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Zur literarischen Gattung der Fabelmit einem Beispiel von Theodor Storm
Im Herbst 1835 trug der 18jährige Theodor Storm ein Gedicht in seine Sammelhandschrift ein, das er noch als Schüler der Husumer Gelehrtenschule verfasst hat. Storm besuchte diese Schule von 1826 bis 1835 und wechselte im Oktober an das Katharineum in Lübeck, um dort seine Ausbildung für eineinhalbes Jahr fortzusetzen. Im Sommersemester 1837 begann er danach sein Jura-Studium in Kiel und Berlin, das er 1842 mit dem Examen abschloss. Dieses Gedicht ist eine Übersetzung und Nachdichtung einer berühmten Fabel des Phaedrus, zu der Storm als Primaner der Husumer Gelehrtenschule im Anschluss an seine Lektüre im Lateinunterricht angeregt wurde. Dieser Text ist Ausgangspunkt einer Unterrichtsreihe zur Fabel und zu den verschiedenen Textfassungen und Übertragungen dieser Literaturgattung.
Theodor Storm
Ein Schülergedicht von Theodor Storm. Von Gerd Eversberg
Wenn man heute an die Schulzeit Theodor Storms erinnert, so löst man bei vielen Lesern Vorstellungen aus, die von der „Feuerzangenbowle“ geprägt sind, der bekannten Filmkomödie mit Heinz Rühmann, die uns ein verstaubtes Bild von Schule vor mehr als hundert Jahren vermittelt, in der die Schüler vor allem Unsinn im Kopf haben. Dass der Unterricht zu Storms Schulzeit aber durchaus junge Menschen zu kreativen Leistungen anregen konnte, kann man an einigen frühen Gedichten des späteren Poeten sehen.
Der Fuchs u<nd> d<ie> TraubeHungrig schlich der Fuchs ins Freie Springend sucht er zu erreichen, Mürrisch spricht er: „ach, sie schmecket Solche trifft d<er> Mund d<er> Fabel,
Theodor Storm: Handschrift in „Meine Gedichte“, S. 29f. als Nr. 43 im 2. Halbjahr 1835 eingetragen (Sammelhandschrift, Storm-Archiv Husum)
Die Anregung für dieses und für eine Reihe weiterer Gedichte hat der junge Dichter im Unterricht seiner Schule bekommen. Storm wurde Ostern 1826 mit 9 Jahren in die Quarta der Husumer Gelehrtenschule aufgenommen, die 1827 bereits auf eine dreihundertjährige Tradition zurückblicken konnte. Sie war als Reformationsgründung eine der vier humanistischen Bildungsanstalten im Herzogtum Schleswig. Auch im 19. Jahrhundert blieb es Aufgabe dieser Gelehrtenschulen, junge Menschen auf das Studium an der Landesuniversität Kiel vorbereiteten, auf der man studieren musste, wenn man ein Amt als Arzt, Pastor, Lehrer oder Jurist in den Herzogtümern anstrebte; darüber hinaus vermittelte die Institution dem kaufmännischen Nachwuchs eine humanistische Grundbildung. Storm stieg nach einem Jahr in die Tertia auf, die er wie die Sekunda drei Jahre besuchte, danach war er seit Ostern 1833 Primaner. Die Schule hatte im 19. Jahrhundert vier Klassen, die von vier Lehrern unterrichtet wurden. Diese hatten eine philologische und theologische Ausbildung und gaben alle Fächer. Aus den Schulprogrammen der Husumer Gelehrtenschule geht hervor, dass Griechisch und Latein fast ein Drittel (Tertia) bis die Hälfte (Prima) des Unterrichts ausmachten. In den beiden Oberklassen wurden 8 Wochenstunden Latein unterrichtet und 4 (Sekunda) bzw. 5 (Prima) Stunden Griechisch. Im altsprachlichen Unterricht wurde nicht nur übersetzt, sondern man leitete die Schüler auch zur Produktion eigener Texte an. Dabei galt es zunächst, die klassischen Vorbilder nachzuahmen, die man als Lektüre kennen gelernt hatte. Die Lehrer vermittelten ihren Schülern detaillierte Kenntnisse in der „Prosodie“, als der Lehre vom Akzent und den Silbenquantitäten; sowohl im Griechisch- wie im Lateinunterricht wurden Stilübungen aufgegeben, bei denen die Metrik in den Originalsprachen analysiert und nachgeahmt wurde. Eine entsprechende Übertragung ins Deutsche setzt genaue Kenntnis der unterschiedlichen Strukturen der alten Sprachen und der veränderten Artikulationsqualitäten in der deutschen Sprache voraus. Die damals erworbene Übung im Übertragen aus den alten Sprachen in die Muttersprache bildet das Fundament für Storms außerordentliche Genauigkeit im kreativen Umgang mit der deutschen Sprache, wie seine späteren literarischen Werke und auch seine Briefe eindrucksvoll dokumentieren. Der junge Dichter