Schriften Band 51 (2002)
Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 51, 2002
Mitglieder der Storm-Gesellschaft erhalten die "Schriften" ebenso wie die "Mitteilungen" kostenlos zugeschickt. Sonstige Bestellungen bitte an das Sekretariat der Gesellschaft.
Inhalt
Vorwort
Vorwort |
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Rita Morrien |
Der dunkle „Garten der Vergangenheit“ – historisches Erzählen als Lizenz zur Ausschweifung in den Chroniknovellen Theodor Storms |
David Jackson |
Theodor Storm. Dichter und Humanist. Eine Biografie |
Gerd Eversberg |
Ein modernes Storm-Bild. 50 Bände „Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft“ |
Karl Ernst Laage |
Theodor Storms Bekanntschaft mit Wilhelm Tolberg und seiner Ehefrau Agnes (mit unveröffentlichten Briefen) |
Heinrich Detering |
Kinderpsychologie und Erzählung. Storms „Der kleine Häwelmann“ |
Heinz Rölleke |
„Hans Bär“. Theodor Storms früheste Märchendichtung intertextuell |
Jean Lefebvre |
Von der Identifikation mit Tierbräutigam-Märchen zur autonomen Existenz. Gedanken zu Storms Novelle „Eine Malerarbeit“ |
Thomas Baltensweiler |
Die Aporie in der bürgerlichen Familie. Zur Funktion des Erwerbssinns in „Hans und Heinz Kirch” und „Der Schimmelreiter” |
Peter Goldammer |
Theodor Storm zwischen Philosemitismus und Antisemitismus |
Regina Bouillon |
Blumen im Werk Theodor Storms |
Walter Zimorski |
Das schärfere Auge des Dichters. Ein neu entdecktes Portrait von Theodor Storm |
Gerd Eversberg
Elke Jacobsen |
Stormforschung und Storm-Gesellschaft
Storm-Bibliographie |
Buchbesprechungen
David A. Jackson: Theodor Storm. Dichter und demokratischer Humanist. Eine Biographie. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2001. (Husumer Beiträge zur Storm-Forschung. Bd. 2). (Louis Gerrekens)
Heiner Mückenberger: Theodor Storm – Dichter und Richter. Eine rechtsgeschichtliche Lebensbeschreibung. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2001. (Peter Goldammer)
Klaus Schumacher: Theodor Storms Grab auf St. Jürgen zu Husum. Husum: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft 2001. (Gerd Eversberg)
Josef Groben: Requiem für ein Kind. Trauer und Trost berühmter Eltern. Köln: Dittrich 2001. (Jean Lefebvre)
Andrea Paluch und Robert Habeck: Hauke Haiens Tod. Roman. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2001. (Irmgard Roebling)
Rainer Hillebrandt (Hg.): Franz Kuglers Briefe an Emanuel Geibel. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 2001. (Roland Berbig)
Rolf Selbmann: Gottfried Keller. Romane und Erzählungen. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2001. (Klassiker Lektüren, Bd. 6.) (Jean Lefebvre)
Abbildungsverzeichnis
Hinweise zur Manuskriptgestaltung
Verzeichnis der Mitarbeiter
V o r w o r t
In ihrem Festvortrag hat Rita Morrien die fünf Chroniknovellen Storms„Aquis submersus“ (1876), „Rente“ (1878), „Eekenhof“ (1879), „Zur Chronik von Grieshuus“ (1884) und „Ein Fest auf Haderslevhuus“ (1885) untersucht und sich dem bereits mehrfach erörterten Thema des historischen Erzählens zugewandt; diesmal allerdings unter der Fragestellung, wie sich dieser Teil von Storms historischer Novellistik mit zeitgenössischen Diskursen über die Entstehungs- bzw. Produktionsbedingungen historischen Bewusstseins verbinden lässt. Sie vermittelt dadurch Einblicke in die Abgründigkeit der menschlichen Begehrensstruktur und zeigt, dass die Protagonisten in Storms Novellen weniger als Repräsentanten eines gesellschaftlichen Standes oder einer Epoche gestaltet sind, als vielmehr Menschen repräsentieren, die von Leidenschaften getrieben werden. Durch den Rückgang in die Geschichte kann Storm die tendenziell destruktive Struktur von Familien- und Geschlechterbeziehungen darstellen und sich so mit dem für große Teile seines Schaffens bestimmenden Trauma der Sterblichkeit auseinandersetzen.
Von David Jackson, erstem Träger des Storm-Preises der Stadt Husum, drucken wir die Rede ab, die er anlässlich der Vorstellung seiner Storm-Biografie während der Storm-Tagung 2001 im „Hotel Altes Gymnasium“ gehalten hat. In drei Abschnitten erläutert er die methodischen Grundlagen seiner biografischen Arbeit, seinen Werdegang als Storm-Biograf und die damit verbundenen Forschungen in Archiven des Landes Schleswig-Holstein sowie wichtige Grundzüge des neuen Buches. Dabei wird vor allem deutlich, welche neuen Perspektiven seine Darstellung auf Leben und Werk des Husumer Dichters ermöglichen und inwieweit diese Blickrichtung das bisherige Storm-Bild erweitert bzw. korrigiert.
Es schließt sich ein weiterer Vortrag an, in dem der Sekretär unserer Gesellschaft ebenfalls anlässlich der Storm-Tagung des Jahres 2001 das Erscheinen des 50. Bandes der „Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft“ würdigte. Neben dem Dank an die Mitarbeiter und an den Verlag wird in einem Überblick gezeigt, welchen Themen sich die vielen Mitarbeiter während eines halben Jahrhunderts gewidmet haben und wie die „Schriften“ zu einem bedeutenden Forum der internationalen Storm-Forschung wurden. Gerade die Vielfalt der Themen und ihre Bedeutung für ein zeitgemäßes und wissenschaftlich ausgewiesenes Storm-Bild macht die Stärke des Jahrbuchs unserer Gesellschaft aus.
Unser Präsident informiert über Storms Bekanntschaft mit dem Ehepaar Tolberg während der Heiligenstädter Zeit und setzt zugleich die Tradition der Veröffentlichung kleinerer Briefwechsel in den „Schriften“ fort. Wilhelm Anton Tolberg war „Ökonomiekommissar“ in dem etwa 15 km von Heiligenstadt entfernten Worbis und mit der Auflösung und Entschuldung gutsherrlicher und adeliger Verhältnisse beschäftigt. Zwischen dem kinderlosen Ehepaar und der Familie Storm entwickelte sich eine Freundschaft im Rahmen des Heiligenstädter Bekanntenkreises, die auch nach der Rückkehr der Storms in ihre Heimatstadt Husum und danach bis zu Storms 70. Geburtstag in Hademarschen bestehen blieb. Die wenigen erhaltenen Briefe zeugen erneut von Storms Geselligkeit und seinem Bedürfnis, Bekanntschaften über Jahrzehnte zu pflegen.
Heinrich Detering legt in seinem Beitrag, der eine überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags anlässlich der „Storm-Akademie“ 2001 in Husum darstellt, eine Interpretation des bisher kaum beachteten Märchens „Der kleine Häwelmann“ vor. Diese Arbeit erweitert unsere Kenntnis um drei Aspekte; zunächst zeigt der Verfasser, wie stark sich Storm bei diesem frühen Erzählversuch an den Märchen von Hans Christian Andersen orientiert hat und bestätigt damit die relativ junge Erkenntnis der Storm-Forschung, dass der Husumer Dichter mit vielen Textsorten experimentiert und sich an verschiedenen Vorbildern geschult hat. Darüber hinaus interpretiert er den nur scheinbar anspruchslosen Text Satz für Satz („Close-reading“) und liest ihn als komplexe Darstellung eines Primären Narzissmus und seiner Überwindung. Dabei verwendet er ein von der Psychologie entwickeltes Beschreibungsmodell, das in einer erweiterten Freudschen Narzissmustheorie begründet wird und bereits auf andere literarische Texte angewendet wurde. Schließlich verifiziert Detering seine These, nach der Storms „Kleiner Häwelmann“ über die poetisch-psychologische Darstellung eines elementaren Konfliktpotentials hinaus in einer Art metapoetischen Reflexion die Funktion eines solchen Erzählens selbst thematisiert.
Auch die beiden folgenden Beiträge handeln von Märchen. Heinz Rölleke weist nach, dass Storms früheste Märchendichtung, die Erzählung „Hans Bär“, durch Texte aus der Märchensammlung der Brüder Grimm angeregt wurde. Ein Textvergleich zeigt bei einigen Motiven Ähnlichkeiten zu den Märchen vom „Tapferen Schneiderlein“ und dem „Machandelboom“. Der eigentliche Referenztext von „Hans Bär“ aber ist das Märchen „Der junge Riese“ aus der Zweitauflage der Märchensammlung von 1819, ein Buch, das damit als Quelle Storms nachgewiesen ist. Beachtung verdient auch Röllekes allgemeiner Hinweis am Schluss des Beitrages, nach dem die intertextuellen Beziehungen zwischen Volks- und Kunstmärchen noch nicht hinreichend erforscht sind. Dieser Aspekt zeigt – wie auch schon die Interpretation Deterings –, welche große Bedeutung Vorbilder aus der Literaturtradition für Storms frühe Erzählexperimente hatten.
Jean Lefebvre stellt die Erzählung „Eine Malerarbeit“ in die Tradition der Stormschen Kunstmärchen, von denen sich die Novelle aber durch die Integration eines Märchenmotivs in eine fiktive Realität unterscheidet. Storm wählt das Motiv des Tierbräutigam-Märchens und greift zunächst auf die antike Allegorie von Amor und Psyche zurück, um danach an der Person des Malers Edde Brunken die Tradition des französischen Märchens „La Belle et la Bête“ zu modifizieren. Diese Erzählung dient als Exempel innerhalb einer Rahmenerzählung, in der eine traditionelle Moralposition vertreten wird, die sich an den Prinzipien der Aufklärung orientiert und nach der nur die autonome Existenz des Menschen Garant für ein geglücktes Leben sein kann. Wie komplex die Technik der Rahmenerzählung bei Storm auch in den weniger beachteten Novellen ist, zeigen Hinweise des Verfassers auf das Unverständnis, das die „Plaudergesellschaft“ in der Rahmenhandlung der exemplarischen Lehre der Binnenerzählung entgegenbringt.
Thomas Baltensweiler untersucht die Novellen „Hans und Heinz Kirch” und „Der Schimmelreiter” unter dem Aspekt des Erwerbsinns bürgerlicher Familien des 19. Jahrhunderts. Der Verfasser zeigt, wie Storm dieses Motiv in unkonventioneller Weise gestaltet und immer stärker ins Negative wendet. In beiden analysierten Novellen wird dargestellt, wie Ehen, die auf dem Fundament des Erwerbssinns gegründet werden, eben an dieser bürgerlichen Tugend scheitern. Für Storm spiegelt sich in solcher Erfahrung die Aporie der gesellschaftlichen Wirklichkeit seiner Zeit; seine späte Novellistik erweist sich unter diesem Gesichtspunkt als radikale Gesellschaftskritik.
