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17.02.2008
Theodor Storms erster Prosatext aus dem Jahre 1835

Erste Prosatexte aus der Feder des Dichters

1. Theodor Storms erster Prosatext aus dem Jahre 1835. Von Gerd Eversberg herausgegeben und kommentiert.

2. Drei Kinderbriefe

1. Am 30. April 1835 konnten die Abonnenten des in Friedrichstadt erscheinenden „Ditmarser und Eiderstedter Boten“ folgende Schilderung lesen:

Etwas über die Süderstapler Marktnacht vom 22. April d.J.

Schon hatten die rüstigen Treiber die Wege und Plätze des Dorfes von der lebendigen Waare befreit und die Inhaber der Krambuden packten eifrig redend ihre angepriesenen Siebensachen zusammen, als ich mit einigen meiner Freunde das Haus verließ, um den letzten Akt dieses für die Landleute so interessanten Tages mitzumachen. Hie und da producirten bei den Honoratioren des Dorfes hochfrisirte Harfenspielerinnen ihre ausgesungene Stimme, in allen Kneipen kratzten die Bierfiedler den entzückten Bauern zum Tanze die Ohren voll und der Wirth strich sich selbstgefällig den Bart, wenn er von den jubelnden Gästen das Lob seiner wilden Musik erschallen hörte. Wir gingen sogleich in das erste beste Haus und drängten uns mit in den Schwarm der gaffenden Bauern, welche in gedrängtem Kreise die Tanzenden umstanden, die auf der Diele den wirbelnden Staub wölkten und durch ihre originellen und geräuschvollen Wendungen unsern Ohren und Augen Unterhaltung gewährten, während andre sich zechend und singend in der Schenkstube unterhielten. Im Hintergrunde des Tanzsalons war ein Gerüste für die Musikanten aufgeschlagen, an den Seiten saßen und standen die tanzlustigen Dirnen, vorne befand sich die junge Mannschaft; von einem Balken herab hing der Kronleuchter, der aus zwei kreuzweis über einander befestigten Stöcken bestand, von deren Enden vier nicht gar zu dicke Talglichter ihre Strahlen herabsandten, die der aufmerksame Wirth von Zeit zu Zeit mit den Fingern schneuzte. Nachdem die jungen Bursche eine geraume Zeit schon sich des Jubelns und Springens erfreut hatten, sagte man uns, nun ginge es an's Weinen, und auf die erbetne Erklärung erhielten wir zu Antwort, es sei da im Dorfe so der Brauch, einmal vom Tanzen abzubrechen und sich mit einer Schönen in ein anstoßendes Zimmer zu verfügen, wo man mit seiner Donna singe, scherze und weine, d. h. Wein trinke. Der Spaß mußte mitgemacht werden. Wir zogen demnächst einige handfeste Stapelholmerinnen halb mit Gutem <Zureden>, halb mit Gewalt in das mysteriöse Zimmer, von denen jedoch Einige bei den lockern Stadtleuten für ihren Ruf zu fürchten schienen, Andre aber mit großer Resignation sich in ihr Schicksal ergaben und ruhig unsern Wein und unsre Küsse hinnahmen, ja sogar mit lauter Stimme unsre Gesundheit ausbrachten – und die Bauern schmetterten die Gläser zusammen und reichten uns die Hände. – „Nichts für ungut, mein Herr“, raunte meinem Freunde der Aufwärter ins Ohr, „sie küssen hier die Mädchen und lassen sie mit trockenem Munde sitzen!“ ...

Hast Recht, Peter, 2 Bouteillen Wein! – und mein Freund hatte keine Störung weiter zu befürchten.

Wir gingen wieder auf die Diele hinaus. Wer einmal geweint hatte, genirte sich nun auch nicht, vor hunderten von Zuschauern sein Mädchen zu herzen, und so wurde denn getanzt und geküßt bis 4 Uhr und dann ein Punktum gesetzt, um am andern Morgen die Fortsetzung zu liefern. Uebrigens lassen die Musikanten sich ihr Spiel nur am Hauptmarkttage bezahlen, am Tage vor und nach diesem hat man den Tanz gratis.