paraphrasiert in seinem Gedicht die Fabel des Äsop, die ihm aus dem Lateinunterricht bei Konrektor Georg Heinrich Kuhlmann in der Fassung des Phädrus bekannt war. Georg Heinrich Kuhlmann (1775-1851) unterrichtete als Konrektor von 1811 bis 1838 an der Husumer Gelehrtenschule; bei ihm erhielt Storm den meisten Lateinunterricht. In der in Tertia (Schuljahr 1829/30) wurden, die das Schulprogramm von 1830 ausweist, „Phädrus Aesopische Fabeln“ gelesen. In der Bibliothek der Hermann-Tast-Schule haben sich Bücher erhalten, die zu Storms Zeiten im Unterricht benutzt wurden. Dort begegnet uns die Fabel in lateinischer Sprache:
De Vulpe et Uva Fame coacta vulpes alta in vinea Qui, facere quae non possunt, verbis elevant, Der Hunger trieb den Fuchs hoch in den Weinstock, Übersetzung: G. Eversberg Diese Fabel beginnt mit einer kurzen Exposition, es folgt die Erzählung, der eine Art Nachwort (griechisch: Epimythion) angegliedert ist, das eine Lehre enthält. Die eigentliche Erzählung besteht aus drei Teilen; Exposition und Handlungsbeginn sind durch einen Zeilensprung miteinander verbunden, der zweite Teil beschreibt das Scheitern des Fuchses und der Schluss besteht nur aus dessen Rede, die dieser bereits im Weggehen spricht. Die davon abgesetzte Nachrede wäre eigentlich entbehrlich, da die Ausrede des Fuchses für den Leser bereits die Lehre der Fabel, das fabula docet, erkennen lässt. Wie alle Fabeln des Phaedrus ist der Text im jambischen Senar verfasst, einer Folge von kurzen und langen Silben, wobei kurze Silben gegen lange und lange gegen zwei kurze ausgetauscht werden können. Dieses Versmaß lässt sogar weitere Abweichungen zu und steht der Umgangssprache des gebildeten Roms (sermo urbanus) zur Zeit des Phaedrus (gestorben um 50 nach Christi Geburt) nahe. Der Übersetzer steht vor dem Problem, dass er ein Versmaß nachahmen muss, das es nach den antiken Silben-Maß-Grundlagen von Quantität und Zahl so in der deutschen Sprache gar nicht gibt, die nur betonte und unbetonte Silben kennt. Er muss sich von der Strenge des Vorbilds lösen, weshalb Lessing zum Beispiel in seiner Nachdichtung den Text rhythmisierte und ihn in drei- bis siebenhebige Zeilen anordnete, die unregelmäßig gereimt sind. Später übertrug er Fabeln in einfache Prosarede. Auch andere Übersetzer des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wählten vier- bis achthebige Jamben, die sie unterschiedlich rhythmisierten. Eine gute Übersetzung ist auch deshalb schwierig, weil bei Phaedrus die Wortwahl und die rhythmisch passende Wortstellung Vorrang vor grammatischen oder syntaktischen Figuren haben und das eigentliche künstlerische Merkmal der Fabeln ausmachen. Der junge Storm wählt unbekümmert ein anderes Versmaß, den vierhebigen Trochäus, den er gleichmäßig einsetzt und so ein festes Betonungsgefüge schafft, das Endreime entbehrlich macht. Die Verkürzung des zehnten Verses um zwei Hebungen ergibt nicht nur eine Zäsur, sondern setzt durch den Zeilensprung einen Akzent, der gleich einem Wendepunkt Spannung erzeugt und durch eine geschickt gesetzte Pause die nächste Zeile betont. Storm schmückt die Fabel aus, wie das auch bei früheren Übertragungen üblich war; er entfaltet die Exposition zu einem Naturbild und lässt den Fuchs durch die Wiese streifen; den Kontrast bildet dann die Traube, die „hoch“ am Rebenzweige winkt. Aus den sauren, unreifen Früchten macht Storm „bittre Trauben“. Die Nachrede lässt erkennen, dass der junge Dichter den Text nicht bloß übersetzt und durch poetische Bilder ausgeschmückt hat, sondern er deutet die Lehre der Fabel, vielleicht so, wie er es im Lateinunterricht erfahren hat. Statt die Aufforderung der Fabel, sich so wie der Fuchs zu verhalten, trifft nun „der Mund der Fabel“, d.h. der Vortrag des didaktischen exemplum alle diejenigen mit Spott, die „mit Worten frech verhöhnen,/ Was zu groß für ihre Kraft“. Schon bei den ersten lyrischen Versuchen kündigt sich das große Talent des Husumer Dichters an, denn im Vergleich zu anderen Versübertragungen des 18. und 19. Jahrhunderts von renommierten Schriftstellern erweist sich das Storms Text nicht nur als gleichwertig sondern sogar als künstlerisch bedeutender.