Storms Verhältnis zu Juden und zum Antisemitismus seiner Zeit wird – nachdem sich Dieter Lohmeier dieser Thematik bereits 1994 (in unseren „Schriften“ Nr. 43) angenommen hatte – noch einmal von Peter Goldammer beleuchtet. Zunächst konstatiert der Verfasser, dass sich Belege sowohl für eine philosemitische als auch für eine antisemitische Position Storms finden lassen, darüber hinaus aber lassen sich keine eindeutigen Quellen benennen, die eine klare Antwort auf die Frage zuließen, welches Verhältnis Storm zum Judentum hatte. Goldammer deutet die bereits bekannten Briefstellen als Ausdruck von Storms Unsicherheit und Beeinflussbarkeit in dieser Frage und glaubt, aus seiner Kenntnis der gesellschaftspolitischen Diskussion in den 1870er und 1880er Jahren ableiten zu können, dass Storm von den weltanschaulichen Auseinandersetzungen seiner Zeit nur am Rande berührt worden ist.
Regina Bouillon beschreibt Storms Interesse an Blumen und stellt eine Sammlung von Beispielen vor, wie Storm florale Motive in seiner Lyrik und für seine Erzählungen genutzt hat. Sie dokumentiert dabei die Verwendung wichtiger Symbolkomplexe wie Liebe und Tod und verweist auf die Bereiche Vergangenheit und Ewigkeit.
Schließlich stellt Walter Zimorski eine der Storm-Forschung bisher unbekannte Graphik nach einem Foto des Dichters vor.
Wie in jedem Jahr berichtet der Sekretär über die Arbeit der Storm-Gesellschaft in Museum und Archiv; diese Angaben werden ergänzt durch die Storm-Bibliographie von unserer Bibliothekarin Elke Jacobsen.
Unsere diesjährigen „Schriften“ werden durch sieben Buchbesprechungen ergänzt, mit denen wir auf einige wichtige Beiträge zur Storm-Forschung hinweisen wollen; zugleich eröffnen unsere Rezensenten aber weitere Perspektiven auf das literarische Feld des poetischen Realismus sowie auf die Rezeption dieser Epoche bis in unsere Gegenwart.
Karl Ernst Laage Gerd Eversberg
(Präsident) (Sekretär)
Buchbesprechungen
David A. Jackson: Theodor Storm. Dichter und demokratischer Humanist; eine Biographie. Berlin: Erich Schmidt 2001.(=Husumer Beiträge zur Storm-Forschung Bd. 2)
Dass ein englischsprachiger Forscher eine Biographie eines deutschen Autors auf Englisch verfasst, braucht wirklich nicht zu verwundern. Wenn jener Forscher sein Werk dann aber in eigener Regie ins Deutsche übersetzt, steht zu befürchten, dass das Ergebnis, das dabei herauskommt, seine Leser – gelinde gesagt – enttäuscht. Um es gleich vorwegzunehmen: Dem langjährigen Storm-Forscher David A. Jackson ist es meisterhaft gelungen, die unzähligen Hindernisse zu überwinden, an denen so mancher Übersetzer vor ihm schon gescheitert ist, und zwar ausgerechnet dadurch, dass er in dem nun erschienenen Band nicht so sehr eine getreue Übersetzung seiner vor fast zehn Jahren erschienenen Biographie als vielmehr eine aktualisierte, auf den letzten Stand der Forschung gebrachte Version von Storms Leben liefert. Der Text, der sich schließlich ergeben hat, zieht den Leser von der ersten Seite an in seinen Bann und bietet in einwandfreiem Deutsch so ziemlich alles, was ein noch so anspruchsvoller Leser sich von einer Biographie erhoffen kann.
Auf beeindruckende Art und Weise versteht es Jackson, von der These zu überzeugen, dass man erst dann Einsicht in einen Menschen gewinnt, wenn man sein gesamtes historisches, familiäres und intellektuelles Umfeld mit in den Blick nimmt. Das scharf umrissene Bild, das er von den sich wandelnden gesellschaftlichen Formen und Normen vermittelt, ermöglicht es, Storms Positionen in nuancenreichen Variationen erscheinen zu lassen, die nicht immer aus dem Werk des Husumer Autors selber zu erschließen wären. Kapitel für Kapitel geht Jackson an den Menschen Storm heran, der sich als nicht weniger interessant, ja man möchte schreiben: spannend erweist als seine Novellenfiguren. Nicht, dass Jackson ihn beschönigend zu irgendeiner unwandelbaren ‚Ikone‘ des Poetischen Realismus hochstilisiert; nein, im Gegenteil, das Besondere liegt gerade darin, dass uns auch Schwächen, unerwartete Wandlungen und sogar paradoxe Einstellungen Storms nicht vorenthalten bleiben und so ein kontrastreiches Porträt von einem Menschen entsteht, der unverdrossen versucht, allen Aspekten der zeitgenössischen Welt Rechnung zu tragen.
Das, was dem Storm-Interessierten geboten wird, sind nicht so sehr großartige, revolutionäre Entdeckungen als vielmehr akribisch recherchierte, auf den ersten Blick manchmal sogar wenig aufschlussreich anmutende Briefstellen und Lebenszeugnisse, die stringent aufeinander bezogen und zu einem kohärenten Ganzen verschmolzen werden. So liest sich Storms Entwicklung auf politischem Gebiet im Grunde als eine schrittweise Desillusionierung: 1848 beginnt der Prozess eines Rückzugs des sehr fortschrittlich gesinnten Autors aus dem engagierten politischen Leben. Dieser Prozess setzt sich um so unaufhaltsamer fort, als das verhasste Preußen, dessen System er als menschenverachtend empfindet, weiter an Macht gewinnt. Mit dieser allmählichen Desillusionierung geht in Storms Privatleben der schmerzhaft erlebte Verlust von Idealen einher, die dem realen Leben nicht gerecht werden: Nach dem Tod Constanzes, seiner ersten Frau, ist kaum noch die Rede von der zuvor immer wieder als unverzichtbar erklärten Vorstellung eines auf gegenseitiger Liebe und Hingabe beruhenden Ehelebens. Vielmehr erweist sich die zweite Frau als eine Art ‚Hausfrau‘, die Storm von den lästigen alltäglichen Sorgen befreit und ihn auch bei seinen verzweifelten Bemühungen unterstützt, seine Söhne vor dem Verderben zu retten. Denn die Hoffnungen, die der junge Storm an eine nicht autoritäre Erziehung geknüpft hatte, gehen nicht auf, und seine Kinder, vor allem seine Söhne bereiten ihm zunehmend Kopfzerbrechen und bringen ihn in immer größere Abhängigkeit von zusätzlichen Einnahmequellen.
Es ist bestimmt keine geringe Leistung von Jackson, dass er es schafft, durch die systematische Verschränkung all dieser Elemente die Schwächen des Menschen Theodor Storm als verständlich erscheinen zu lassen. So – um nur ein Beispiel zu nennen – verdenkt man ihm seine im Alter autoritärer werdende Haltung weniger, wenn man die heute kaum noch vorstellbaren sozialen Folgen berücksichtigt, die der ausschweifende Lebenswandel von Storms Söhnen für die gesamte Familie hätte haben können. Der von Jackson beschriebene Vater Theodor Storm, der zwischen Angst und Hoffnung hin und her schwankt, vermag freilich seine Ideale nicht umzusetzen, ist aber gerade deshalb zutiefst menschlich.
Parallel zu dieser minutiösen Erzählung von Storms Entwicklung als Bürger und als Pater familias verfolgt Jackson seine Laufbahn als Schriftsteller. Dabei gibt er sich keineswegs damit zufrieden, die humanistisch-demokratischen Aspekte in Storms literarischer Produktion herauszuarbeiten, sondern er liefert eine kurze, synthetische Interpretation von ausgewählten Texten, wie es eben nur ein bewährter Kenner des Gesamtwerks zu leisten vermag: Die Deutung fällt meist knapp, sachlich fundiert und zu weiterem Nachdenken anregend aus. Die abschließenden Reflexionen über den „Schimmelreiter“ (S. 317ff.) verdienen es in dieser Hinsicht, als ganz besonders gelungene zusammenfassende methodologische Übersicht erwähnt zu werden.
An mancher Stelle spürt der Leser, dass Jackson einen möglichen Fehler ganz besonders zu vermeiden bemüht ist, und zwar den, Leben und Werk Storms durcheinander zu bringen, das heißt Schlüsse aus dem einen auf das andere zu übertragen und umgekehrt. Indem er sich stets vor dieser Gefahr hütet, gelingt es ihm, allmählich zu umreißen, inwiefern Storms Werk auch dann noch von fortschrittlichen politischen Gedanken, humanistischen Idealen und kritischem Sinn durchtränkt ist, als der Mensch Theodor Storm längst aufgehört hatte, an die Verwirklichung seiner Jugendträume im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts zu glauben. Freilich wird auch hier nichts beschönigt: Dass Storm Novellen verfasste, um das notwendige Geld herbeizuschaffen, oder dass er bei mancher Gelegenheit die Gesellschaftskritik aus taktischen Gründen, nämlich um die zunehmend prüder werdende (vor allem weibliche) Leserschaft nicht zu brüskieren, nur sehr zurückhaltend äußerte, wird schonungslos aufgedeckt. Zugleich aber legt Jackson großen Wert darauf zu zeigen, wie es dem Husumer trotz aller Hindernisse immer wieder gelang, dem scharfsinnigen Leser Texte vorzulegen, die keineswegs nur das enthalten, was die Zeit eigentlich verlangte. Ob durch erzähltechnische Neuerungen wie etwa die Einführung des Erzählers als kritische Stimme oder die Vielschichtigkeit der Erzählperspektiven, durch doppelspuriges Erzählen oder andere Formen künstlerischer „Subtilität“ (S.65), immer wusste er den mit seinen Ideen unvereinbaren, dreifachen Zensor zu umgehen: den amtlichen, den des Publikumsgeschmacks und schließlich den Selbstzensor. Das Ambivalente an dieser äußerst raffinierten Schreibweise entgeht dem Biographen nicht, der erkennt, dass wenig geschulte Leser vor diesem Hintergrund durchaus Gefahr laufen, „ihre eigenen vorgefassten Meinungen“ (S. 86) in das literarische Werk zu projizieren und so den eigentlichen Inhalt zu verfehlen. Zugleich aber strengt Jackson sich an darzulegen, dass objektiv vorhandene Schranken direktes Erzählen oder Anprangern von Missständen von vornherein zum Scheitern verdammt hätten, indem sie den waghalsigen Autor um jede Chance der Veröffentlichung oder aber zumindest um den größeren Teil der Leserschaft gebracht hätten – und Storm konnte sich weder das eine noch das andere leisten.
Bei der hohen Qualität dieser Publikation ist es um so bedauerlicher, dass der Verlagslektor eine Reihe von leicht zu verbessernden Fehlern hat durchgehen lassen. Aber dennoch: Theodor Storms Porträt durch David A. Jackson ist eine anregende, ausgewogene und übersichtliche Biographie, die zugleich strengsten wissenschaftlichen Normen entspricht und dem Storm-Kenner großes Lesevergnügen bereitet.
Louis Gerrekens
Heiner Mückenberger: Theodor Storm – Dichter und Richter. Eine rechtsgeschichtliche Lebensbeschreibung. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2001. (= Juristische Zeitgeschichte. Hrsg. von Prof. Dr. Dr. Thomas Vormbaum <Institut für Juristische Zeitgeschichte, Hagen>. Abteilung 6: Recht in der Kunst. Hrsg. von Prof. Dr. Gunter Reiß, Universität Münster, und Prof. Dr. Dr. Thomas Vormbaum, Universität Hagen. Band 8).
