagt ...

 

Wenzel:

Der Richter, Mann, John, der ist doch nur dazu da, dass er sagt, was in den Büchern steht. Und was steht in den Büchern? Dass einer nur was ist, wenn ihm was gehört. Und wenn sich einer was nimmt, weil er auch was sein will, dann sperren sie ihn ein; und wenn es rauskommt, dann hat er weniger als nichts. Ich sage dir was, als Freund, wenn du einmal hier drin warst, das wirst du nie mehr los. Damit musst du leben, es kommt nur darauf an, wie; pass auf, ich weiß, wie man hier rauskommen kann (...). Machst du mit?

 

John Hansen:

Nein, Wenzel, ich komme nicht mit: das eine Jahr halte ich auch noch aus; ich will ganz anders leben, wenn ich rauskomme. Ich will 'n neues Leben anfangen.

 

Diese Sequenz ist ganz von dem Gespräch bestimmt, das inhaltlich und in der Zeichnung der Personen als Gegenspieler den Charakter der Exposition erfüllt. Die Nebenhandlung, (ein Gefangener stiehlt einem anderen ein Stück Brot) unterstreicht und variiert die Thematik des Disputs zwischen Wenzel und John.

 

Die Erzählweise des Films: strophisches Erzählen

In den letzten Sekunden dieser Sequenz setzt die Gitarrenmusik aus dem Vorspann wieder ein; sie verbindet diese Szene mit der folgenden, der Entlassung John Hansens. Da auch bei den folgenden Übergängen von einer Sequenz zur nächsten die Musik wieder erklingt, erhalten die einzelnen Sequenzen schon hier einen strophischen Charakter; Handlungsabschnitte werden isoliert und durch Schwarzblenden getrennt. Die Musik bewirkt den Eindruck des Balladesken. Die Sequenzen sind wie Strophen, die, zusammengehalten durch die wiederkehrende Musik, zu einem Ganzen aneinander gefügt werden.

Das Verfahren erinnert an Bänkelsang und Moritaten; es entsteht ein Gestus des Zeigens. Eine Geschichte von dem Weg und dem Kampf eines Einzelnen wird erzählt, ja vorgeführt; die einzelnen Abschnitte, Strophen markieren wichtige Stationen seines Wegs, seiner mühsam gegen viele Widerstände erreichten Selbstbehauptung.

 

Die folgenden 30 Stationen könnten Strophen der Ballade sein, die erzählt wird und die noch zu schreiben wäre.

 

  • Gefängnis
  • Entlassung
  • Gefahr des Verlusts der Identität (Alkohol)
  • Freundschaft
  • Arbeit
  • Demütigung durch die Ordnungsmacht
  • Liebe und häusliches Glück
  • Wohlwollen und Förderung durch den Bürgermeister
  • Hochzeit und Geburt einer Tochter
  • Entlassung aus der Arbeit
  • Demütigung durch die Ordnungsmacht
  • Verzweiflung (Alkohol)
  • häuslicher Streit
  • Vorschlag der Auswanderung
  • Einstehen für einen kranken Freund
  • erneute Entlassung
  • Alkohol
  • Gewalttätigkeit zu Hause
  • Gewalttätigkeit gegen einen Angreifer
  • Demütigung durch die Ordnungsmacht
  • Enttäuschung durch den Bürgermeister
  • Hannas Tod
  • Verzweiflung
  • Unterstützung durch eine selbstbewusste Außenseiterin der Gesellschaft
  • Lossagung des Freundes
  • Zettel mit Angaben zur Auswanderung
  • Verdächtigung durch die Ordnungsmacht
  • Trennung von der Tochter
  • gewaltsame Befreiung der Tochter aus dem Heim
  • Einschiffung nach Amerika

 

Nachdem im Beginn des Films die Erzählweise als episodisch balladeske bewusst gemacht ist, fordern auch die folgenden, sehr oft durch längere (3 Sekunden dauernde) Schwarzblenden voneinander abgesetzten Bilder dem Zuschauer eine distanzierte Wahrnehmung, Betrachtung und Deutung ab.