Exemplar in der Husumer Schulbibliothek (Amsterdam 1667)
3: Andere Übertragungen
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Französische Illustrationen: |
Charles Monnet 1765 |
Die Traube
Fab. Aesop. 156. Phaedrus lib. IV. Fab.
Ich kenne einen Dichter, dem die schreiende Bewunderung seiner kleinen Nachahmer weit mehr geschadet hat, als die neidische Verachtung seiner Kunstrichter.
Sie ist ja doch sauer! sagte der Fuchs von der Traube, nach der er lange genug vergebens gesprungen war. Das hörte ein Sperling und sprach: Sauer sollte diese Traube sein? Darnach sieht sie mir doch nicht aus! Er flog hin, und kostete, und fand sie ungemein süße, und rief hundert näschiche Brüder herbei. Kostet doch! schrie er; kostet doch! Diese treffliche Traube schalt der Fuchs sauer. - Sie kosteten alle, und in wenig Augenblicken ward die Traube so zugerichtet, daß nie ein Fuchs wieder darnach sprang.
Gotthold Ephraim Lessing: Fabeln. Drei Bücher [Ausgabe 1759], S. 45. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 121543.
Ein Fuchs, der auf die Beute gieng,
Traf einen Weinstock an, der, voll von falben Trauben,
Um einen hohen Ulmbaum hieng;
Sie schienen gut genug; die Kunst war, abzuklauben.
Er schlich sich hin und her, den Zugang auszuspähn;
Umsonst, es war zu hoch, kein Sprung war abzusehn.
Der Schalk dacht in sich selbst: ich muß mich nicht beschämen;
Er sprach und macht dabei ein hämisches Gesicht:
»Was soll ich mir viel Mühe nehmen,
Sie sind ja saur und taugen nicht!«
So gehts der Wissenschaft. Verachtung geht für Müh.
Wer sie nicht hat, der tadelt sie.
Albrecht von Haller: Versuch Schweizerischer Gedichte, S. 253. Die digitale Bibliothek der deutschen Lyrik, S. 28205.
Karl Wilhelm Ramler (1725 bis 1798)
Ein Fuchs, der auf die Beute ging,
fand einen Weinstock, der voll schwerer Trauben
an einer hohen Mauer hing.
Sie schienen ihm ein köstlich Ding,
allein beschwerlich abzuklauben.
Er schlich umher, den nächsten Zugang auszuspäh'n.
Umsonst! Kein Sprung war abzuseh'n.
Sich selbst nicht vor dem Trupp der Vögel zu beschämen,
der auf den Bäumen saß, kehrt er sich um und spricht
und zieht dabei verächtlich das Gesicht:
»Was soll ich mir viel Mühe geben?
Sie sind ja herb und taugen nicht.«
K. W. Ramler: Fabellese. Leipzig 3 Bde. 1783-1790.
Der Fuchs und die Trauben
Eine Maus und ein Spatz saßen an einem Herbstabend unter einem Weinstock und plauderten miteinander. Auf einmal zirpte der Spatz seiner Freundin zu: „Versteck dich, der Fuchs kommt“, und flog rasch hinauf ins Laub.