Der Verfasser dieses Buches ist Jurist - er war bis 1997, dem Jahr seiner Pensionierung, Vorsitzender einer Jugendstrafkammer beim Landgericht Frankfurt am Main - , doch die Adressaten sind durchaus nicht nur seine Fachkollegen; wir haben es hier nämlich mit einer sowohl rechts- wie literaturgeschichtlichen Studie zu tun. Storm-Forschern sowie allen Lesern, die auch an der vita des Dichters interessiert sind, sei sie nachdrücklich empfohlen. Der Rezensent würde nicht zögern, von Pflichtlektüre zu sprechen, wenn es denn eine Instanz gäbe, die dergleichen verfügen kann; denn Mückenbergers Arbeit ist die erste umfassende Darstellung des Juristen Theodor Storm.
Sie folgt der Biographie, so dass hier manches zur Sprache kommt, was dem Storm-Kenner geläufig ist, was aber zugleich Zeugnis ablegt von des Verfassers Vertrautsein mit Storms poetischem Werk wie auch mit den Briefen des Dichters, soweit sie bis jetzt gedruckt vorliegen. Darüber hinaus schöpft er auch aus ungedruckten rechtsgeschichtlichen Quellen, zum Beispiel den Prüfungsprotokollen der Rechtskandidaten der Universität Kiel, den Personalakten des Kreisgerichts Potsdam und des Berliner Kammergerichts, den Gerichtsprotokollen der Husumer Landvogtei und den Personalakten des Oberlandesgerichts Kiel. Mit Ausnahme der Kieler Prüfungsprotokolle werden diese Akten im schleswig-holsteinischen Landesarchiv in Schleswig aufbewahrt; von der Storm-Forschung sind sie, soviel ich sehe, bisher nicht zur Kenntnis genommen worden. Storm-Kenner, aber auch praktisch tätige Juristen erfahren hier viel Interessantes über die komplizierten Rechtsverhältnisse in Schleswig-Holstein - Mückenberger spricht gar von einer „Rechtswirrnis“ (S. 40) - , über die Annexion der Herzogtümer durch Preußen, über die Arbeit preußischer Gerichte im 19.Jahrhundert, über die Kompetenzen eines „Landvogts“ und über das Territorium des „Amtes Husum“ (S. 45) zu Storms Zeit. Überhaupt enthält das Buch eine Menge Details, die selbst manchem guten Storm-Kenner bisher unbekannt gewesen sein dürften, so etwa, dass zum Haushalt der Familie Storm (nach einer Volkszählung von 1835) auch ein Schreiber, ein Hausknecht und drei weibliche Dienstboten gehörten (S. 12) und dass Johann Casimir Storm, Theodors Vater, sein „solides Vermögen“ nicht allein als Advokat, sondern auch als eine Art Makler erworben hat (S. 10). Ferner ist der Arbeit zu entnehmen, dass die Juristenausbildung in Schleswig-Holstein „einstufig“ war (S.51), das heißt, dass der Kandidat nur ein Staatsexamen abzulegen brauchte, um als Volljurist zu gelten, während er in Preußen drei Examina zu bestehen hatte. Mückenberger macht es sehr plausibel, dass Storm in seiner Potsdamer Zeit zunächst die Kenntnisse, die im zweiten und dritten Examen verlangt wurden, im nachhinein in der Praxis zu erwerben hatte und dass der Potsdamer Kreisgerichtsdirektor Karl Gustav von Goßler, der mit dem Berliner Kammergerichtsrat Wilhelm von Merckel, Storms „Rütli“-Genossen (und Fontanes Protektor), verschwägert war, in recht eigentlich ganz unpreußischer fürsorglicher Eigeninitiative für Storms Ernennung zum preußischen Gerichtsassessor gesorgt hat. Er spricht in diesem Zusammenhang, nun ja, von einer „gewissen Großzügigkeit“, die Storm seitens der preußischen Justiz zuteil geworden sei (S. 86); andererseits weist er aber auch auf das „schlecht bezahlte Richteramt“ in Preußen hin (S. 79). - Es ließen sich leicht weitere interessante Einzelheiten zur Biographie des Juristen Storm anführen, die hier, mitunter gleichsam im Vorübergehen, mitgeteilt werden; doch der Rezensent möchte für das Buch werben, nicht aber, indem er zu viel „verrät“, die Lektüre ersetzen.
Eingehend befasst sich der Autor mit Storms Berufung zum Landvogt des Amtes Husum im Februar 1864 (S. 147-154), und er meint die Schilderung, die Ferdinand Tönnies im Jahre 1917 über den Vorgang veröffentlicht hat, als eine „Legende“ ad absurdum führen zu müssen. Auf den ersten Blick besticht seine Argumentation; doch es gibt, außer dem Bericht von Tönnies, auch noch eine zeitgeschichtliche Quelle, die diesen im wesentlichen bestätigt.
Mückenberger zitiert aus dem wiederholt publizierten Brief Storms an seinen Vater vom 8. Februar 1864, in dem der Dichter sich die Frage stellt, ob seine Kräfte wohl reichen würden, um sich in die ihm „bis jetzt unbekannten Geschäfte eines Landvogts oder Bürgermeisters oder dergl. hineinzusetzen“. Und er folgert daraus: der Vater müsse seinen Sohn sogleich verstanden haben, und fährt fort: „Kaum daß der Brief des Sohnes in seinen Händen war, brachte er die Dinge so in Gang, wie es den Vorstellungen seines Sohnes entsprach.“ Anders könne es nicht gewesen sein, „wenn man die Daten richtig zusammenfügt“ (S. 150). Leider aber wollen sich die Daten gar nicht so recht zusammenfügen, denn Johann Casimir Storm meldet schon einen Tag später, am 9. Februar, nach Heiligenstadt: „Heute haben Eiderstedter u Husumer Eingeseßne ihre Beamten gewählt - und Dich als Landvogt erwählt. [...] Dieß ist also aus dem Volke ohne weitere Authorisation u wenn man will aus Nothwendigkeit, da keine Beamte dahier sind, geschehen.“ Dieser Brief (der noch einen zweiten Teil vom 10. Februar hat) ist zwar im ganzen unveröffentlicht, doch die entscheidende, hier auszugsweise zitierte Stelle hat David Jackson schon 1984 in seinem Aufsatz „Storms Heimkehr im Jahre 1864“ (STSG 33, S. 35 f.) mitgeteilt. Warum sollte der alte Storm seinem Sohn etwas vorgemacht haben, was dieser wenig später an Ort und Stelle als Täuschung hätte erkennen müssen? Ferner: selbst wenn man annimmt, dass ein Brief aus Heiligenstadt (damals noch ohne Bahnanschluss) bereits am nächsten Tag in Husum eingetroffen sein könnte: wie hätte der Adressat noch an demselben Tag dieses Amt seinem Sohn zuschanzen können? Mag Storms Vater dabei auch seine Hand im Spiel gehabt haben und mag Tönnies’ Schilderung nicht in allen Einzelheiten den Tatsachen entsprechen: dass Theodor Storm 1864 in Husum zum Landvogt gewählt worden ist, und zwar in einem plebiszitär-demokratischen Akt, dürfte kaum zu bezweifeln sein, und die bisherigen Storm-Biographen müssen sich durchaus keine Asche aufs Haupt streuen, weil sie einem prominenten und gelehrten Legendenkolporteur auf den Leim gegangen sind...
Mückenbergers Buch beginnt mit einem Zitat aus Storms Brief vom 13.-21.August 1873, in dem er dem Wiener Literaturkritiker und Hebbel-Biographen Emil Kuh ausführlich über sein Leben berichtete. Kuh, der sich vorgenommen hatte, einen längeren Essay über Storm zu schreiben, hatte dem Dichter eine Reihe „kecker Fragen“ gestellt, die dieser bereitwillig beantwortete; denn Storm glaubte damals, dass dieser Essay „vielleicht die einzige eingehende Arbeit werden mag“, die über ihn geschrieben wird. Eine von Kuhs Fragen lautete: „Collidirten der äußere Beruf und das dichterische Talent oder setzten sich Beide in ein wohlthuendes Einvernehmen?“ Storms Antwort, mit der Mückenberger seine Studie einleitet, lautet: „Weshalb ich mich der Jurisprudenz ergab? Es ist das Studium, das man ohne besondre Neigung studiren kann; auch war mein Vater ja Jurist. Da es die Wissenschaft des gesunden Menschenverstandes ist, so werde ich auch wohl leidlich mit meinem Richteramte fertig. [...] Mein richterlicher u mein poetischer Beruf sind meistens in gutem Einvernehmen gewesen [,] ja ich habe sogar oft als eine Erfrischung empfunden, aus der Welt der Phantasie in die praktische des reinen Verstandes einzukehren, u umgekehrt.“ (Hier, da Mückenberger nicht ganz korrekt zitiert, nach Erwin Streitfelds - leider noch immer ungedruckter - kritischer Ausgabe des Briefwechsels Storm-Kuh aus dem Jahre 1985.)
Storms Behauptung, das angeblich „gute Einvernehmen“ seiner beiden Berufe betreffend, ist von der Forschung häufig kritiklos übernommen worden; von nun an aber muss dieser Selbsteinschätzung energisch widersprochen werden, diesem, wie Mückenberger schreibt, „mit Bedacht erstellte[n] Selbstbild“, dem „geglättete[n] Bild eines Poeten [...], der zugleich und in Harmonie einen respektablen bürgerlichen Beruf ausfüllte“ (S. 3). Mückenberger weist nach, und dies wird als sein wichtigstes Anliegen erkennbar - , dass Storm zu seinem juristischen Beruf „ein problematisches, ein gestörtes Verhältnis“ hatte. „Je stärker er sich als Dichter erkannte, desto mehr wuchs seine Distanz gegenüber dem nur existenzsichernden Beruf“ (S. 3). Die „Verknüpfungen von Dichtung und Beruf“ - so die Überschrift des letzten Kapitels - sind somit eher selten und locker. „Die Verschmelzung von Gedichtetem und Wirklichem im Sinne von beruflich Erlebtem ist seine Sache nicht. [...] Die beiden Bereiche - der Beruf und die Poesie - waren ihm zeitlebens unvereinbar“, heißt es am Schluss (S. 247). An mehreren Beispielen macht Mückenberger deutlich, dass Storm „durch den Schliff seiner preußischen Richterjahre auf immer geprägt war“ und dass er auch als Landvogt „eine auf schnelle Erledigung bedachte, im Grunde wenig beteiligte Instanz war und alles andere als ein sich persönlich einbringender Richter“ (S. 167).
Eingehend geschildert werden die beiden Heiligenstädter Strafverfahren (1857 und 1862), die zu Todesurteilen führten und an denen Storm als einer der fünf Richter des Schwurgerichts beteiligt war. (Die zwölf Geschworenen hatten nur für schuldig oder nichtschuldig zu plädieren und wurden, falls der Angeklagte geständig war, überhaupt nicht zu Rate gezogen; für das Strafmaß waren allein die Berufsrichter zuständig.) Dass die Richter am Heiligenstädter Kreisgericht in beiden Prozessen gnadenlos verfuhren, geht aus der Kassierung der Urteile durch den preußischen König hervor; die Verurteilten wurden zu lebenslanger Zuchthausstrafe begnadigt. - Wie aus einer Stelle im letzten der „Zerstreuten Kapitel“ (LL IV, S. 260) hervorgeht, war Storm im Prinzip ein Gegner der Todesstrafe; doch als Richter hatte er keine Skrupel, sie, in Übereinstimmung mit seinen Kollegen, zu verhängen; er fühlte sich gewiss persönlich frei von Schuld und Verantwortung, denn ihm erschien „das Abschlachten eines anderen von Staats wegen“ als eine ihm zugemutete „amtlich zu erfüllende Pflicht“.