Unter den Mädchen, die das Fest verschönten, sah man nur sehr wenige, die eigentlich für hübsch hätten gelten können, doch auch fast kein häßliches Gesicht. Die Männer schienen mir sehr friedfertig; es wurden die ganze Nacht hindurch keine Streitreden gehört und man möchte wohl in Zweifel sein, ob man den Grund davon in den schlechten Zeiten und in der Kraft- und Muthlosigkeit der Menschen, oder in den verfeinerten Sitten unseres Zeitalters suchen solle, oder ob eben die vorgerückte Cultur die Sitten zwar verfeinere, dadurch aber die moralische und physische Kraft des Menschen zu Boden drücke. – Unsern Vorfahren galt kein Fest etwas, wobei es nicht wenigstens derbe Schläge, ja sogar Mord und Todschlag gesetzt hatte, weßhalb sie auch immer bei solchen Gelegenheiten ihr Todtenzeug mit sich zu führen pflegten, um im Fall der Noth nicht ungeschmückt ins Grab zu sinken. St...

Nur wenigen Lesern war bekannt, dass sich hinter dem Kürzel „St...“ der erst 17jährige Sohn des renommierten Advocaten Casimir Storm verbarg, Spross der bedeutenden Kaufmannsfamilie Woldsen und Primaner der altehrwürdigen Husumer Gelehrtenschule.

Von dieser Schilderung muss sich ein gewisser Peter Meyer beleidigt gefühlt haben, denn nur vierzehn Tage später veröffentlichte das Blatt unter der Überschrift „Expectorationen“ einige „Herzensergießungen“, in denen Meyer durch sein witziges Wortspiel mit dem „Sturm“ unmissverständlich auf den Urheber verweist.

„In der 18ten Botenreise, Sp. 284, ist von einem gewissen St... die diesjährige Süderstapler Jahrmarktsnacht, vom 22ten April, die er angeblich mit einigen bacchanalischen Freunden aus der Stadt in einer Kneipe, wo die Bierfiedler auf einem Gerüste (Orchester) sitzend den entzückten Bauern zum Tanze die Ohren voll kratzten, in dulci jubilo verlebt wissen will, dem lesenden Publico auf eine picante Art zur Belustigung gegeben worden, daß Unterzeichneter, der sich besonders dadurch compromittirt fühlen muß, nicht umhin kann, dem unter der Maske der Anonymität sich hinterlistig versteckten Babillard und seinen sarkastischen Aeußerungen mit einigen Worten zu begegnen.

Wenn St...., den wir von jetzt an, da wir seinen wahren Namen nicht wissen, lieber unter der Benennung „Sturm“ uns denken wollen, weil wir in seinem famösen Aufsatze überall den sturmähnlichen Wind deutlich genug vernehmen, ohne gerade zu wissen, von wannen er kömmt, und wohin er fährt, im Eingange seiner Aufschneiderey die Bemerkung gemacht haben will, daß der Wirth - auf mich hindeutend - sich allemal selbstgefällig den Bart strich, wenn er von den jubelnden Gästen das Lob seiner wilden Musik erschallen hörte; so ist dies von ihm eine irrige vorgefaßte Meinung, die dahin zu berichtigen ist, daß der Wirth sich nur dann den Bart strich, und sich des Lachens und einer geheimen Schadenfreude nicht erwehren konnte, wenn der, seiner sauberen Gesellschaft incorporirte, lange St... in seinem höchst bacchantischen Zustande und in cannibalischer Wildheit mit seiner erkiesenen Dulcinea zu wiederholten Malen sich tanzend zu Boden streckte und im Uebermaaße der Freude seine Großmutter (die Erde) küßte.“ […]

In diesem Ton geht es noch einige Spalten weiter. Am Schluss seiner wütenden Ausführungen, droht Meyer den jungen Besuchern aus Husum sogar Prügel an, sollten sie sich noch einmal auf dem Tanzboden einer Gastwirtschaft in Süderstapel sehen lassen.

Diese beiden Dokumente werfen einige interessante Schlaglichter auf einen Zeitraum im Leben Theodor Storms, über den wir bisher recht wenig wissen. Der am 14. September 1817 geborene Hans Theodor Woldsen Storm (der Name Woldsen war in der mütterlichen Linie ausgestorben) besuchte seit Ostern 1826 die Gelehrtenschule seiner Vaterstadt, bis er im Herbst 1835 für eineinhalbes Jahr an das Katharineum der Hansestadt Lübeck wechselte. Erste Schreibexperimente lassen sich bis 1833 zurückverfolgen, sind aber von der Storm-Forschung bis vor kurzem nicht in der ihnen gebührenden Weise gewürdigt worden. Überraschend an Storms Text ist Frische der Schilderung und die sprachliche Qualität. Es gelingt dem Verfasser, das bunte Treiben des ländlichen Frühjahrsmarktes mit wenigen Sätzen anschaulich zu skizzieren und die besondere Situation des Abends mit dem Höhepunkt der pikanten Tänze eindringlich wiederzugeben. Dabei setzt er seine Mittel mit erstaunlicher Sicherheit ein und führt den Leser mitten in das volle Menschenleben hinein; in einem schnellen Blick über den Markttag, der gerade zuende geht, wird Wesentliches angedeutet, der Viehmarkt, der Krammarkt sowie das unterhaltende Element der Gaukler und Künstler, um dann das Treiben in einem der vielen Wirtshäuser zu skizzieren. Auch hier folgt einer knappen Situationsschilderung die konzentrierte Andeutung des eigentlich Interessanten, des „Weinens“, eines Brauchs, den die jungen Männer aus der Stadt weidlich für ihre Unterhaltung nutzen, bis 4 Uhr, wie es im Text heißt. Storm schließt diese Dokumentation des ländlichen Brauchtums mit Überlegungen zur Friedfertigkeit der Dorfbewohner sowie mit einer kulturhistorischen Anmerkung und empfiehlt sich seinen Lesern als Kenner der regionalen Kulturgeschichte.