Der Fuchs schlich sich an den Weinstock heran, seine Blicke hingen sehnsüchtig an den dicken, blauen, überreifen Trauben. Vorsichtig spähte er nach allen Seiten. Dann stützte er sich mit seinen Vorderpfoten gegen den Stamm, reckte kräftig seinen Körper empor und wollte mit dem Mund ein paar Trauben erwischen. Aber sie hingen zu hoch.
Etwas verärgert versuchte er sein Glück noch einmal. Diesmal tat er einen gewaltigen Satz, doch er schnappte wieder nur ins Leere.
Ein drittes Mal bemühte er sich und sprang aus Leibeskräften. Voller Gier huschte er nach den üppigen Trauben und streckte sich so lange dabei, bis er auf den Rücken kollerte. Nicht ein Blatt hatte sich bewegt.
Der Spatz, der schweigend zugesehen hatte, konnte sich nicht länger beherrschen und zwitscherte belustigt: „Herr Fuchs, Ihr wollt zu hoch hinaus!“
Die Maus äugte aus ihrem Versteck und piepste vorwitzig: „Gib dir keine Mühe, die Trauben bekommst du nie.“ Und wie ein Pfeil schoß sie in ihr Loch zurück.
Der Fuchs biß die Zähne zusammen, rümpfte die Nase und meinte hochmütig: „Sie sind mir noch nicht reif genug, ich mag keine sauren Trauben.“ Mit erhobenem Haupt stolzierte er in den Wald zurück.
Anonymus. www.uni-bremen.de (2004)
Kleine Fabel
»Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.« - »Du mußt nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze und fraß sie.
Franz Kafka (1883 bis 1924)
Martin Luther (1530)
Martin Luther (1483 bis 1546): Briefe und Aesop-Fabeln. Codes Ottobonianus Latinus 5029 (Heute im Besitz des Vatikan). Zürich 1983.
Vom wolff vnd lemlin
Ein wolff vnd lemlin kamen on geferd, beide an einen bach zu trincken, Der wolff tranck oben am bach, Das lemlin aber, fern vnden Da der wolff des lemlins gewar ward, lieff er zu yhm vnd sprach, Warumb trübestu mir das wasser das ich nicht trincken kan, Das lemlin antwortet wie kan ich dirs wasser trüben, trinckestu doch ober mir, vnd mochtest es mir wol trüben Der wolff sprach, Wie? fluchestü mir noch dazu? Das lemlin antwortet, Ich fluche dir nicht. Der wolff sprach, Ja Dein Vater thet mir für sechs monden auch ein solchs, du wilt dich Vetem Das lemblin antwortet, Bin ich doch dazu mal nicht geborn gewest, wie sol ich [d<a>] meins Vaters entgelten? Der Wolff sprach, So hastu mir aber, meine wisen vnd ecker abgenaget vnd verderbet, Das lemlin antwortet, Wie ist[s] das muglich, hab ich doch noch keine zeene? Ey sprach der wolff, Vnd wenn du gleich viel aüsreden vnd schwetzen kanst, wil ich dennoch heint nicht vngefressen bleiben Vnd würget also das vnschuldige lemlin vnd fräs es
Lere
Der wellt lauff ist, Wer früm sein wil, der mus leiden, solt man eine Sache vom alten zaun brechen, Denn Gewalt gehet für Recht, Wenn man dem hunde zu wil, so hat er das leddcr gefressen, Wenn der wolff wil, so ist das lamb vnrecht
Drucktext
Vom Wolff vnd Lemlin.
Ein Wolff vnd Lemlin kamen on gefehr beide / an einen Bach zu tnncken / Der Wolff tranck oben am Bach / das Lemlin aber / fern vnten. Da der Wolff des Lemlins gewar war / lieff er zu jm / vnd sprach / Warumb trübestu mir das Wasser / das ich nicht trincken kan? Das Lemlin antwortet / Wie kan ich dirs Wasser trüben / trinckesru doch vber mir / vnd mochtest es mir wol trüben? Der Wolff sprach / Wie? Fluchstu mir noch dazu? Das Lemlin antwortet / Ich fluche dir nicht. Der Wolff sprach /Ja dein Vater thet mir für sechs Monden auch ein solchs / Du wilt dich Vetern / Das Lemlin antwortet / Bin ich doch dazumal nicht geborn gewest / wie sol ich meins Vaters entgelten ? Der Wolff sprach / So hastu mir aber mein Wiesen vnd Ecker abgenaget vnd verderbet.Das Lemlin antwortet / Wie ist das müg-lich / hab ich doch noch kein(e) Zeene? Ey sprach der Wolff / vnd wenn du gleich viel ausreden vn schwetzen kanst / wil ich dennoch heint nicht vngefressen bleiben / vnd würget also das vnschüldig Lemlin / vnd fraß es.