Als sich Storm Ende 1852 um eine Stelle im preußischen Justizdienst bewarb, da fügte er den Unterlagen ein „Immensee“-Exemplar bei. Später sollte er freilich erfahren, dass Justizverwaltungen „derlei Sonderinteressen [...] eher mit Argwohn betrachtet haben“, und Mückenberger fügt mit leiser Ironie hinzu: „damals wie heute“ (S. 81). Von Storms Vorgesetzten im preußischen Justizdienst war vielleicht Karl Gustav von Goßler der einzige, der eine Ahnung von Storms Bedeutung als Dichter hatte. Als dieser um seine Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand eingekommen war, hieß es in einem ministeriellen Schreiben, der Antragsteller sei „auch als Schriftsteller und Dichter rühmlich bekannt“. Dazu findet sich am Rande von unbekannter Hand die Notiz „so, so“...(S. 220).
Nach seiner Pensionierung hat sich Storm, soviel wir wissen, nicht mehr an seine Tätigkeit als Richter erinnern mögen. Verwundert meint Mückenberger, „dass selbst die Gründung des Reichsgerichts [am 1. Oktober 1887] den Amtsgerichtsrat Storm wenig berührte“ (S. 229). Doch warum sollte er sich dafür interessiert haben, nachdem er früher schon erklärt hatte, „von der Reichsgründung“ habe er nur „aus der Ferne“ gehört, „daß sie gemacht wurde“ (an Gustav Hoerter, 1. April 1878). Heiner Mückenberger hat hier offensichtlich sein eigenes Denken und Empfinden als pensionierter Richter auf den „Kollegen“ Storm projiziert, ohne, in diesem Fall, zu bedenken, dass dieser sich längst auch aus den inneren Zwängen befreit hatte, die für ihn mit dem richterlichen Beruf verbunden gewesen waren.
Im übrigen aber erweist sich der Autor dieses Buches als ein vorzüglicher Menschenkenner und Psychologe. Was er von Storms „Wesenszügen“, aus Anlass der „Episode mit Bertha von Buchan“, bemerkt - die „Veranlagung, Frauen gegenüber herrisch und dominant aufzutreten und unbedingte Hingabe zu erzwingen“, sowie „die Welt ganz nach dem eigenen Bilde zu führen“ (S: 32) - , das allein könnte nicht nur künftigen Storm-Biographen, sondern auch Interpreten seiner Werke wertvolle Anregungen geben.
Dass Mückenberger mit Storms poetischem Werk gut vertraut ist, wurde schon gesagt; dass er manche Novellentitel ungenau zitiert, spricht nicht dagegen. Nicht-Philologen sind kaum verpflichtet, ihr Gedächtnis ständig anhand zuverlässiger Quellen zu kontrollieren.
Ärgerlicher sind da schon einige sachliche Ungenauigkeiten und Fehler, die allerdings leicht in einer - hoffentlich bald nötig werdenden - Neuauflage korrigiert werden können. Sie sollen daher hier, soweit sie dem Rezensenten aufgefallen sind, registriert werden:
- S. 58: Der Brief vom 5. Dezember 1842, in dem Storm als junger Advokat in der Kanzlei seines Vaters über allerlei Berufliches berichtet, ist nicht an die (damals siebzehnjährige) Constanze Esmarch adressiert, sondern an den Studienfreund Theodor Mommsen.
- S. 69: Storms dort zitierter Brief (vom 14. Oktober 1850) ist an Hartmuth Brinkmanns spätere Ehefrau Laura Setzer gerichtet. Das hätte der Verfasser leicht feststellen können, wenn er August Stahls kritische Ausgabe des Briefwechsels zwischen Storm und den Brinkmanns benutzt und sich nicht auf Gertrud Storms Auswahl aus dem Jahre 1917 verlassen hätte.
Theodor Mommsen war (1848) der zweite Redakteur der Schleswig-Holsteinischen Zeitung, des Organs der Provisorischen Regierung, nicht aber der Herausgeber des Blattes.
- S. 79: (Otto Theodor) Freiherr von Manteuffel war nicht „Chef der Königlich-Preußischen Admiralität“, sondern von 1850 bis 1858 Präsident des Staatsministeriums. Die „Ära Manteuffel“ gilt als Preußens „Schmachperiode“ (Friedrich Engels).
- S. 119: Die hier erwähnte Stadt im Eichsfeld heißt Dingelstädt, nicht Dingelstadt.
- S. 142: Die Bekanntschaft der Storms mit dem Rechtsanwalt Reinhard Schlüter und dessen Frau „flaute“ nicht „irgendwann ab“; die Schlüters verließen Heiligenstadt 1858.
- S. 143: Fontanes (zweite) Autobiographie hat den Titel „Von Zwanzig bis Dreißig“ (nicht „Zwischen Zwanzig und Dreißig“).
- S. 182: Gertrud Storm hat nur die Briefe ihres Vaters an seine Eltern, an Constanze, die Kinder und die Freunde Brinkmann und Petersen (durchweg lücken- und fehlerhaft) herausgegeben. Die übrigen hier genannten frühen Briefeditionen stammen von anderen Herausgebern.
- S. 212: Das (liberale) Familienblatt „Die Gartenlaube“ wurde von Anfang an (1853) von Ernst Keil in Leipzig herausgegeben, der sich jedoch aus politischen Gründen erst 1862 zu erkennen geben durfte. Der (konservative) Berliner Verleger Alexander Duncker hatte mit dem Blatt nichts zu tun.
Peter Goldammer
Klaus Schumacher: Theodor Storms Grab auf St. Jürgen zu Husum. Husum: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft 2001.
Zu den bedeutenden Storm-Stätten der Stadt Husum zählt das Grab des Dichters auf dem östlich der Altstadt gelegenen Friedhof „St. Jürgen“. Die repräsentative Grabanlage wird von vielen Storm-Freunden besucht; davon zeugen die Blumengrüße, die während der gesamten Saison auf und vor dem Grab niedergelegt werden. Die Pflege der Anlage, die einen angenehmen Ruhepol zum vielbefahrenen Osterende darstellt, obliegt seit 1936 der Stadt Husum; die Theodor-Storm-Gesellschaft sorgt seit vielen Jahren für dezenten Blumenschmuck in einer Pflanzschale.
Die Umgebung dieses Dichtergrabs ist eine weitere Storm-Stätte, da der kleine Friedhof, auf dem noch Reste von Gräbern aus dem 18. und 19. Jahrhundert zu sehen sind, zum „Gasthaus St. Jürgen“ gehört. Diese Stiftung betreibt heute eine Altenpflegestätte, die bereits 1465 als Siechen- und Armenhaus urkundlich erwähnt wird; die Kapelle, das Hauptgebäude und der Friedhof sind zwischen 1563 und 1571 entstanden. Theodor Storm hat diese karitative Einrichtung seiner Vaterstadt zum Schauplatz der Handlung seiner Novelle „In St. Jürgen“ gemacht und erwähnt das Gasthaus St. Jürgen und das Erbbegräbnis seiner Familie auch in anderen Werken.
So war es höchste Zeit, dass diese Grabanlage und ihr historisches Umfeld genauer erforscht wurden; der Historiker Klaus Schumacher hat sich mit den Quellen beschäftigt und die Ergebnisse seiner Recherchen jetzt in einem kleinen Bändchen veröffentlicht. Seine knappe Darstellung beginnt mit der Neugestaltung der Grabanlage im Jahre 1937 und endet mit kritischen Hinweisen zum Thema „Die Grabstätte im Spannungsfeld zwischen Ideologie und Kritik“; der Verfasser weist auf die heute wenig bekannte Tatsache hin, dass zum 30. Todestag des Dichters am 4. Juli 1938 versucht wurde, in einer Art „Weihe“-Veranstaltung Storm für die nationalsozialistische Ideologie zu vereinnahmen. Und Anfang der 1950er Jahre verbot der damalige Husumer Bürgermeister eine geplante Kranzniederlegung der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ „aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“. Es ist ein Verdienst der Theodor-Storm-Gesellschaft und der Nachkommen des Dichters, dass heute durch die 1981 angebrachte Inschrift „Erbbegräbnis der Familien Storm und Woldsen, Husum 1807-1910“ nicht mehr der Eindruck einer Weihestätte zur Verehrung eines Dichters erweckt wird. Dazu hat auch der insgesamt nüchterne Umgang mit Storm Erbe in seiner Heimatstadt beigetragen.
Zwischen diesen Polen entfaltet Schumacher stichwortartig die Geschichte des Stifts und der Grabanlage der Familie Woldsen, der mütterlichen Linie Storms. Alle vorhandenen Dokumente wurden ausgewertet, knappe Zusammenhänge hergestellt und mit Illustrationen versehen, so dass ein ausführliches Vademecum zu dieser Storm-Stätte entstanden ist, das zugleich auf einen Teil der Familiengeschichte Storms verweist. Obwohl der Verfasser ausdrücklich betont, dass seine Schrift „nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Abhandlung“ beansprucht, ist es aus der Sicht der Storm-Forschung schade, dass Schumacher seine Arbeitsergebnisse dem Leser nicht ausführlicher präsentiert hat. Es sind vor allem zwei Aspekte, die nach der Lektüre des kleinen Buches als deutliche Desiderate der Storm-Forschung erkennbar werden: zum einen eine gründlichere Aufarbeitung jener angedeuteten ideologischen Vereinnahmungsversuche Storms und seines Werks durch nationalistische und andere weltanschauliche Gruppen als Teil der Rezeptionsgeschichte während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; zum anderen die Bedeutung des Gasthauses und der Grabanlage für den Teil des Stormschen Werks, der mit dem Themenkomplex „Tod“ konnotiert ist.
Gerd Eversberg
Josef Groben: Requiem für ein Kind. Trauer und Trost berühmter Eltern. Köln: Dittrich 2001.
Welche grausamen Folgen der Tod eines Kindes für die Eltern mit sich bringt, kann sich nur der vorstellen, dem dieses tragische Erlebnis widerfahren ist. Ihnen wird mit dem Lebenssinn die Zukunft genommen. Eine schmerzhafte Identitätskrise - oft mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen verbunden - begleitet sie in den folgenden Jahren, manchmal ihr Leben lang. In der Regel geht dies mit einer Reihe von Begleiterscheinungen einher, die das Leben zur Hölle machen: Höhere Anfälligkeit für Krankheiten und Unfälle, Dauerstress und Depressionen, die häufig zum Selbstmord führen. Diese Erfahrung gehört mit zu den schwersten, die ein Mensch durchmachen kann. Zum Tod seines achtjährigen Sohnes Edgar stellte Karl Marx, der diesen Schmerz nie verwunden hat, verzweifelt fest: „Erst jetzt weiß ich, was ein wirkliches Unglück ist.“
Der Luxemburger Josef Groben stellt in seinem Buch das Einzelschicksal von 38 betroffenen Eltern vor, die ein Kind zu Grabe tragen mussten. Er hat im Leben berühmter deutscher und ausländischer Dichter, Musiker, Politiker und Philosophen aus der Moderne wie aus der Antike recherchiert und dabei mit Einfühlungsvermögen und Respekt die Bewältigung ihres Kummers beschrieben. Sie legen Zeugnis dafür ab, dass bei unterschiedlichen Reaktionen die Trauerarbeit ihre Existenz prägt. So erfahren wir, wie Charles Dickens, Thomas Mann, Mallarmé, Victor Hugo und Lamartine, Verdi, Mahler, Berlioz, Schumann und Haydn, Kaiser Franz Joseph und René Descartes - um nur einige Beispiele zu nennen - durch ihre Arbeit ihrem Leben einen neuen Sinn gegeben haben. Jedes Kapitel enthält eine knappe, aber für das Verständnis des Trauerfalls notwendige Biografie der betroffenen Eltern. Dem schließt sich eine Betrachtung ihres Lebenswerkes an, das mit der Verarbeitung der Trauer im engen Zusammenhang steht, so dass ein behutsamer Einblick in die Seele der leidenden Eltern gewährt wird.