Wüsste er nichts über das Alter des Verfassers, würde der Leser ihn für bedeutend reifer halten, als er dies bei einem 17jährigen Lateinschüler vermuten könnte; einige Elemente der Schilderung, so auch der unvermittelte Gebrauch der wörtlichen Rede, verweisen auf stilistische Mittel, die der Erzähler Storm erst mehr als ein Jahrzehnt nach diesen Ereignissen entfalten wird. Gelernt hat er das Schreiben im Unterricht an der Husumer Gelehrtenschule. Im Deutschunterricht wurde, wie die Schulprogramme ausweisen, nach Johann Christoph August Heyse’s deutsche Schulgrammatik oder kurzgefaßtes Lehrbuch der deutschen Sprache mit Beispielen und Übungsaufgaben (Kiel 1828) gearbeitet; es enthält ein Kapitel „Satzgefüge und Satzfolge“, in dem vielfältige Hinweise auf die Gestaltung von Reden und schriftlichen Ausarbeitungen gegeben werden. Neben den Arten der Satzgefüge wird ihre rhetorisch geschickte Verknüpfung zu Satzperioden gelehrt und durch Musterbeispiele veranschaulicht. Dabei legt der Verfasser großen Wert auf rhetorische Vollendung und rhythmische Gliederung der Konstruktionen. Eine Satzperiode, deren Teile einander grammatisch, logisch und rhythmisch wie die Glieder eines Organismus bedingen, ist nach Heyse die sprachliche Voraussetzung der Dichtung. Sie überzeugt nur dann, wenn ein Gedanke sie fest umspannt und wenn die Neben- und Unterordnungen ein zuverlässiges Abbild der durchdachten und in sich geordneten Ausschnitte aus einer geistigen Welt entwerfen. Die in der Schule nach Dispositionen ausgeführten Aufsätze wurden nach diesen Mustern angelegt; dabei galt es, vom Lehrer gewählte Themen zu erörtern. So ist es durchaus wahrscheinlich, dass wir Storms erste Prosa-Veröffentlichung einem Schulaufsatz verdanken.

Die Landschaft Stapelholm, westlich von Schleswig zwischen den drei Flüssen Eider und ihren Nebenflüssen Treene und Sorge, liegt wie eine Insel auf einem Geestrücken inmitten eines ausgedehnten Marschbereichs, in der Treene-Sorge-Niederung. Das Dorf Süderstapel wurde 1260 erstmals erwähnt, war Gerichtsstätte und entwickelte sich in der frühen Neuzeit zum Wirtschafts- und Verwaltungszentrum der Region. Das Dorf am hohen Eiderufer war Sitz des Landvogts und wurde bis ins 20. Jahrhundert hinein vor allem durch die Landwirtschaft geprägt. Einer alten Chronik zufolge veranstaltete das Dorf bereits im späten Mittelalter einen weithin bekannten Jahrmarkt, der erst durch das Aufblühen des Husumer Marktes an Bedeutung verlor. Mitte des 17. Jahrhunderts wurde das Marktrecht erneuert. Damals fand er dreimal jährlich statt und dauerte jeweils vier Tage. Seit 1758 hören wir nur noch von zwei Märkten, auf denen im Frühjahr und Herbst jeweils Kramwaren, Vieh und Pferde feilgeboten wurden. Die Tradition des Stapeler Marktes, wie er kurz hieß, wurde bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts fortgesetzt. Im 18. und 19. Jahrhundert hatten Vieh- und Krammarkt überregionale Bedeutung; sie fanden um Ostern und zu Michaelis (29. September) jeweils von Freitag bis Sonntag statt. In der Mühlenstraße, die sich in einer Biegung platzartig erweitert, wurden Pfähle in die Erde gerammt, an denen die Bauern ihr Vieh anbinden konnten. Dorf auswärts schloss sich ein Pferdemarkt an. Große Attraktion für Jung und Alt war der Krammarkt, der sich von der Kirche bis zur Landschreiberei und entgegengesetzt bis zur Bürgerglocke erstreckte und dort unmittelbar an den Viehmarkt anschloss. Vor allem Frauen und Kinder ließen sich von den Buden und den zwischen ihnen auftretenden Gauklern anlocken. Es gab Karussells und Schießbuden, ein Kasperletheater, Orgelspieler, Degenschlucker, Zauberer und andere Schausteller. Ein zeitgenössischer Augenzeuge berichtet:

„Auf dem Krammarkt war alles zu haben, was das Herz begehrte, und mancher stellte für das ganze Jahr die Einkäufe zurück, um auf dem Stapeler Markt zu kaufen. Man fand hier von den ordinärsten Galanteriewaren bis zu den besten Gold- und Silbersachen, von den schweren Reiterstiefeln bis zu den schönsten Tanzschuhen, weiter alle Erzeugnisse der Holzfabrikation, Seilerwaren, Pfeifenartikel, Spielwaren usw. Bemerkenswert ist noch der Umstand, daß alle Schuhwarenhändler die ganze Straße nach der Landschreiberei in doppelter Reihe besetzt hielten.“

In einem Bericht der Gemeinde Süderstapel über ihren Markt vom 6. März 1871, als es galt, sich der Konkurrenz anderer Gemeinden zu erwehren, die ebenfalls Marktrechte anstrebten, heißt es:

„Von besonderer Wichtigkeit ist der Herbstmarkt, die Zahl der Besucher dieses Marktes muß nach tausenden geschätzt werden. Die Verbindung des Krammarktes mit dem Vieh- und Pferdemarkt erweist sich gerade so nützlich. An Kramwaren werden eben die Gegenstände feil geboten, die in ländlichen Haushaltungen gebraucht werden. Es fehlt fast keine Waare, welche Landleute gebrauchen. Der Handel in Kramwaaren ist sehr bedeutend, wofür die Thatsache zeugt, daß 150 bis 200 Krambuden aufgestellt werden.

Die vielen Gäste kamen zum Teil von weit her, manche aus anderen deutschen Provinzen; man sah Händler aus Hannover, Sachsen, Preußen und Russisch-Polen. Das Dorf besaß eine Reihe von Gastwirtschaften und zusätzlich hatten die Anlieger der Marktstraßen das Schankrecht. Abends traf man sich in den Wirtschaften zum Tanz.“

In einem im Jahre 1800 gedruckten regionalen Wörterbuch, dem Holsteinischen Idiotikon, finden wir unter dem Stichwort „Dütjendans“: „In der Probstei Preez ist z.B. allgemeiner Brauch und Sitte, daß, wenn auf Landhochzeiten oder bei andern Gelegenheiten ein Tanz angestellt wird, nach dessen Ende die tanzende Mannsperson seiner Tänzerin einen Kuß zu geben verbunden ist. Dies heißt man den Dütjendans. Thut man es nicht, so ist das ein Zeichen der Verachtung, und kann leicht statt eines Kusses Schläge erhalten. Für diesen Tanz wird an die Spielleute ein Schilling mehr als für die übrigen Tänze gezahlt.“ Ganz offensichtlich ist Storm also Zeuge eines dithmarscher Dütjendanzes gewesen („Dütjen heißt in Ditm. Küssen“), von dessen Existenz in Stapelholm wir nur durch seine Schilderung Kunde haben.

Es wundert nicht, dass den Musikus ausgerechnet der Hinweis auf das in Süderstapel nicht zu zahlende Extra-Geld für die Spielleute auf die Palme gebracht hat, denn Peter Meyer konnte sich durch die Bezeichnung „Bierfiedler“, der „in allen Kneipen [..] den entzückten Bauern zum Tanze die Ohren voll“ kratzte, in der Tat beleidigt fühlen. Storms Opponent besaß zwei Bauernhäuser in Süderstapel und war „Musikpächter“, hatte also die amtliche Genehmigung, zum Tanz aufzuspielen. Aus seinem Artikel lässt sich auch schließen, dass er während des Marktes jenes Wirtshaus betrieb, in dem die von Storm beschriebenen Ereignisse stattfanden. Dass Storm einen solchen Mann nun mit „Bierfiedler“ tituliert hat, kommt nicht von ungefähr. In Schützes Holsteinischem Idiotikon fand er unter dem Stichwort „Kroogfiddeler“ folgende Erklärung: „Bierfiedler, Krugsspielmann.“ Und Schütze druckt an dieser Stelle eine Spottgedicht über „Sprachmengerei und Titelsucht“ ab:

Een Capplan let sik nömen Pastoor,
een Quaksalver will heten Doktor,
een Timmerknecht ward Buwmester genannd,
een Krogsfiddeler ys Musicant,
een Rottenfanger ys Kammerjäger - -

Wen wundert es da noch, dass der so herabgesetzte Peter Meyer, der 1835 bereits sein 57. Lebensjahr vollendet hatte, seine wütenden „Herzensergießungen“ mit der Anerkennung heischenden Floskel „concess. Musicus“ unterzeichnet hat?

Die geharnischte Standpauke mag wegen des unziemlichen Verhaltens des betrunkenen Pennälerhaufens verdient sein, die Kritik wird allerdings der literarischen Arbeit des angegriffenen Verfassers nicht gerecht. Dieser beweist nämlich zum Schluss seines Artikels, dass er seine punktuellen Beobachtungen, die er allerdings mit erstaunlichem handwerklichen Geschick zu einer über das einmalige Ereignis hinausweisenden Darstellung verdichten kann, mit einer besonderen kulturhistorischen Betrachtung zu würzen in der Lage ist. Seiner Erwähnung der friedfertigen Bauern in jener Nacht fügt er nämlich eine Betrachtung über unrühmliche Bräuche der Landbevölkerung hinzu, die ihm aus vielerlei Erzählungen und vielleicht auch mittelbaren Erfahrungen vertraut gewesen sein müssen. Besonders zwischen den Dorfbewohnern nördlich und südlich der Eider führten Rivalitäten bis ins 20. Jahrhundert hinein häufig zu handfesten Auseinandersetzungen, die nicht selten in Messerstechereien ausarteten. Dass dies im 17. und 18. Jahrhundert weitaus schlimmere Ausmaße gehabt haben muss und sogar zu Fällen von Totschlag geführt hat, war ihm aus einer seiner damaligen Lektüren vertraut, die er für die zunächst haarsträubend anmutende Schlusspassage seines Artikels verwendete, in der er von einem seltsamen Totenbrauch berichtet. Er fand eine Beschreibung dieses Brauchs in Schützes Holsteinischem Idiotikon, wo es unter dem Stichwort „Dod“ heißt:

„Die alten Ditmarsen nahmen gewöhnlich, wenn sie zu Hochzeiten fuhren, ihr Dodentüg: Todtenzeug=Hemde, auf den Tod- und Nothfall mit, da es selten bei diesen Lust- und Saufgelagen ohne Streit, Schläge und Todte abgieng. Gleichgültig fragte man oft: wer is dodslagen? am Ende der Hochzeitfeste. (So lautet Tradition u. a. Kroniken.) Fragte einer den andern: wie gieng es bei der Hochzeit zu, so hieß es: dat Beer dög nig, dar is nüms dodslagen, et hefft sik man acht prügelt u.s.f.“

Jetzt können wir auch ein Gedicht besser verstehen, das der Storm-Forschung einige bisher nicht lösbare Rätsel aufgab. Als 1861 im Berliner Verlag Schindler ein Band mit drei Novellen erschien, veranlasste Storm, der zu diesem Zeitpunkt in Heiligenstadt lebte und bereits ein bekannter Autor war, dass einigen Exemplaren ein Gedicht vorangestellt wurde, mit dem er das Buch seinem Vetter Fritz Stuhr widmete:

Als der wackre Schulmeister zu Stapel einst
Kritisiert meine erste Prosa,
Da fiel auf dich, den Unschuldigen, auch
Ein Rutenhieb sub rosa.

Doch wir reiten nicht mehr auf den Jahrmarkt jetzt,
Wie wir in der Jugend taten.
Und ich werde nicht mehr ein idyllisches Glück
Im Dithmarscher Boten verraten.

Es ist vielleicht eine letzte Frucht,
Doch nimmer die erste Blüte,
Was ich aus altem Herzensdrang
In den wenigen Blättern dir biete.

Auch findet es schwerlich seinen Weg
In des Dorfschulmeisters Klause;
Man kennt hier außen mich besser jetzt,
Als, leider Gottes, zu Hause.