Lere.
DEr Welt lauff ist / wer Frum sein wil / der mus leiden / solt man eine Sache vom alten Zaun brechen / Denn Gewalt gehet l für Recht / Wenn man dem Hunde zu wil / so hat er das Ledder gefressen / Wenn der Wolff wil / so ist das Lamb vnrecht.
Der Fünffte Teil aller Bücher vnd Schrifften des Herren seligen Mann Doct.Mart. Lutheri. Jena 1552, S. 288 a.
Aus Aesopus: vita et Fabula, Ulm 1476 (Zur Fabel „Wolf und Lamm“), s.o.
Von dem Löwen, Fuchs und Esel
(Die Teilung der Beute)
Ein Löwe, Fuchs und Esel jagten miteinander und fingen einen Hirsch. Da hieß der Löwe den Esel das Wildbret teilen. Der Esel machte drei Teile. Darüber ward der Löwe zornig und riss dem Esel die Haut über den Kopf, dass er blutrünstig dastand, und hieß danach den Fuchs das Wildbret teilen. Der Fuchs stieß die drei Teile zusammen und gab sie dem Löwen. Da sprach der Löwe: „Wer hat dich so gelehret teilen?“ Der Fuchs zeigte auf den Esel und sprach: „Der Doktor da im roten Barett.“
Diese Fabel lehret zwei Stücke; zuerst: Herren wollen Vorteil haben, und dann: man soll mit Herren nicht Kirschen essen, sie werfen einen mit den Stielen.
Martin Luther
Der Rabe und der Fuchs
Ein Rabe saß auf einem Baum und hielt im Schnabel einen Käse; den wollte er verzehren. Da kam ein Fuchs daher, der vom Geruch des Käses angelockt war.
»Ah, guten Tag, Herr von Rabe!« rief der Fuchs. »Wie wunderbar Sie aussehen! Wenn Ihr Gesang ebenso schön ist wie Ihr Gefieder, dann sind Sie der Schönste von allen hier im Walde!«
Das schmeichelte dem Raben, und das Herz schlug ihm vor Freude höher. Um nun auch seine schöne Stimme zu zeigen, machte er den Schnabel weit auf - da fiel der Käse hinunter.
Der Fuchs schnappte ihn auf und sagte: »Mein guter Mann, nun haben Sie es selbst erfahren: ein Schmeichler lebt auf Kosten dessen, der ihn anhört - diese Lehre ist mit einem Käse wohl nicht zu teuer bezahlt.«
Der Rabe, bestürzt und beschämt, schwur sich zu, dass man ihn so nicht wieder anführen sollte - aber es war ein bisschen zu spät.
La Fontaine
Der Begriff „Fabel“ geht auf das lateinische Wort „fabula“ (=Geschichte, Erzählung, Gespräch) zurück und bezeichnet heute die typische Art der Tierdichtung in Vers oder Prosa, die eine allgemein anerkannte Wahrheit, einen moralischen Lehrsatz oder eine praktische Lebensweisheit anhand eines pointierten, doch analogen Beispiels in uneigentlicher Darstellung veranschaulicht und besonders durch die Übertragung menschlicher Verhaltensweisen, sozialer Zustände oder politischer Vorgänge auf die belebte oder unbelebte Natur witzig-satirische oder moralisch-belehrende Effekte erzielt.
Gotthold Ephraim Lessing
Der Esel und der Wolf
Ein Esel begegnete einem hungrigen Wolfe.
„Habe Mitleiden mit mir“, sagte der zitternde Esel, „ich bin nur ein armes, krankes Tier; sieh nur, was für einen Dorn ich mir in den Fuß getreten habe!“
„Wahrhaftig, du dauerst mich“, versetzte der Wolf, „und ich finde mich mit meinem Gewissen verbunden, dich von diesen Schmerzen zu befreien.“
Kaum war das Wort gesagt, so ward der Esel zerrissen.