 

Das Bild der Allee als Metapher

Die 5. kurze Sequenz ist vom Bild John Hansens bestimmt, der durch eine Allee geht. Die Allee führt in den Hintergrund des Bildes; zum ersten Mal wird hier im Film eine Perspektive in die Tiefe des Raumes eröffnet.

Die Allee ist als Bild aber durchaus ambivalent; einerseits geht John auf einem geordneten Weg, durch eine von Menschen bewusst gestaltete Landschaft, wobei das Motiv des Weges natürlich symbolisch deutlich belegt ist als "Weg der Tugend", als "neuer Weg" u.ä.; andererseits bleibt bei dieser Allee das Ende dunkel, ein Ziel wird nicht sichtbar. Das Licht bleibt außerhalb der Allee; Hell und Dunkel stehen in starkem Kontrast. Im spannungsreichen Bezug stehen in diesem Bild auch Enge und Weite zueinander. In dieser Sequenz ist also ein wichtiges und vielfältig interpretierbares Bild gestaltet.


Der Gestus des Zeigens

Die Sequenzen 6 und 7 schaffen wieder enge dunkle Räume und erinnern auch von der Lichtführung her an das Gefängnis. Am Ende einer langen Einstellung in der 6. Sequenz wird eine weitere handlungstragende Person ins Spiel gebracht, Michel, der zum Freund wird und sich am Schluss von John lossagt.

Im Gespräch mit Michel im Schuppen wiederholen sich Motive aus dem Gespräch mit Wenzel: Frauen, Ferne; (hier: die Südsee), Arbeit; damit wird der inhaltliche Zusammenhang bestärkt. Die Motivwiederholung stellt Zusammenhänge her und bildet damit einen Kontrast zur sonstigen Präsentation der Handlungselemente, denn der Film erzählt stark elliptisch.

Die Handlungselemente der einzelnen Sequenzen fügen sich nicht chronologisch aneinander, der Zuschauer wird mit Sprüngen konfrontiert; so ist zunächst in der 6. Sequenz unklar, worum es überhaupt geht, weil der am Boden liegende John Hansen nicht deutlich zu erkennen ist; die Handlung zwischen dem Gang durch die Allee und dem Liegen am Boden muss aus dem Gespräch zwischen John Hansen und Michel in der 5. und 6. Sequenz erschlossen werden; offenbar hat sich John schon darum gekümmert, Arbeit zu bekommen, und er hat sich in einer Kneipe betrunken.

Eine besondere Art des Erzählens wird deutlich: Die Wiederholung von Motiven schafft Zusammenhänge zwischen durch Sprünge voneinander getrennten Geschehensausschnitten, ja Bildern, die wie Strophen selbständig für sich stehen. Die Musik verbindet diese deutlich als Strophen, Abschnitte, Ausschnitte geformten Teile der Erzählung zu einem Ganzen; dieses Verfahren behält Miehe auch in den folgenden Sequenzen bei. Damit wird von den Zuschauern eine bewusste Art der Wahrnehmung und der Reflexion erwartet. Sie müssen aktiv mitarbeiten, Zusammenhänge herstellen, sie erhalten mit den Schwarzblenden und den langen ruhigen Einstellungen Zeit zur Reflexion: Der Gestus des Zeigens und die damit verbundenen Erwartungen an das Rezeptionsverhalten der Betrachterinnen und Betrachter erinnern an Verfahren von Brechts epischem Theater.

Diese Art des Erzählens lässt jedes einzelne Erzählelement als Baustein oder Mosaikstein einer schon fertigen Geschichte erscheinen; das Einzelbild steht in engem Zusammenhang mit einer schon fertigen Geschichte, von daher ergibt sich so etwas wie Geschlossenheit, Unentrinnbarkeit, Fertigkeit. Das Zwangsläufige, Vorherbestimmte des Geschehensablaufs gewinnt den Charakter eines Modells.

 

Attribute der Hauptperson: der Alkohol

Zur Charakterisierung der Personen setzt Miehe wiederkehrende Attribute ein; bei Michel ist es der häufige Verweis auf seine Krankheit und sein Hüsteln, bei John wird die Flasche Alkohol als Requisite zum charakterisierenden Attribut.