Wieso Storm den Musikus rückblickend als „Schulmeister“ tituliert, bleibt unklar. Einen gleichnamigen Lehrer hat es weder in Stapelholm noch im Herzogtum Schleswig in den 1830er Jahren gegeben. Vielleicht hat Storm den Begriff auch metaphorisch verwendet, weil er sich durch Meyers „Expectorationen“ geschulmeistert fühlte. Mit dem „Rutenhieb sub rosa“ ist die verdeckte Kritik gemeint, die Meyer an dem Verhalten von Storms Freund übt, der vergessen hatte, dem Kellner ein angemessenes Trinkgeld für den herbeigeschafften Imbiss zu geben. Storms Klage über die mangelhafte Bekanntheit seiner Dichtungen in seiner schleswig-holsteinischen Heimat ist eine Kritik an der Politik im Königreich Dänemark zu dieser Zeit, die in einer radikalen Dänisierung bestand und sehr viel Unmut bei der deutschsprachigen Bevölkerung erregte. Storm war aus politischen Gründen Anfang 1853 mit seiner Familie nach Potsdam gezogen, um im preußischen Exil eine neue Existenz aufzubauen. Nach einem Volontariat am Potsdamer Amtsgericht bekleidete er zwischen 1856 und 1864 das Amt eines Richters am Amtsgericht Heiligenstadt (Eichsfeld). Um 1860 war er im ganzen deutschen Sprachraum als Schriftsteller bekannt und als Poet anerkannt.

Mit dem aus Friedrichstadt stammenden Fritz Stuhr, dem Sohn der Schwester seiner Mutter, verband den Dichter aus Husum eine tiefe Freundschaft, die bereits während der gemeinsamen Schulzeit in Husum begonnen hatte. Der um einige Jahre ältere Freund hatte aber bereits 1833 die Gelehrtenschule verlassen und musste nach einer Handelslehre in Altona nach dem plötzlichen Tod seines Vaters 1834 die Geschäfte der Familie in Friedrichstadt übernehmen.

Ob Storm mit seinen Freunden von Husum nach Süderstapel geritten ist, oder ob es sich bei dieser Formulierung im Widmungsgedicht nur um eine poetische Umschreibung einer profanen Kutschfahrt handelt, wissen wir nicht. Vorstellbar ist es schon, dass die Herren Primaner aus dem ca. 25 km entfernten Husum auf dem hohen Ross in das Treenedorf gekommen sind, zumindest muss ihr Auftritt dort provozierend gewirkt haben, wie wir dem zum Teil recht aggressiven Ton des musizierenden Wirts entnehmen können.

Bereits eine Woche nach der Veröffentlichung Storms wurde in der 19. Botenreise folgende Erklärung abgedruckt:

„Die Redaction des Boten erklärt hiedurch auf Verlangen, daß der Aufsatz in der vorigen Reise: „Etwas über die Süderstapeler Marktnacht“, nicht von dem Herrn Stuhr in Friedrichstadt stammt.“

Daraus können wir schließen, dass die Familie Stuhr durch die anonyme Jahrmarkts-Schilderung einigermaßen beunruhig war, denn der „Ditmarser und Eiderstedter Bote“ wurde in Friedrichstadt gedruckt und als einziges regionales Wochenblatt in der Kleinstadt auch genau gelesen. Fritz war zwar erst 22 Jahre alt, aber er hatte nach dem frühen Tod seines Vaters gerade die Leitung der Firma seiner Familie übernommen, und die von Storm geschilderte Frivolität passte nicht ins Bild eines bürgerlichen Kaufmanns, dessen Vater öffentliche Ämter in der Stadt an der Treene bekleidet hatte.

Bildunterschriften

„Etwas über die Süderstapler Marktnacht vom 22. April d.J.“: Ditmarser und Eiderstedter Bote Nr. 18 vom 30.4. 1835, Sp. 284f.

„Expectorationen“: Ditmarser und Eiderstedter Bote Nr. 20 vom 14.5.1835, Sp. 316-318.

Alle Abbildungen des Ditmarser und Eiderstedter Boten: Stadtarchiv Friedrichstadt

Johann Christoph August Heyse’s deutsche Schulgrammatik. Kiel 1828. (Bibliothek der Hermann-Tast-Schule Husum)

Schütze: Holsteinisches Idiotikon. Dritter Theil, Hamburg 1803. (Bibliothek der Hermann-Tast-Schule Husum)

Süderst1: Süderstapeler Tracht; Zeichnung auf einer Kachel, um 1800 (Storm-Archiv Husum)

Süderst2: Süderstapel 1822, Karte von Buhmann (Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel)

Süderst3: Ansicht von Süderstapel um 1890. (Foto: Arno Vorpahl, Süderstapel)

Süderst4: Viehmarkt um 1970. (Foto: Arno Vorpahl, Süderstapel)