Dieses Beispiel enthält alle kennzeichnenden Strukturelemente und Gestaltungsprinzipien einer typischen Fabel:
- Tiere als Akteure
- die Typisierung der Fabelfiguren (der böse, hinterlistige Wolf; der einfältige Esel)
- das Prinzip der polaren Gegensetzung
- die Zeit- und Ortlosigkeit
- der pointierte Schluss
- die sprachliche Kürze und Prägnanz
- die Dreigliedrigkeit
- den geringst möglichen Umfang
- die Verbindung von erzählerischen und dramatischen Elementen
- der Wirklichkeitsbezug
- die versteckte Aussageabsicht
Die Frage nach dem Ursprungsland der Fabel ist umstritten. In der Fachliteratur werden häufig Indien und Griechenland, aber auch Ägypten und Babylonien genannt. Untersuchungen zur „Genese der Fabel“ führen jedoch zu der Annahme, dass die Fabel als eine „Urform unserer Geistesbetätigung“ in verschiedenen Regionen unabhängig voneinander entstanden ist. Gleiche Voraussetzungen - etwa die in allen Gebieten im wesentlichen gleiche soziale Gliederung in Herren und Knechte und die Spannungen, die zwischen beiden Schichten herrschten - haben zur Ausprägung gleicher sozialkritischer Intentionen und zur Ausbildung nahezu gleicher sprachlicher Formen geführt.
Die ältesten überlieferten Fabeln stammen u. a. von Hesoid (um 700 v. Chr.) und Archilochos (um 650 v. Chr.). Der phrygische Sklave Aesop (um 550 vor Chr.) soll angeblich als erster Fabeln indischer und griechischer Herkunft gesammelt und aufgezeichnet haben. Dass sein Name untrennbar mit der Geschichte der Fabel verbunden ist, erklärt sich zum einen aus der großen Zahl und der Qualität seiner Fabeln, zum anderen aus der Tatsache, dass zahlreiche Fabeldichter späterer Zeiten auf die Fabeln Aesops zurückgreifen und seine Motive, sein Figureninventar, seine Kompositionsprinzipien oft nur variieren . Die Fabeln Aesops wurden von Babrios in Versform umgedichtet, von Phaedrus (um 50 nach Chr. Geb.) unter Verstärkung des lehrhaften Elementes und später von Avianus ( um 400 nach Chr. Geb.) in lateinische Verse übertragen und schließlich in Prosa aufgelöst. Bereits bei Phaedrus hatte die Bezeichnung „Fabel“ die Qualität eines Gattungsbegriffs.
Auf deutschem Boden wurde die Fabeldichtung innerhalb der lateinischen Klosterliteratur des Mittelalters gepflegt und weitergegeben. Der moralisch-didaktische Zweck und die lehrhaft-symbolische Bedeutung machten die Fabel zu einer geeigneten Erzählform für Predigten und Beispielsammlungen. Daher blühte diese literarische Art am stärksten in ausgeprägt rationalen Zeiten, die etwa aufklärerische oder gesellschaftlich-umstrukturierende Tendenzen verfolgten.
Im 16. Jahrhundert gedeiht die Fabel als agitatorische Kleinkunst der Reformationszeit. Luther stellt die Fabel so bewusst in den Dienst seiner ethisch-moralischen Intentionen. Erzählung und Lehre werden klar getrennt: der Leser wird zum eigenen Mitdenken angeregt.
Es ist bezeichnend, dass die Reformationszeit mit ihrem unverhüllten Aufklärungscharakter und ihren eindeutig moralisch-didaktischen Tendenzen von der Fachliteratur so ausgiebig Gebrauch machte, während das Barockzeitalter seine Zeitkritik und seine satirischen Absichten in anderen literarischen Formen zum Ausdruck brachte.
The History and Fables of Aesop. Translated and printed by William Caxton. 1484.
Eine eindeutige und wohl vorläufig letzte Hochblüte erlebte die Fabel im 18. Jahrhundert. Die Befreiung von der feudalherrschaftlichen Gesellschaftsordnung, sowie die geistige, soziale und politische Aufklärung, die zur Französischen Revolution führte, muss als Hintergrund für den Aufschwung der Fabel in dieser Epoche gesehen werden. Während La Fontaine deutlich Einfluss auf die Mehrheit der deutschen Fabeldichter wie Gellert, Gleim und Hagedorn ausübten, wandte sich Lessing entschieden gegen diese leichte, weitschweifige und ironisch-kritische Erzählweise. Die Fabel muss seines Erachtens epigrammatisch kurz sein.