Auch Theodor Storm ist ein besonderes Kapitel gewidmet. Seit der Geburt bereitet ihm sein Sohn Hans, dessen frühem Ende er sein Leben lang mit Angst entgegen sieht, einen unsäglichen Kummer. Zitiert wird der Brief an Paul Heyse, dem der besorgte Vater seine Sorgen um das Wohlergehen seines sich auffällig verhaltenden Sohnes ausdrückt. Sobald Hans mit seinem Medizinstudium beginnt, steigern sich die Probleme um den verlorenen Sohn bis ins Unermessliche. Die Spannungen zwischen Vater und Sohn wachsen, es werden Drohungen und heftige Vorwürfe ausgesprochen. Als Storm sich mit der Vererbungslehre auseinander setzt, ist er von einer Mitschuld an der Entwicklung seines Sohnes überzeugt. In der Dichtung und in den Lebenszeugnissen führt Storm den „Blutstropfen aus Großvaters Geschlecht“ an, der zwar die Anlage erklären, aber das Versagen seines Sohnes nicht entschuldigen kann. Storm verlangt vergeblich von ihm eine heldenhafte Verbissenheit bei der Bekämpfung seiner Sucht. Der Autor Storm ist nachsichtiger als der Vater Storm.
Es ist Groben in hohem Maße gelungen, auf wenigen Seiten und in einem angemessenen sachlich-distanzierten Stil Storms Tragik angesichts seiner Hilflosigkeit dem Sohn gegenüber wiederzugeben. Ihren literarischen Ausdruck findet sie in einzelnen Novellen: „Der kleine Häwelmann“, „Carsten Curator“, „Der Herr Etatsrat“, „Hans und Heinz Kirch“ und „John Riew“. Mit der Niederschrift des Gedichtes „Geh nicht hinein“, das Storm 1879 schrieb, als der Sohn des befreundeten Grafen Reventlow mit 16 Jahren starb, antizipiert Storm das Leiden am Tod seines eigenen Sohnes. Gottfried Keller und Erich Schmidt waren so betroffen von dem traurigen Ton, dass sie befürchteten, dem Dichter sei Schmerzhaftes begegnet. In den letzten Versen mahnt das Schweigen des Dichters vor dem Unfassbaren zum Respekt und zum Mitfühlen.
Das mutige Buch stimmt nachdenklich, es konfrontiert den Leser mit dem eigenen Tod, ohne ihn allein in der Verzweiflung zurückzulassen. Jedes angeführte Beispiel betont, dass wir vor dem Tod alle gleich gestellt sind und dass die Identitätsbildung von der Akzeptanz der eigenen Biografie abhängt. In einer Zeit, in der der Tod allzu selbstverständlich okkultiert und tabuisiert wird, kann dieses Buch nicht genug empfohlen werden. Es verdeutlicht, wie jeder - auch jede berühmte Persönlichkeit - sich gegenüber dem Unerklärlichen und Unvermeidlichen ausgeliefert fühlt. In den behandelten Beispielen wird deutlich, dass die betroffenen Eltern es ihrem besonderen künstlerischen Talent verdanken, bei der Bewältigung ihrer Trauer nicht gescheitert zu sein.
Jean Lefebvre
Andrea Paluch und Robert Habeck: Hauke Haiens Tod. Roman. Frankfurt/Main: Fischer Verlag 2001.
Es gibt eine Reihe von in der Literatur der Neuzeit entstandenen Themen und Figuren, welche wie Figuren und Stoffe seit Vorzeit und Antike trotz aller historischen Bedingtheit eine Art mythologischer Eigenständigkeit bekommen haben, die sie über Jahrhunderte hinweg für künstlerische Darstellung attraktiv erscheinen lässt. Der „Hamlet“- und der „Faust“stoff gehören dazu, „Romeo und Julia“, „Werther“ und Figuren wie „Madame Bovary“ oder „Effi Briest“. Auch Storms „Schimmelreiter“ mit seinem Helden Hauke Haien kann inzwischen in diese Reihe literarischer Grundphantasien gerückt werden, die immer wieder zu filmischer, bildnerischer oder literarischer Fortschreibung oder Neuschöpfung geführt haben.
Der von Andrea Paluch und Robert Habeck im letzten Jahr vorgelegte Roman „Hauke Haiens Tod“ ist auf eine merkwürdig schillernde Weise Fortschreibung und Neuschöpfung zugleich: Die Autoren zeigen in diesem ihrem Romanerstling ein durchaus sensibles Erfassen wesentlicher Aspekte des Stormschen „Schimmelreiters“ und mancher anderer Stormerzählung, Aspekte, an die sie in ihrer literarischen Phantasie anknüpfen, die sie verdeutlichen oder weitererzählen. Andererseits erscheint die Erzählwelt des neuen Romans trotz vielfältiger Kontinuität so weit von der Welt Hauke Haiens und vom Stormschen Erzählduktus entfernt, dass viele Stormleser sich vermutlich mit Grausen abwenden, weil sie das Gefühl haben, sich in einen amerikanistischen Serienkrimi mit viel Schlägereien und Verfolgungsjagden verirrt zu haben.
Kurz zum Inhalt:
Das im Roman „Hauke Haiens Tod“ dargestellte Geschehen spielt 15 Jahre nach einer katastrophalen Sturmflut an der friesischen Nordseeküste in der Nähe von Husum, die man sich in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts vorzustellen hat. Ein vom Bürgermeister Hauke Haien geplanter und erbauter neuer Deich hielt, aber der alte Deich brach, überschwemmte das Dorf und forderte viele Opfer bei Mensch und Tier. Auch Hauke Haien und seine Frau kamen in der Flut um, und - wie man allgemein glaubt –auch deren schwachsinnige Tochter Wienke. Diese hat aber in Wirklichkeit das Unglück überlebt. Hauke Haiens Knecht Iven Johns hat sie gerettet und nach Hamburg in ein Behindertenheim gebracht. Dort wuchs sie unter dem Namen Elisabeth Schmidt auf und entwickelte sich zu einer anerkannten Kalligraphin, deren Spezialität die künstlerische Darstellung von Stammbäumen wurde. Diese Tätigkeit lässt Wienke ihre eigene dunkle Herkunft deutlich werden, und sie macht sich schließlich auf zu Iven (dessen Namen im Heim festgehalten wurde), um nach ihren Eltern zu forschen.
An diesem Punkt setzt die Roman-Handlung ein, die – in moderner Fortschreibung von Storms geschachteltem Erinnerungstext – durchsetzt ist von Erinnerungsfetzen verschiedener Personen, v.a. des ehemaligen Knechts und Automechanikers Iven Johns, der seit der Sturmflut in Hamburg lebt und nachts als Türvorsteher einer Bar sein Geld verdient.
Iven Johns, ein schlichter, langsam denkender Mensch, dessen Interessen über die Beschäftigung mit Autos (er pflegte seinerzeit auch Haukes Jeep und Elkes Jaguar) und die Befriedigung seiner vitalen Bedürfnisse nicht hinaus geht, reagiert ungehalten auf Wienkes Erscheinen, lässt sich von ihrer Haukeschen „Sturheit“ aber schließlich doch drängen, fährt mit ihr an die Küste und rollt das ganze Geschehen vor und während der Sturmflut langsam wieder auf.
Wienke – und mit ihr Iven und die Dorfbewohner –erfahren im uns vorliegenden Roman durch Zusammensetzung verschiedener Erinnerungen und von in einem Safe gefundenen Dokmenten, dass Hauke und Elke Halbgeschwister waren. Wienke ist also Kind einer inzestuösen Beziehung, ist Kind von “Blutschande“, wie es im Dorf heißt. Hauke ist während der Sturmflut nicht durch Naturgewalt und auch nicht durch Selbstmord umgekommen, wie viele mutmaßten oder behaupteten, sondern wurde ein Opfer der Dorbewohner. Man hasste ihn und seine Großmannssucht und wollten ihn loswerden. So organisierten die Dorfbewohner, dass der Knecht Harke Niß die Sprengung des neuen Deichs, die Hauke vorbereitet hatte für den Fall, dass der alte Deich dem Druck des Wassers und des vernachlässigten Priels nicht standhielt, nicht vollziehen kann und so Hauke, der auf der Schwachstelle des alten Deichs Wache stand, zusammen mit Elke unterging.
Der Roman endet mit einem letzten Aufsteigen des Spannungsbogens, indem die gleichen sektiererischen Kräfte, die schon Hauke verfolgten, nun Wienke nach dem Leben trachten und sie ins Wasser treiben, der kommenden Flut entgegen. Sie kann von Iven Johns, Ole Peters und dem Postboten Sten noch gerade vor dem Ertrinken gerettet werden, eine Rettung, die einhergeht mit einer Art geistigen Erleuchtung, da Wienke nach all den neuen Erfahrungen und Informationen zu einer gefestigteren Identität gelangt und zum erstenmal Ich sagen kann.
Drei wesentliche Neuansätze machen diese literarische Relektüre des Stormschen Textes interessant: 1. die Verlagerung des Schimmelreiterstoffes aus der Mitte des 18. Jahrhunderts ans Ende des 20. Jahrhunderts; 2. die Verlagerung der Perspektive von oben nach unten und 3. die Neuerfindung der Wienke-Figur. Obwohl diese Aspekte in engem Zusammenhang miteinander stehen, lohnt es sich doch, auf jeden kurz einzugehen:
1. Die Verpflanzung eines großen Teils des Stormschen Personals und seiner story in eine krass zeitgenössische Welt, Betrachtungsweise und Erzählform erzeugt eine neue, dem Kriminal-Genre ähnliche Art von Spannung. Zu diesem uns durchs Fernsehen und seine Serien vermitteltem Eindruck trägt zum einen der an die Umgangssprache angenäherte „gesamtdeutsche“ Sprachduktus bei (der nie zum echten Dialekt oder Soziolekt wird) sowie die Aufteilung des Textes in viele Kleinstkapitel, die wie Filmszenen verschiedene Aufblenden, Rückblenden, Kleinportraits oder Landschaftsbilder scheinbar unverbunden aneinander reiht.