In der 5. und 6. Sequenz wird deutlich, dass Alkohol eine gewichtige Rolle im Leben John Hansens spielt. Die Flasche Alkohol als Attribut der Person John Hansens taucht in verschiedenen weiteren Sequenzen auf, bis sie später durch ein anderes Attribut ersetzt wird: die Axt. Die Charakterisierung durch Attribute (Alkohol und Axt) verbildlicht und unterstreicht die innere Wandlung John Hansens vom Opfer zum selbstbestimmt und selbstbewusst Handelnden.

 

Wiederholung als strukturierendes Prinzip

Mit der 8. Sequenz, der Szene im Büro des Gendarmen, begegnen uns eine Figurenkonstellation und ein Handlungselement, die sich noch zweimal wiederholen (in der 20. und der 29. Sequenz). So wird der Film inhaltlich strukturiert, zugleich wird eine Steigerung bewirkt.

Diese drei Sequenzen führen dem Zuschauer den Gegensatz zwischen John und der Ordnungsmacht vor; von Anfang an, dem 1. expositorischen Gespräch, wird John Hansen als jemand vorgestellt, der die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und der geregelten Lebensverhältnisse anstrebt.

Im 1. Bild dieser Sequenz, das in seinem Aufbau große Aussagekraft besitzt, werden John Hansen einerseits und der die Ordnung vertretende Gendarm andererseits deutlich voneinander getrennt und gegenübergestellt. Eine Schranke trennt John von dem Schreibtisch, dem Reich der Ordnung, dem Aktenschrank mit den Büchern und den Attributen der Schrift, das der Gendarm repräsentiert und beherrscht.

Der Aktenschrank hinter dem Gendarmen bildet gleichsam einen festen Rahmen, in den der Gendarm eingefügt ist; John Hansen steht vor dem leeren weißen Türrahmen: der eine hat die Macht, die Ordnung, die Akten hinter sich, der andere das leere, weiße Türblatt. Dennoch ist der Gendarm nicht (wie der Kaiser in der "Untertan"-Verfilmung von Staudte) durch die Froschperspektive als mächtig und überlegen gezeigt; es ist ja nicht nötig, den Überlegenen auch filmisch als Überlegenen zu zeichnen: der Gendarm kann auch als Sitzender herablassend sein, wie die Körperhaltung, der Blick, die inhaltliche Aussage und deren Tonfall zeigen. Die Festigkeit des Rahmens verstärkt sich in der 2. Gendarmen-Szene; da wird der Gendarm vollständig von der hinter ihm befindlichen Wand eingerahmt (00:38:32). Diese Umrahmung hat etwas von einer Pathos-Formel; wichtige Figuren (wie später auch der Bürgermeister und John Hansen) werden umrahmt oder unter Bögen gestellt, die die Machtposition unterstreichen.

Die Bedrohung und Verunsicherung John Hansens durch die Ordnungsmacht wird in den folgenden Sequenzen dieses Typs durch eine andere Einstellungsgröße (Großaufnahmen des Gendarms), durch das Anwachsen der Redeanteile des Gendarmen und seine ironische Kommentierung und moralische Wertung verstärkt.

Das Verfahren der Wiederholung inhaltlich ähnlicher Einstellungen wird auch in anderen Bereichen deutlich. So werden zwei Gespräche zwischen John und dem Bürgermeister in dessen Amtszimmer gezeigt, 2 Sitzungen der Honoratioren in der Gaststätte, 2 Aufenthalte am Meer, 3 sich steigernde Szenen häuslicher Auseinandersetzung, 2 Szenen am Tisch (mit Küster-Mariken, John Hansen und schließlich Christine). 2 Szenen, in denen Kartoffeln gestohlen werden. Diese Wiederholungen strukturieren den Film, erleichtern den Zuschauern die Einordnung und weisen auf Wiederholbarkeit und Steigerung hin.