In den meisten seiner Fabeln führte Lessing die alte Tradition fort, indem er durch Kontamination von zwei bekannten Motiven oder durch Änderung einzelner Requisiten auf vorhandene Fabeln (z.B. Aesops oder Luthers) zurückgriff und so „neue“ Fabeln mit erweitertem oder verändertem Aussagegehalt schaffte.
Dass die Fabel auch im 20. Jahrhundert nicht tot ist, wie oft in der Fachliteratur behauptet wird, beweisen die Fabelsammlungen von Helmut Arntzen, Rudolf Kirsten, Wolfdietrich Schnurre, James Thurber u.a. Ein auffälliges Merkmal der modernen Fabel ist die „Verbindung zwischen Tradition und Ironisierung und Infragestellung dieser Tradition“ (4), die besonders bei Helmut Arntzen deutlich wird. Während die Fabeln Rudolf Kirstens noch am ehesten die Tradition von Aesop und Lessing fortführen, stehen die Fabeln Wolfdietrich Schnurres, in denen es u.a. um „das braune Fell“, um die unbewältigte Vergangenheit, um die Schuldfrage und um „die Möglichkeit, die Farbe genügend oft zu wechseln“ geht, vielfach in der Nähe des Aphorismus.
Die „75 Fabeln für Zeitgenossen“ von James Thurber, in denen der Dichter mit humorvoll-gewürzter Moral typische Schwächen der modernen Gesellschaft und des Menschen aufzeigt, tendieren eher zur Satire und Ironie.
Da die Fabel einen konkreten Wirklichkeitsbezug hat und diese Wirklichkeit ins „Fabelhafte“ übertragen wird, muss zum Verständnis der Fabel zwischen einem BILDTEIL und einem SACHTEIL unterschieden werden. Während uns der Bildteil mit der Fabel selbst vorgegeben wird, sind wir bezüglich des Sachteils auf die Entschlüsselung der in der Fabel zugrunde liegenden Begebenheit angewiesen. Der ursprüngliche „Sitz im Leben“ einer Fabel (das ist die konkrete ursprüngliche Situation, in der die Fabel entstanden ist) ist nur in den wenigsten Fällen bekannt, weil er nicht überliefert wurde. Oft soll der fehlende Sachteil daher durch ein sogenanntes Promythion oder Epimythion, d. h. durch einen Merk- oder Lehrsatz, den man der Fabel im Zuge der Überlieferung vor- oder nachgestellt hat, ersetzt werden. Dieses Pro- oder Epimythion, d. h. der mit „Lehre“, „Moral“, „Merke“ oder ähnlich eingeleitete Spruch, kann helfen, die Aussageabsicht der Fabel leichter zu erschließen. Allerdings nimmt ein Pro- oder Epimythion dem Leser einen wesentlichen Reiz der Fabel: nämlich den der eigenen Überlegung und Erschließung des Gehalts und der Intention. Das bedeutet, dass dieser Zusatz dem Leser die eigene gedankliche Arbeit, die Reflexion und die Suche nach dem Wirklichkeitsbezug, der bei jedem Leser aufgrund unterschiedlicher Erfahrungshorizonte durchaus ein anderer sein kann, weitestgehend vorwegnimmt. Ein Pro- oder Epimythion ist also eher überflüssig, da eine Fabel so beschaffen sein muss, dass der Leser die enthaltene Lehre mühelos entdecken und auf seine Realität beziehen kann.
Zusammengestellt aus Materialien von www.udoklinger.de
Phaedrus fasst seine Fabeln knapp und klar; die Handlung strebt zielsicher auf Schluss und Epimythion zu. Bei aller Anmut im Detail ist die Sprache streng auf den Zweck der Fabel gerichtet. Vielleicht stammt die Forderung nach Konzentration aus der Rhetorenschule (dort übte man auch die Änderung von Fabeln durch Einführung anderer Handlungsträger u. ä.), doch scheint sie dem Dichter besonders zu entsprechen. Die Sprache entspricht der gebildeten Umgangssprache der Zeit, wozu auch der Gebrauch griechischer Fremdwörter gehört.