Wenn so durch die Form, die vielen modernen Requisiten und die Handlungssequenzen der Roman sehr gegenwartsbezogen erscheint, leitet uns der Erzähler doch immer wieder zurück zum Stormtext. Das liegt außer an der Übernahme von Namen, Fakten und Grundkonflikten sicher auch an der überall aufleuchtenden Vertrautheit mit der norddeutschen Küstenlandschaft und ihren Bewohnern, eine Vertrautheit, die die jungen Autoren mit Storm vereint. Es liegt aber paradoxerweise auch daran, dass der neue Text Dinge zu Sprache bringt, die im alten unausgesprochen blieben, die aber nun ins Bewusstsein drängen und den Lesern einem neuen Blick auf Storms Text nahe legen. Genannt sei nur das Thema Inzest, das die Autoren, gemäß der modernen, ja modernistischen Tabulosigkeit zu einem Zentralthema machen.
Die Wichtigkeit der Inzestphantasien für Storms Erzählungen, des Themas Geschwisterliebe z.B., ist von der Stormforschung der letzten Jahre verschiedentlich herausgestellt worden. Niemand würde zwar behaupten, bei Storms Figuren Hauke und Elke handle es sich de facto um Halbgeschwister, und dennoch lässt Storms Text auf einer latenten Ebene solche Bedeutung mitschwingen. Das geschieht etwa durch die ausformulierte Verwunderung des Erzählers über die schnell sich zeigende Nähe der beiden (ohne dass gleich von Verliebtheit die Rede ist) oder durch beider Anlage zur Rechenkunst, oder durch die distanzierte und lange fruchtlose Ehe, die am Ende nur ein schwachsinniges Kind hervorbringt. Es geschieht aber v.a. durch die beide Personen verbindende symbolische Mutterlosigkeit. Auf eine schon erstaunlich konsequente Weise spart Storms Text ja jede Bemerkung über eine Mutter von Hauke oder Elke aus. Das reizt uns zu Phantasien, die diese Leerstelle ausfüllen, und so nimmt es auch nicht wunder, dass die Autoren Paluch/Habeck mit ihrer Um- und Weiterdichtung beim Punkt Elternschaft ansetzen. Die Vaterschaftsfrage wird verschoben, nicht Tede Haien, sondern Tede Volkerts ist Haukes Vater (die Gleichheit der Vornamen wäre eine eigene Betrachtung wert), so dass sich für Hauke die Mutterfrage verstärkt stellt. Trina Jans wird eine zeitlang zur Mutter von Hauke gemacht, auch wenn dies später wieder negiert wird. Die Autoren haben wohl begriffen, dass die Klärung aller Frage, einem Text nicht immer gut tut. Auf der symbolischen Ebene bleibt die Mutterfrage also weiter offen und man wundert sich, dass die Autoren Wienke einen Stammbaum schreiben lassen, in dem nur eine Großmutter fehlt.
2. Das Einbringen von bei Storm Ungesagtem hängt auch mit einem anderen Neuansatz zusammen, nämlich der Verlagerung des erzählerischen Blickwinkels von oben nach schräg unten: Nicht Hauke Haien, der aus der Masse der Deichbewohner herausragende Held und Einzelgänger steht im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Welt der schlichtesten Figuren Storms, die Welt der schwachsinnigen Wienke und die Welt der Knechte und Mägde (Iven Johns, Ole Peters, Harke Niß, Carsten, Anne Gret), die noch um einige Personen aus unteren Schichten erweitert wird.
Diese Verschiebung der Perspektive weg von Hauke hin zur Welt der „kleinen Leute“, ist vom Entwurf her eine geschickte Entscheidung, weil der neue Text so nicht in Konkurrenz mit dem Vorbild gerät. Paluch/Habecks Roman schließt nicht wie Storms Schimmelreiter an die mythische Gattung der Heldenbiographie an, in deren Zentrum trotz aller perspektivischen Gebrochenheit der starke Ausnahmemensch Hauke Haien steht. Von Hauke Haien als denkender, planender und handelnder Held, so wie wir ihn von Storm kennen, ist hier nicht die Rede. Es wird - wie schon der Titel des neuen Romans anzeigt – vor allem über seinen Tod spekuliert und reflektiert. Mit seinem Tod steht das Scheitern Hauke Haiens im Mittelpunkt, und dieses Scheitern wurde schon im Urtext gebunden an die Unfähigkeit (oder Unwilligkeit) Haukes, mit den Deichbewohnern, ihrer Bodenständigkeit und ihrem Hang zu Aberglauben und schlichter oder fanatischer Frömmigkeit zu kommunizieren. Eingeläutet wird bei Storm das Scheitern Haukes mit der Geburt der schwachsinnigen Wienke.
Die Aufwertung der unteren Schicht gibt nicht nur den Autoren ein neues eigenständiges Handlungsfeld, das leicht mit Requisiten und Handlungssequenzen der modernen Unterhaltungswelt anzureichern ist, sondern es ermöglicht ihnen auch, im Medium dieser unaufgeklärten Subjekte trotz aller technisch aufgerüsteten Details an die beinahe archaische Bewusstseinswelt des Stormschen Textes anzuknüpfen, die wie ein bleierner Himmel über der Küstenwelt hängt und die im Hang der Bewohner zum Sektierertum hier wie dort Ausdruck findet. Die Aufwertung der Unterschicht mit ihren basalen Wünschen und Bedürfnissen kann schließlich - ebenso wie das oben beschriebene Ausformulieren von bei Storm Ungesagtem - zu einer neuen Betrachtung von Storms Text motivieren, denn sie kann vielleicht miterklären helfen, warum Storms Hauke scheitern musste.
3. Die Idee, Wienke nicht untergehen, sondern überleben zu lassen, ist zweifellos der wichtigste und innovativste Einfall der Autoren Paluch und Habeck. Es ist ihnen gelungen, die Figur so zu gestalten, dass von ihr aus Reflexionen und Phantasien angeregt werden, die als Ergänzung zu oder Antwort auf Storms Text erscheinen können. In der Fiktion, dass Wienke eine erfolgreiche Kalligraphin, also Schön-Schreiberin ist, schaffen sie in ihr zugleich eine mögliche Spiegelfigur poetologischer Imaginationen.
Mit der Zentrierung der Handlung auf Wienkes Suche nach ihren Eltern wird es den Lesern möglich, durch den zunächst banalen Rahmen vom Bilder- und Handlungsrepertoire der zeitgenössischen Unterhaltungsserien (Autofahrten, Verfolgungsjagden, Lügen, Betrug und Verstrickungen, sexuelle Abenteuer und Verirrungen, Alkohol, sektiererischer Fanatismus und Ausbeutung und immer wider Schlägereien und auch Schießereien) hindurch Grundfragen zu erkennen, die die abendländische Literatur immer bewegt haben, nämlich die Fragen: Wer bin ich? Woher komme ich? Was ist geschehen? Es sind dies Fragen, die in bestimmten Epochen mehr, in anderen weniger Prestige hatten. In der Zeit von Aufklärung und technischer Vernunft, der Storms Hauke Haien angehört, hatten sie weniger Kredit, da die geistige und technische Macht der Menschen und damit die nach vorne gerichtete Machbarkeit alles Wünschbaren vor jeder Herkunftsfrage stand. Die Autoren Paluch/Habeck zeigen ein gutes interpretatorisches Gespür dafür, dass die Ausblendung der Herkunftsfrage (Wer ist die Mutter Haukes, wer die Mutter Elkes?) einen weißen Fleck in Storms Novelle darstellt, der sich nicht nur gut eignet zu einer quasi kriminalistischen Recherche, sondern der auch zum Begreifen der Hauke-Figur einen Beitrag leisten kann.
Storms Hauke vertraut allein auf die eigene Stärke und technische Vernunft. Herkunftsfragen sind da irrelevant. Die eigene Mutter oder die soziale Gemeinschaft, aus der er gekommen ist, spielen für ihn kaum eine Rolle. Ebenso wenig stellt der Naturzusammenhang, der ihn umgibt und dem er selbst als Kreatur zugehört, einen eigenen Wert dar. Aus Natur und Herkunft resultierende Elemente interessieren Hauke nur als Mittel und Material seines technischen Umgangs mit der Welt. Sie müssen funktionieren im Sinne seiner Planung. Schon in Storms Text setzt jedoch mit der Geburt der Tochter und mit Haukes Liebe zu diesem schwachsinnigen Kind eine Umdeutung der Heldenfigur ein, die ahnen lässt, dass nach Storms Vorstellung nicht alles den Gesetzen der technischen Vernunft gehorcht und dass beim Verleugnen jeder wirklichen Beziehung zum Leben und zur Herkunft dem Menschen ein Identitätsbruch droht, der auch seine intellektuellen Pläne scheitern lassen kann. In diesem Sinne kann man die „Krankheit“ der erwachsenen Wienke im neuen Hauke-Roman als pathologisiertes Bild solch eines Identitätsbruchs verstehen. Sie verfügt – wie ihr Vater – über bestimmte technische Fähigkeiten, kann aber diese Fähigkeiten nicht in eine ganzheitliche menschliche Identität integrieren. Sie bleibt sich selbst fremd, kann nicht Ich sagen, kann nur von sich als Objekt sprechen, wie für Hauke die Natur nur Objekt seiner Planung war. Doch die neue Wienke-Figur ahnt, was ihr fehlt, und sie hat vom Vater die kämpferische Natur geerbt, wie schon ihr Name programmatisch andeuten könnte (Wienke kommt von wigand-ke = kleiner Kämpfer). Haukes Tochter wird auf der unbeirrbaren Suche gezeigt nach Wissen um ihre Herkunft, nach der Erfahrung von Körpererleben, nach Liebe und Vertrauen. Wenn Wienke am Ende schließlich Ich sagen kann, können die Leser sich eine weitere Stärkung ihrer Persönlichkeit vorstellen. Ihr Weg zeigt auf erstaunliche Weise, wie von einem schwach-sinnigen, d.h. dem gemeinen Verständnis nach unaufgeklärten Wesen, eine Form von Aufklärung in Gang gesetzt wird, die eine neue Bewertung von Realität bewirkt.
Für den Stormschen „Schimmelreiter“ wird mit der lebenden kämpferischen Wienke im neuen Roman eine Interpretation für Tod und Scheitern der Figur Hauke Haien angeboten, die dem Autor Storm durchaus gerecht wird. Darüber hinaus könnte man im Bild der Schön-Schreiberin Wienke vielleicht ein eigenes Ideal der Autoren Andrea Paluch und Robert Habeck formuliert finden, dem gemäß sich literarische Darstellung menschlicher Werte durchaus in der Welt der kleinsten und schwächsten Leute und auch durch die Medienfassade gängiger Unterhaltungsgenres hindurch entfalten kann. Dies wäre keine ganz neue Erkenntnis, aber doch auch keine überholte.
Von daher möchte ich den Roman von Paluch und Habeck trotz einer Reihe schwacher Dialogteile und trotz mancher Konstruiertheit (der Mordanschlag auf Hauke stellt allein in seiner Durchführung einen Gipfel des Unwahrscheinlichen dar) doch zur Lektüre empfehlen. Immerhin gelingt es den Autoren, die uns bekannten banalen und trivialen Handlungsmuster der Unterhaltungsmedien durch eine Art poetischer „Hintergrundsstrahlung“ (die von Storms Werk und seinen Figuren ausgeht) zum Träger tiefergreifender Bedeutung zu machen. Dies könnte eine Motivation für ein junges, nicht mehr in sich literaturbegeistertes Publikum sein, sich wieder Storm und seinen Themen zuzuwenden, so wie etwa Baz Luhrmann mit seinem „Romeo und Julia“-Film (1996) und dessen endlosen „Ballereien“ es fertig brachte, einer ganzen Jugendgeneration den Shakespeare-Text wieder interessant zu machen.