 

Die weibliche Hauptperson als Lichtfigur und Opfer

In ihrem sozialen Umfeld, als unverheiratete Wäscherin, wird in einem weiteren Handlungssprung Hanna eingeführt, die weibliche Hauptfigur des Films. Hanna wird durchgehend in hellem Licht gezeigt, in Szenen, in denen die Portraits von John Hansen und Hanna sich gegenüberstehen, kontrastieren Hell und Dunkel sehr stark. Auch in der Dunkelheit der Kate sind Hannas Gesicht und ihre Haare immer hell ausgeleuchtet. Durch die Kleidung Hannas und den Antrag des jungen Bauern wird die Szene erotisch konnotiert; Hannas Aufstiegschancen werden dem Zuschauer durch die Kommentierung der zweiten Wäscherin angedeutet; wie überall im Film ist auch hier eine Motivverflechtung zu beobachten, das Zigeunermotiv aus dem 1. Gespräch zwischen Wenzel und John Hansen wird aufgenommen, es begegnet wieder bei der Hochzeitsfeier, wo eine Zigeunerin Hanna die Zukunft voraussagt. "Ich sehe ganz dunkel, dunkel, ich kann nicht weit sehen bei dir."

Ihr Selbstverständnis artikuliert Hanna mit dem Satz "Ich brauch keinen Hof". Sie kontrastiert mit der nach Ordnung und sozialen Aufstieg strebenden älteren Wäscherin, die Hanna mahnt. Hanna wird also auch von außen bestimmt und bewertet, damit wird sogleich auch bei dieser Figur Distanzierung und Kommentierung deutlich, was das bisher im Film verwendete Verfahren fortführt. Aber Hanna begegnet uns auch als Nachdenkliche in Großaufnahme (00:18:07).

Die Begegnung zwischen John Hansen und Hanna wird durch das Schuss- und Gegenschussverfahren als Beginn einer Liebesbeziehung gestaltet. Dieser erste Blickwechsel steht in Beziehung und im Kontrast zu weiteren Blickwechseln zwischen John Hansen und Hanna. Im weiteren Verlauf der Handlung spiegelt sich die Entwicklung und Veränderung der Beziehung zwischen den beiden, die durch die äußeren Lebensbedingungen stark belastet ist, in ihren Blicken wider. Zügig weitergeführt wird der Handlungsstrang, die Entwicklung der Liebesbeziehung in der folgenden Sequenz, in der die Körpersprache John Hansens ihn schon vor der Liebesszene in der Besitzerrolle zeigt, und zwar in einer neuen Strophe der Ballade, die dieses Mal ohne Schwarzblende, aber mit der leitmotivischen Musik angereiht wird.

Die 3. Etappe in der Beziehung bildet nach dem Blick und der Liebesszene eine Szene in der Kate, bei der eine gewisse Zufriedenheit und Erfüllung zu beobachten ist; John hat Arbeit gefunden, er ist tüchtig und wird gelobt. Als Wächter auf dem Feld ist er Teil von der ihm angestrebten Welt der Ordnung. Hanna hat gekocht und betrachtet John zärtlich. Das Interieur erinnert an holländische Genremalerei und strahlt bescheidene Ruhe aus. Aber auch hier fehlt nicht das Bedrohliche; John Hansen fühlt sich durch ihm untergebene Frauen, die z.T. auch aus dem Gefängnis kommen, an seine Vergangenheit erinnert; wie die 1. Sequenz, das Bild der Allee, der Doppelname John Hansen/John Glückstadt ist auch diese Sequenz von der Spannung zwischen Zufriedenheit und Glück einerseits und Bedrohung und Sorge andererseits bestimmt. Die Spannung wird mit filmischen Mitteln gesteigert, als auf Hannas erklärungsbedürftigen Schlüsselsatz "wenn wir uns lieben, was soll uns schon geschehen (00:21:20)?" im harten Schnitt und bewusstem Kontrast ein dunkles Bild, das kastenförmige Bett, in dem beiden liegen, gezeigt wird, das wiederum Eingeschlossensein, Dunkelheit und Enge signalisiert. Auch auf den kastenförmigen Sarg weist dieses Bild voraus, wobei die Lichtführung deutet und kommentiert; die Liebesszene liegt im Dunkel, Hanna im Sarg ist sehr hell ausgeleuchtet. Der Schlüsselsatz: "Wenn wir uns lieben, was soll uns schon geschehen?" kann als Verweis auf eine Möglichkeit, einen Traum, eine Hoffnung, verstanden werden. Hier könnte sich eine Perspektive in Richtung auf Befreiung aus der Enge zeigen: Der Schlüsselsatz kann aber auch als Irrtum, als falsche Einschätzung der Lage gedeutet werden.