Süderst5: Trachtengruppe auf dem Heimatfest 1927. (Foto: Arno Vorpahl, Süderstapel)

2. Drei Kinderbriefe von Theodor Storm. Gerd Eversberg

Theodor Storm gilt als einer der bedeutenden Briefschreiber des 19. Jahrhunderts. Im Husumer Storm-Archiv werden – als Original oder in Kopie – mehrere tausend Briefe aufbewahrt. Neben den geschäftlichen Korrespondenzen gibt es herausragende Briefwechsel mit Dichterkollegen und Freunden sowie eine Fülle von Familienbriefen, die drei Generationen umfassen. Aber auch der erfahrene Briefschreiber muss einmal bescheiden anfangen. Bisher waren nur wenige Briefe aus Storms Jugendzeit bekannt; jetzt sind drei Briefe aufgetaucht, die Storm bereits als Knabe verfasst hat.

Schon in der Familie hat es Schreibanlässe für Storm gegeben, die über bloße Übungen in der Schule hinausgingen. In der bürgerlichen Familie des 18. Jahrhunderts hatte sich eine Briefkultur entwickelt, die das schriftliche Gespräch kultivierte und ihm neue Funktionen im Kontext der Familienbeziehungen zuwies. Kinder schrieben an die Eltern und Großeltern, Studenten legten ihren Vätern Rechenschaft über ihr Studium ab, ausführliche Reiseberichte wurden nach Hause geschickt, Liebende korrespondierten manchmal mehrere Jahre miteinander. Man spricht nicht zu Unrecht von einen „Zeitalter des Briefes“, und es gehört noch in der der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den wichtigsten Aufgaben, die man Kindern nach dem Erlernen der Schreib- und Lesetechnik stellte, formale Briefe an nahe Angehörige zu hohen Festtagen zu verschenken. Das Verhältnis zu den Großeltern hatte ein neue Qualität bekommen; zu ihnen entwickelten die Enkel eine besondere Beziehung, die im Idealfall durch Höflichkeit, Wertschätzung und Aufmerksamkeit von Seiten der jungen und durch liebevolle Zuneigung der älteren Familienmitglieder geprägt war. Die Großeltern strebten im Gegensatz zu Mutter oder Vater eine eher wohlwollende Rolle an und vermittelten eine Atmosphäre der Geborgenheit, in der Elemente der Familientradition an die nächste Generation weitergegeben wurden. Storm zumindest hat dies nach eigenem Bekunden in seiner Familie so erfahren.

Es haben sich in Privatbesitz eine Reihe von Briefen erhalten, die von Theodor und seiner Schwester Helene (geb. 1820) an die Großeltern geschrieben wurden und Auskunft über den Stand der damaligen Schreibkompetenz geben können. Diese bisher unbekannten Briefe befinden sich in einem Album, das Casimir Storm (1865-1918), Sohn von Joannes Storm und Neffe des Dichters, im September 1877 aus alten Familiendokumenten zusammengestellt hat. Sie befinden sich in Privatbesitz und werden hier mit freundlicher Erlaubnis der Eigentümer wiedergegeben.

Storms erster erhaltener Brief wurde zum Jahreswechsel 1826/27 geschrieben. Er war ein Geschenk des 9jährigen Knaben an seiner Urgroßmutter Elsabe Feddersen (1741-1829):

1. Januar 1827

Meiner lieben Aeltermutter gewidmet zum Neuen Jahre 1827

Geliebte Aeltermutter

Mit Vergnügen denk ich wieder an das vergangene Jahr, in welchem Du uns so viele Wohlthaten erzeigt hast. Da ich Dir keinen Gefallen wieder erzeigen kann, so bitte ich daß Gott dir noch in diesem Jahr ein glückliches Leben schenke.

Dein Dich liebender Enkel T. Storm

Husum den 1ten Januar 1827.

Der Brief wurde nach einer Vorlage abgeschrieben und zeigt noch die unsichere Handschrift des Knaben. Dieses Ritual wiederholte sich auch in den folgenden Jahren; die beiden anderen erhaltenen Briefe des jungen Storm sind an seine Großmutter mütterlicherseits Magdalena Woldsen (1766-1854) gerichtet. Zu ihr hatte Storm eine intensivere Beziehung als zu seiner Mutter. Der zweite Brief des nun Zehnjährigen vom Jahreswechsel 1827/28 entspricht inhaltlich im Wesentlichen dem aus dem Vorjahr, weist aber bereits eine lebendigere Sprache auf; Storm besucht nun die Tertia der Gelehrtenschule.