Andrea Paluchs und Robert Habecks Roman „Hauke Haiens Tod“ ist als Erstroman ein vielversprechender Anfang. Man kann nur hoffen, dass das Autorenpaar weiterschreibt und wird gespannt sein, ob beide über genügend Phantasie zur Entwicklung auch einer ganz eigenen Romanwelt verfügen.
Irmgard Roebling
Rainer Hillenbrand (Hrsg.): Franz Kuglers Briefe an Emanuel Geibel. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 2001.
»Laß Lumpen und Weiberweihrauch bei Seite liegen: wir wollen schon einen Lebenskern ausmachen! Item: Sei Du mein Luther, ich will Dein Melanchthon sein; sei Du mein Blücher, ich will Dein Gneisenau sein; sei Du mein Geibel, ich will Dein Kugler sein.« (S. 117) In diesem beherzten Zuruf, der sich in Franz Kuglers Brief vom 11. Oktober 1846 findet, schwingt die Tonlage mit, von der das komplette Briefkonvolut der Kuglerschen Briefe an Geibel geprägt ist. Wir begegnen zwei Männern, die ihrem Jahrhundert Profil geben wollen, die spüren, zu Bedeutendem berufen zu sein, und die sich doch wieder und wieder in die Grenzen zurück versetzt sehen, die ihnen Begabung und Lebensumstände ziehen. Freilich, die Stimme Geibels muss sich der Leser aus Kuglers hier erstmalig edierten Briefen ›ergänzen‹. Dessen Briefe sind verschollen, wahrscheinlich verbrannt von den Erben Kuglers. Ausnahme bilden fünf als Konzept erhaltene Schreiben Geibels, die im Kommentar mitgeteilt werden.
Rainer Hillenbrand ist es zu danken, nachdem er mit einer ihm eigenen Unbeirrtheit und Unnachgiebigkeit Lebens- und Arbeitsspuren Pauls Heyses verfolgt und editorisch wie literaturwissenschaftlich sichergestellt hat,[1] dass unser Bild von Kugler durch diese Briefedition um eine wesentliche Profillinie reicher geworden ist. Zu entdecken war der 1818 in Stettin geborene Kunsthistoriker, Geheime Regierungsrat und Schriftsteller Franz Kugler nicht mehr. Fontane hatte in seinen Lebenserinnerungen Von Zwanzig bis Dreißig dafür gesorgt, dass Kugler in einem kräftigen Porträt der Bildergalerie seiner Berliner Freunde überliefert wurde und sein Einfluss in den literarischen Vereinen Tunnel über der Spree und Rütli kenntlich geblieben ist. Die Nachwelt hat ihn dann auch vornehmlich aus diesem Blickwinkel wahrgenommen, sieht man von der Kunstgeschichte ab, in der Kugler seinen ganz eigenen Rang behauptet hat. An Fontanes Porträtierung nun lässt Hillenbrand kein gutes Haar, nennt es gänzlich verzeichnet (Einleitung, S. 18) und zu Teilen »ganz falsch« (S. 365). Fontanes Charakteristik Kuglers und seines Kreises sei »von der persönlichen Ranküne des Nichtrichtigdazugehörenden gefärbt« und besonders hinsichtlich des Faktischen »mit äußerster Vorsicht zu genießen« (S. 365). Wie schon in seinen Arbeiten zu Heyse, die ein Forschungsschub bedeuteten, benötigt Hillenbrand ein ›Feindbild‹, um sich die Energie abzutrotzen, auf literaturgeschichtliche Entdeckungsreise nach Verschollenen, Verdrängten und Ausgebooteten zu gehen. Hier richtet es sich – nicht ganz unbegründet – gegen Fontanes wertende Weichenstellung und gegen die »neuere Literaturwissenschaft, die Fontane zu einem ihrer Säulenheiligen erhoben hat, dessen Wertungen und Mutmaßungen gewöhnlich unbesehen«[2] (S. 365-366) übernommen würden. Mit seiner Edition will Hillenbrand literarhistorische Wiedergutmachung betreiben und den verhängnisvollen Folgen des Fontaneschen Verrisses, der Kuglers Vergessenwerden begünstigte, gegensteuern. Franz Kugler und mit ihm auch Emanuel Geibel sollen aus der verstaubten Kiste abgelegter Literatur und ihrer Schöpfer herausgeholt werden, sie sollen wieder Stimme bekommen – persönliche und literarische.
Dafür lehnt sich der Herausgeber durchaus unerschrocken aus dem Fenster, streicht die künstlerische Bandbreite Kuglers heraus, lobt dessen Novellistik als Vorläufer der kulturhistorischen Erzählungen Riehls und der Chronik-Novellen Storms und bezeichnet Geibel schlankweg als »die größte lyrische Naturbegabung« neben Heine, die ohne dessen Frivolität und Pikanterie sei und deshalb »ein feineres Gehör und einen freieren ästhetischen Blick« (Einleitung, S. 13) erfordere, um recht begriffen zu werden. Das muss hier nur in der Pointiertheit zitiert werden, weil es den Impuls des Herausgebers verdeutlicht, sich mit Entschlusskraft gerade Kugler und mit ihm Geibel zu erobern – und weil der Rezensent zögert, diese Wertschätzung zu teilen. Literaturgeschichten, die ihr Interesse auf das literarische Wort fokussieren, machen sich keiner Unterlassung schuldig, wenn sie Kuglers erzählerisches, lyrisches und dramatisches Werk in einer Darstellung über das 19. Jahrhundert mit Beiläufigkeit behandeln,[3] und sie tun wohl doch gut daran, den matten Glanz Geibelscher Verskunst nicht aufzupolieren. Es steht zu befürchten, dass beim Reiben das unechte Glitzermaterial abplatzt und nichts als Dürftigkeit übrigbleibt. Das Phänomen der Beliebtheit Geibelscher Lyrik bei seinen Zeitgenossen wird sich aus ihrer Qualität oder gar eines innovativen Zuges nicht erklären lassen.
Diese Sätze müssen vorausgeschickt werden, um dem Herausgeber, der diese Dinge anders sieht, mit gleicher Direktheit Respekt und Anerkennung zu zollen. Die Edition, weitgehend buchstaben- und zeichengetreu, verdient Lob und Dank. Die Briefe wurden völlig zurecht aus der Versenkung gehoben, und wer Kuglers Handschrift kennt, der weiß, dass dieses Unternehmen nicht ohne erhebliche Mühen zu bewerkstelligen war. Hillenbrand ist uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er behauptet, dass hier für die Einschätzung von Kultur- und Literaturgeschichte im 19. Jahrhundert Wesentliches verhandelt wird. Ihm ist nicht ernstlich zu widersprechen, wenn er aus Geibels merkwürdigem, aber doch allemal bemerkenswertem Popularitätsruhm die Einsicht seiner grundsätzlichen Bedeutung für die verständige Erschließung der kulturellen und literarischen Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts abzieht. Und er weiß sich angesichts des über weite Strecken kompakten, informationsreichen Briefflusses von Kugler gut gerüstet, auch dessen Stellenwert zu behaupten – der aber nicht auf literarischem Feld, sondern eben doch auf dem des literarisch-politischen Lebens zu suchen ist. Dabei war Kugler alles andere als ein glänzender Briefschreiber. Das bestätigen die überlieferten 95 Briefe. Selten sind so schwungvolle Passagen zu lesen wie die eingangs zitierte, und zu häufig benutzte Kugler die Briefgattung, um sich selbst gleichsam im Alltagsleben zu befestigen. Er suchte und gab Formeln für dieses Alltägliche, das sich um drei Bereiche drehte: seine Familie, seinen Beruf und seine literarischen Bemühungen. Wie schon in den Briefen an Fontane verkroch sich Kugler geradezu in dem Klischee vom Beamten, der, unter der drückenden Last von Aktenbergen, nur unter Qualen zu seinem ›eigentlichen‹ Lebensinhalt, dem Dichten, komme. Fontane traf es wohl, als er meinte, dass Kugler seinen ganzen ›Geheimrat‹ drangegeben hätte, hätte er statt dessen literarischen Ruhm gewonnen. Alles was Kugler zu seinem poetischen Werk schreibt, ist interessant, aber es steht zu befürchten, dass es niemanden interessieren wird. Wenn er über sein umständliches Herangehen berichtet, wie er die Stoffe sichtet, notiert und wiegt, dann klingt das akademisch und schwer, fern jeder Leichtigkeit kreativer Arbeitslust. »Du wirst mich«, schrieb er Geibel am 2. Februar 1848, »als einen leidenschaftlichen Dramatiker wiederfinden,« und er fügte hinzu, was ein Herzensbedürfnis, kein Tatbestand ihm in die Feder diktierte: »was doch Alles aus dem Menschen werden kann!« (S. 148)
Nein, ein Dramatiker, wie er ihn sich ersehnte, wurde Kugler nicht. Und ihm gelang auch nicht, was er in den besten Briefen an seinen Freund Geibel wiederholt versuchte: diesen nämlich durch dezidierte und schlüssige Kritik zu einem eben solchen zu formen. Gemäß des ästhetisch-politischen Zeitverständnisses beanspruchte das Drama nach wie vor höchstes Ansehen und galt als sozialer Rechtfertigungsgrund für Kunst und den, der sie ausübte zu Nutzen und Frommen des Gemeinwesens, dem er angehörte. Kugler war alles andere als zimperlich, wenn es galt, Geibel die literarischen Leviten zu lesen. Eine Stelle, die für Kuglers Urteilssicherheit spricht wie wenige, steht in seinem Brief vom 14. August 1846. Über die Mittwochsgesellschaft, deren Mitglied er war, war er an die Dramen Grabbes geraten und kam nun nicht umhin, dessen Hermannschlacht trotz deren Kompositionsmängel als eine historische Tragödie zu bezeichnen, »der ich absolutes Kunstrecht zugestehe« (S. 104) Und er fühlte sich veranlasst aus dieser Lektüreerfahrung dem Dramatiker Geibel in freundlich-bissiger Ironie zuzurufen: »Herr! (wenn ich nur recht fluchen könnte) schämt Er sich nicht bis in die allerkleinste Fingerspitze hinein, daß […] so etwas in deutscher Sprache geschrieben, daß der arme, arme Autor nun schon so und so viel Jahre im Grabe liegt und Er ihm noch nicht auf den Schultern steht? Was hülft mir das, wenn Er sagt, ich mache doch bessere Verse, ich habe doch reineres Gefühl u drgl. Schaffe Er etwas, was eben so groß und was noch größer ist, dann wird man Respect vor ihm haben.« (S. 104)
Im Innersten wird es Kugler gewusst haben – dass er kein Poet, kein Dramatiker war, sondern Kunsthistoriker und -politiker. Jenes Lied vom »Philisterium – Ministerium« sang er gerne, aber er begriff die Chance, die dieser berufliche Ort barg. Anderthalb Jahre vor den Märzereignissen 1848 kam Kugler in die Situation, an »einer großen papiernen Kunst-Constitution« (Brief vom 14. August 1848. S. 103) mitzuarbeiten, deren Grundgedanke Kunst als ein zu organisierendes Staatsbedürfnis verstand. Er entwarf ein Flechtwerk, das die Künste miteinander vernetzte, Fördermittel und Förderung verband und die Institutionalisierung ebenso im Auge hatte wie die Bildung individueller Begabungen. Kugler ging soweit, konkrete Strategien auszuarbeiten, in die er Geibel mit seiner Dramatik (wenn sie dem erst einmal genügte!) einbaute. Ich bin nicht Fachmann genug, um gewiss zu sein, riskiere aber doch die Behauptung, dass dieses Konzept, »Poesie u Staats-Verwaltung durch irgend ein schickliches Band nur einmal erst zusammenzubinden« (Brief vom 6. September 1846. S. 111), vorgetragen an politisch maßgeblicher Stelle, im 19. Jahrhundert seinesgleichen sucht. Seine Auswirkungen lassen sich verfolgen, sehr indirekt, sehr versteckt zum Beispiel über Paul Heyse nach München. Hier liegt eine tatsächliche Tragik Kuglers, der das intellektuelle Zeug gehabt hätte, ein Projekt von diesem Zuschnitt in die Diskussion um die ›preußische Idee‹ zu bringen. Was ihm fehlte, waren taktisches Geschick und der lange Atem, sich auf ein Unterfangen dieser Größe und dieses Anspruchs unter wechselnden politischen und kulturellen Konstellationen ganz und ausschließlich einzulassen. Unter den Briefen finden sich treffende Zeugnisse über Kuglers Auffassungen, die von dieser Idee getragen wurden. Nicht geeignet, sich vorbehaltlos auf politische Alltagskämpfe einzulassen, zeigen doch die außerordentlich aufschlussreichen Briefe aus dem Revolutionsjahr 1848/49 einen aufmerksamen Kopf, der sich ohne Eifer und ohne Borniertheit ein Bild zu machen verstand und dessen Hoffnung auf eine »Concentration Deutschlands, wie sie für den Augenblick möglich ist, und Preußen voraus« (Brief vom 26. März 1849. S. 187) gerichtet waren.