Dem Schmuck der Sprache dienen Alliteration und reimartige Fügungen, der Deutlichkeit die Neigung, den wichtigsten Begriff an den Versbeginn zu setzen. Substantiv und Adjektiv werden nicht selten getrennt. Phaedrus verwendet häufig Zitate und geformtes Gut aus anderen Dichtern, so aus Ennius, Vergil, Horaz und Publilius Syrus. Als Vers wählt er den etwas veralteten volkstümlichen Senar, den er nach Art der alten Szeniker (jedoch strenger) baut, womit er sich an die Mimendichter anschließt, die ihm auch sonst verwandt sind. Sonst war der Senar in der Dichtung durch den griechisch gebauten Trimeter abgelöst. Überall im Vers mit Ausnahme der letzten Silbe sind Spondeen und Jamben gemischt. Im fünften Fuße überwiegt der Spondeus. Überall auch kann man den Anapäst an Stelle des Spondeus setzen. Im Trimeter müssen der dritte und siebente Halbfuß aus kurzen Silben bestehen, während sie im Senar aus einer Länge oder zwei Kürzen bestehen können.
Die älteste erhaltene Handschriften stammt von einer Kopie älterer Handschriften ab, bei denen Blattverluste und Umstellungen von Blättern angenommen werden. Diese Haupthandschrift ist im 9. Jahrhundert in Karolingischen Minuskeln geschrieben; die Editio Princeps des Phaedrus von Pierre Pithou (1539-96) im Jahre 1596 beruht auf ihr. Nach Pithou heißt sie P = Pithoeanus. Heute ist die Handschrift in der Pierpont Morgan Library in New York (M. S. 906). P überliefert auch (neben R) die Titel der Fabeln, doch ist schwer zu sagen, ob diese von Phaedrus selbst stammen. Die Handschrift P bietet nicht alle überlieferten Fabeln, wie überhaupt keine Handschrift des Phaedrus den Text vollständig enthält. Weiter kennt man eine Handschrift R, die 1608 in Reims entdeckt wurde (R = Remensis); sie verbrannte im Jahre 1774, doch sind mehrere Teil-Collationen erhalten (von Nicolaus Rigalt u. a.). R war P sehr ähnlich und stammt vermutlich aus der gleichen Quelle. Einen Teil der Fabeln (8) enthält auch die Handschrift D (Charta Danielis), einst im Besitz von Pierre Daniel (etwa 1530 bis 1603). Sie stammt aus dem Kloster von Fleury und wurde im 9. oder 10. Jahrhundert geschrieben. Heute liegt sie als Cod. Reg. Lat. 1616 im Vatikan. Sie enthält die Fabeln 1,11-13; 17-21.21.
Die erste Ausgabe stammte von P. Pithou (Troyes 1596) und stellte eine hervorragende Leistung dar. Es folgten die Ausgaben von Ritterhausen (Leiden 1598), N. Rigault (Paris 1599), E. Nevelet (Frankfurt 1610), A. Pagenstecher (Duisburg 1662), P. Burmann (Amsterdam 1698), R. Bentley (Cambridge 1726; auch im Anhang zu seinem Terentius, Amsterdam 1727 und in einer Ausgabe mit Anmerkungen Bentleys, hrsg. von F. H. Bothe, Leipzig 1803). Im Jahre 1675 erschien eine Ausgabe »in usum Delphini« von P. Danet. Das steigende Interesse an Phaedrus mögen folgende Zahlen zeigen: Zwischen 1600 und 1650 erschienen rund 10 Ausgaben, zwischen 1650 und 1700 rund 30, während es zwischen 1700 und 1750 rund 100 waren. Hier zeigt sich der Sinn des 18. Jahrhunderts für lehrhafte Dichtung. Im 19. Jahrhundert erschienen weitere wissenschaftliche Ausgaben.
Corrozet 1542
Nach: Phaedrus: Liber Fabularum Fabelbuch. Lateinisch und deutsch. Übersetzt von Friedrich Fr. Rückert und Otto Schönberger. Herausgegeben und erläutert von Otto Schönberger. Stuttgart 1975 (Reclam Universal-Bibliothek 1144).
Zu den Abbildungen:
Theodor Storm in „Meine Gedichte“, Storm-Archiv Husum
Husumer Gelehrtenschule, um 1870 abgebrochen; Zeichnung von Jan Hamkens (um 1900); Hermann-Tast-Schule, Schularchiv
Phaedri, Augusti Caesaris liberti, Fabularum libri quinque;[...] In lucem editi a Johanne Laurentio. Amsterdami 1667. (Exemplar in der Husumer Schuklbibliothek)
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