John Hansens Aussage in der Mitte der folgenden 14 Sekunden langen, ruhigen Einstellung "Du bist alles, was ich hab", lässt Zeit zum Nachdenken und zur Beurteilung der Situation der Liebenden.

 

Situation der Liebenden

Die Wiederaufnahme des Bildes vom Kastenbett in der Kate, das zuletzt den Hintergrund für John Hansens Satz "Du bist alles, was ich habe" bildete, wird in der 18. Sequenz mit einer Schwarzblende und einem spitzen Schrei vorbereitet. Hanna bringt ihr Kind zur Welt.

John Hansen wird als stürmisch Bittender, die Hebamme in Untersicht als überlegen Distanzierte gezeigt; die Musik fügt auch diese Episode zur Strophe, zur Etappe auf dem Weg, zum freundlichen Höhepunkt, bevor mit der folgenden Sequenz eine Wende zum Schlechten, zu Niedergang und Verlust beginnt; Entlassung aus der Gärtnerei durch den neuen Verwalter, Meldung beim Gendarmen, Alkoholmissbrauch und Steit mit Hanna sind die Themen der folgenden Sequenzen, die einen Zeitraum von 3 Jahren überbrücken.

Vier Szenen in der Kate zeigen das Verhältnis der beiden zueinander, das als Widerspiegelung der Etappen auf dem Weg John Hansens zur Selbstbehauptung zu deuten ist.

11. Sequenz:

Der an ein holländisches Genrebild erinnernde Innenraum trägt Züge einer Idylle. Dennoch äußert gegen Ende der Szene John düstere Gedanken; es ist Hanna, die ihn ermutigt und ihm gut zuredet.

22. Sequenz:

John Hansen ist verändert, hart; seine Lebensbedingungen haben sich verschlechtert, und Hoffnungslosigkeit führt zu innerer Gereiztheit, deren Opfer Hanna wird. John Hansen erhebt die Hand gegen sie, besinnt sich aber. Hanna ermutigt John in dessen Zerknirschung, es kommt zur Versöhnung.

26. Sequenz:

Nach erneuter Entlassung und erneutem Alkoholmissbrauch entlädt sich der Zorn John Hansens in einem Schlag in Hannas Gesicht. Betroffen und reumütig trägt er sie aufs Bett und klagt sich selbst zerknirscht an. Hanna akzeptiert ihre Opferrolle, es kommt zu Umarmung und Versöhnung.

31. Sequenz:

John Hansen ist vom Bürgermeister abgewiesen, Hanna reizt John, indem sie an das Gefängnis erinnert, John stößt sie von sich, der Sturz führt zu ihrem Tode. Die Drehbewegung, die in dieser Szene durch die Kamerafahrt entsteht, erinnert an Szenen in anderen Filmen, in denen damit die Liebesbeziehung verdeutlicht wird. Hier lässt sich die Drehbewegung inhaltlich vielfältig deuten; als Verlust der Orientierung, als Strudel, in den beide hinabgezogen werden, in ihrer Kreisform als Hinweis auf die Zwangsläufigkeit des Scheiterns einer Liebe unter derartigen Bedingungen.

 

Insgesamt wird also Hanna in ihrer Schönheit und Güte und in ihrer sanftmütigen Opferhaltung als Versprechen eines glückenden Lebens gezeigt. Als sie selbst gegen diese Grundhaltung verstößt und John provoziert, bewirkt der Stoß, den John gegen sie führt, letztlich ihren Tod. Hanna ist als Frau lichtgestaltige Hoffnungsträgerin, Versprechen auf ein glückendes Leben, und zugleich Opfer

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