2. 1. Januar 1828

Liebe Großmutter

Ich freue mich daß Du in dem zurückgelegten Jahre noch so gesund und wohl geblieben bist und wünsche, daß Du noch viele Jahre in demselben Zustande bei uns verleben mögest. Empfange denn meinen Dank für die vielen Wohlthaten, die Du uns im vorigen Jahre erwiesen hast; ich kann Dir meinen Dank zwar nicht anders zu erkennen geben als daß ich mich bestrebe Dir immer wohlgefalligend zu seyn.

Husum, den 1ten Jan.

Dein Enkel T. Storm

Ein Jahr später entstand aus gleichem Anlass der dritte Brief; der nun 11jährige Storm unterschreibt erstmals mit seinem vollen Namen, den er auch in den nächsten Jahren führen wird.

3. Dezember 1828

Meiner lieben Großmutter gewidmet zum neuen Jahre 1829

Liebe Großmutter,

Ich sehe mich beim gegenwärtigen Jahreswechsel genöthigt, Dich für alles Gute und für alle Wohlthaten, die du mir im alten Jahre erzeigt hast zu danken. Diese kann ich dir freilich bei weitem nicht wieder erzeigen, aber ich will doch suchen, Dir durch mein Betragen so viel als möglich zu gefallen und immer besser zu werden. Gott möge dich auch noch lange zu unsrer Freude gesund und vergnügt erhalten. Nehme denn diese wenigen Zeilen als Wunsch aus reinem Herzen von

Deinem

gehorsamen Enkel

Hans Theodor Woldsen Storm an.

Die Entwicklung Storms in diesen drei Jahren zeigt, dass die Fähigkeit zum Briefschreiben früh erworben und geübt wurde. Bei der Entfaltung seines stilistischen Vermögens hat natürlich auch die Schule eine wichtige Rolle gespielt. Eltern, die ihre Kinder auf die Gelehrtenschule schicken wollten, vermittelten ihnen die Elementarkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen entweder durch Hauslehrer oder – wie im Falle Theodor Storms – durch den Besuch in einer privaten Schule, die als Winkel-, Neben- oder Klippschule bezeichnet wurde. Über die Zeit vor Storms Eintritt in die Gelehrtenschule seiner Vaterstadt haben wir nur durch seinen Hinweis in der autobiographischen Notiz „Aus der Jugendzeit“ Kenntnis, wo er schreibt: „Mit 4 Jahren kam ich in eine Klippschule, welche von einer alten Hamburger Dame gehalten wurde. Ein widriges Geschick hatte sie zur Kinderlehrerin gemacht. [...]Sie wurde von allen Kindern Mutter Amberg genannt.“

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es in Husum neben der Gelehrtenschule vier Bürgerschulen und eine Armenschule. Die Gelehrtenschule wurde in den Jahren von 1826 bis 1831 von 72 Schülern besucht, danach sank die Schülerzahl auf 56 und schwankte schließlich zwischen 34 (1838) und 45 (1845). Die Bürgerschulen (für Jungen und Mädchen) besuchten in diesem Zeitraum ca. 600 Kinder. Storm wurde Ostern 1826 mit 9 Jahren in die Quarta der Husumer Gelehrtenschule aufgenommen. Sie war als Reformationsgründung eine der humanistischen Bildungsanstalten im Herzogtum Schleswig und konnte 1827 bereits auf eine dreihundertjährige Tradition zurückblicken. Auch im 19. Jahrhundert blieb es Aufgabe der Gelehrtenschulen, junge Menschen auf das Studium an der Landesuniversität Kiel vorbereiteten, auf der man studieren musste, wenn man ein Amt als Arzt, Pastor, Lehrer oder Jurist in den Herzogtümern anstrebte; darüber hinaus vermittelte die Institution dem kaufmännischen Nachwuchs eine humanistische Grundbildung. Nach einem Jahr wechselte der Schuler Theodor Storm in die Tertia, die er wie die Sekunda drei Jahre besuchte, danach war er seit Ostern 1833 Primaner. Insgesamt verbrachte er neuneinhalb Jahre in der Gelehrtenschule seiner Vaterstadt. Seine ersten Briefe entstehen also in der Zeit des Übergangs zur Gelehrtenschule, wo für den fantasiebegabten Knaben der „Ernst des Lebens“ beginnt.

Storm hat den Brief später in einer Weise kultiviert, der für die bürgerliche Lebensart des 19. Jahrhunderts typisch ist; neben seiner Lyrik und Novellistik sind die Briefe das dritte literarische Genre, in dem er Herausragendes geleistet hat.

Zu den Abbildungen:

Briefe aus Privatbesitz; Fotos: Storm-Archiv Husum.

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