Dass hier doch das eine oder andere zitiert wird, darf getrost als Ermunterung gelesen werden, diese Briefedition aufmerksam wahrzunehmen. Dank der Gründlichkeit des Herausgebers wird der Leser nicht allein gelassen, selbst wenn Kugler über Sachverhalte referiert, die heute längst im grundlosen Brunnen der Vergessenheit versunken sind. Der Kommentar schließt sich dem Abdruck der Briefe an, ein Verfahren, das die Buchästheten begrüßen, die Benutzer eher beklagen werden. Obwohl Hillenbrand maßvoll erläutert, nimmt dieser Kommentarteil doch immerhin ca. 150 Seiten in Anspruch. Im Anhang werden ein paar hilfreiche Funde abgedruckt, die dem Verständnis der Beziehung zwischen Kugler und Geibel förderlich sind (sehr reizvoll eine Antikritik Kuglers zu einer Besprechung von Geibels Gedichte 1840 in den Hallischen Jahrbüchern) und die Notizen aus Paul Heyses Tagebuch über Kuglers Tod und Beerdigung. Eine besondere Freude, das soll schließlich nicht verhehlt werden, sind die differenzierten Register (Personen- und Werkregister, daneben extra Werkregister von Kugler und Geibel und ein Stichwortregister). Hier werden auch die Briefe nachgewiesen, aus denen ausführlich innerhalb der Briefe zitiert wird bzw. die im Anhang komplett abgedruckt werden. Wir haben es mit einem rundum gelungenen Edition zu tun, die sich in die Veröffentlichungen über die Berliner Kreise reiht, in denen Fontane und Theodor Storm, der Anfang der fünfziger Jahre ja kurze Zeit sogar von Kugler beherbergt wurde, verkehrten. Die zukünftige Biographik, ob sie sich nun Storm oder Fontane widmet, wird gut beraten sein, diese Zeugnisse mit gleicher Akribie zur Kenntnis zu nehmen, wie sie für deren editorische und wissenschaftliche Aufbereitung erforderlich gewesen ist – auch wenn Kugler wenig von einem Melanchthon hatte und Geibel schlicht nichts von einem Luther.
Roland Berbig
Rolf Selbmann: Gottfried Keller. Romane und Erzählungen. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2001. (Klassiker Lektüren, Bd. 6.)
1981 erschien im Insel Verlag Gerhard Kaisers Arbeit „Gottfried Keller. Das gedichtete Leben“. In dieser Untersuchung wird Kellers Werk betrachtet als das Ergebnis einer poetischen Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie. Der vaterlose Dichter schreibe von Vatersuchern, von Ersatzvätern und symbolischen (Gott-)Vatermorden. Die immanente Werkanalyse hat Verdienste, aber deren Grenzen werden mit Selbmanns Lesart von Kellers erzählerischer Arbeit überwunden. Dies war umso dringender geworden, als 1991 das Projekt einer historisch-kritischen Gottfried-Keller-Ausgabe in Angriff genommen wurde. Mit der vorliegenden Untersuchung, deren werkorientierte Gliederung sehr leserfreundlich konzipiert ist, wird eine umfassende und anspruchsvolle Gesamtschau des Prosawerkes eines Autors erreicht, der zum klassischen Kanon der Literaturgeschichte gehört, und eine Lücke geschlossen. Die Forschungsergebnisse der letzten zehn Jahre hat Selbmann besonders aufmerksam gesichtet und in seine Gesamt- und Einzelinterpretation einbezogen. Zahlreiche Zitate aus der jüngeren wie aus der älteren Forschung sprechen für die Akribie, mit der die Forschungsergebnisse angegangen wurden. Selbmann geht zuerst auf den biographischen Hintergrund ein, der durch die Korrespondenz Kellers mit befreundeten Autoren und Literaturwissenschaftlern ausführlich belegt wird, ein Augenmerk wird auf die literarischen Intertexte gerichtet - insbesondere die Anleihen bei Tieck, Arnim, Grimm, Brentano, Hauff werden vertieft -, um Kellers Leistung zutage zu fördern, realhistorische und/oder kulturelle Ereignisse werden ebenso in Bezug zum Werk gesetzt, sofern sie für die Interpretation von Belang sind.
Am Beispiel der Novelle „Kleider machen Leute“ soll die Bedeutung dieses Ansatzes verdeutlicht werden. Die Hauptfigur Strapinski, der „im Polnischen“ gearbeitet hat, greift auf ein Lied zurück, das er in der Originalfassung vorträgt. Eine oberflächliche Lektüre würde dies allein auf Kellers Realismusauffassung zurückführen. Es ist vielmehr sein eigenes politisches und humanitäres Engagement, das hier Eingang in die literarische Produktion findet: Infolge der Polnischen Aufstände in den Jahren 1830 und 1846 gegen das reaktionäre Russland musste für die Unterbringung der polnischen Flüchtlinge gesorgt und Spendengelder gesammelt werden. Gottfried Keller war Sekretär des im März 1863 gegründeten Komitees, das sich zur Aufgabe gestellt hatte, diese Aufgaben zu koordinieren. Indem Selbmann diesem Hintergrundwissen Rechnung trägt, eröffnet er mit der semiotisch orientierten Interpretation der „Romane und Erzählungen“ das Bild eines neuen Keller. Gerade im Schulbetrieb, wo Keller gern gelesen wird, ist man allzu leicht geneigt, den Menschen hinter dem Dichter in seiner historisch-sozialen Gegebenheit zu übersehen und in ihm den literarischen Schriftsteller allein zu würdigen. Es ist zu wünschen, dass dieser Band unter den Lehrern Beachtung findet, damit Keller als anspruchsvoller Dichter anerkannt wird und mit Fontane den Zugang in die Oberstufe schafft.
Die Auseinandersetzung mit der Novelle erschöpft sich nicht allein in der Ausführung des außerliterarischen Vorfeldes. Selbmann unterzieht zum Beispiel dieses Werk, das den Titel „Der Herr der Zeichen“ verdient, einer semiotischen Interpretation. Die Analyse der für das Textverständnis relevanten Zeichen erweist sich als besonders ergiebig, gerade wenn man Kaisers Interpretation zum Vergleich heranzieht.
Hier liegt es nahe zu denken, dass Gottfried Keller auch das Leseverhalten zum Gegenstand der Novelle macht: Der Leser soll seinen naiven Glauben an die Zeichenhaftigkeit der (fiktiven) Welt überprüfen. Seine spontanen Interpretationen erweisen sich im Laufe des Leseaktes als zweifelhaft und müssen ständig revidiert werden. Gerade die trivial-romantische Lesehaltung wird aufs Korn genommen. Die Fehldeutung durch den Leser ist ebenso intendiert wie die durch die Figuren der Novelle. Strapinski gilt z.B. als „nicht beredt“ und erweist sich nur dann als echt, wenn er schweigt. So verrät er am meisten die Märchenhaftigkeit seines Weltbildes, wenn er sich mit Nettchen unterhält, das Lied vorträgt, dessen Inhalt er nicht versteht, oder beim Gestehen seiner Wahrheit. Zum Schluss der Novelle wird er mit dem Ausruf Nettchens „Keine Romane mehr!“ von dieser Literaturinfizierung geheilt und auf den Boden der Realität zurückgebracht. Selbmann weist nach, dass die Fehlinterpretation der ambivalent zu lesenden Zeichensysteme durch die Dorfbewohner oder durch Strapinski - ob gewollt oder unbeabsichtigt - die Rätselhaftigkeit der (reellen) Welt widerspiegelt: So sind alle Beteiligten Opfer ihres scheinbaren Glücks: Sie unterliegen der Ökonomisierung der Gefühle, vor allem, wenn sie meinen, sie im Griff zu haben. Dass sich der semiotische Ansatz als fruchtbar für das Verständnis des Prosawerkes erweist, könnte an anderen Beispielen ausgeführt werden, insbesondere am Roman „Martin Salander“, in dem alle Zeichen, hinter denen Sinnhaftigkeit vermutet werden könnte, sich als falsch oder als Trugbilder erweisen, so dass von „Zeichenrelativismus“ gesprochen wird. Zu Kellers Erzählen gehört das gezielte Ausstreuen deutungssperriger Zeichen.
Mit dem von Selbmann vorgelegten Forschungsstand wird der Paradigmenwechsel in Bezug auf unser Keller-Bild offensichtlich. Das letzte Kapitel, das Kellers Geschichtsverständnis erörtert, lässt erahnen, dass die wissenschaftliche Diskussion um das (post-)moderne Erzählen noch lange nicht abgeschlossen ist.
Jean Lefebvre
[1] Siehe hierzu Rainer Hillenbrand: Nachlese zur Heyse-Sekundärliteratur. In: Roland Berbig, Walter Hettche (Hg.): Paul Heyse. Ein Schriftsteller zwischen Deutschland und Italien. Frankfurt am Main, Berlin u. a. 2001 (Literatur–Sprache–Region; 4). S. 277-316.
[2] In der Einleitung fällt im Zusammenhang mit dieser zu kritisierenden Literaturwissenschaft auch das Wort blasiert (S. 13).
[3] Siehe hierzu den Versuch des Herausgebers, das literarische Werk Kuglers in einer Gesamtschau vorzustellen und damit eine neue Bewertung, die sich als gewünschte Aufwertung zu erkennen gibt, anzuregen. Rainer Hillenbrand: Franz Kugler als Erzähler. In: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für Germanistik. Band 33, 2000, 2. S. 123-147, und Rainer Hillenbrand: Franz Kuglers politische Dramen aus der Revolutionszeit. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. 41. Band. Berlin 2000. S. 89-123.