Dokument vom:
30.01.2009
Internationale Storm-Tage 2008

Internationale Storm-Tage, Husum 2008

 

 

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Bericht über Verlauf und Erträge der Tagung „Zwischen Mignon und Lulu: 
Das Rätsel der Kindsbraut in Biedermeier und Realismus“

Von Heinrich Detering

 Der Versuch einer sozial- und diskursgeschichtlich differenzierenden Bestimmung unterschiedlicher Rollenmuster von „Kindsbräuten“ begann mit dem auf den Übergang von Briefen zur Fiktionalisierung gerichteten Darstellungen Deterings (zum Komplex der Bertha von Buchan geltenden Texte des jungen Storm) und Eversbergs (zu Figurationen der ‚Geliebten’ in Storms epistolographischen und autobiographischen Zeugnissen) und setzte sich fort über Konstanten und Modifikationen im gesamten lyrischen und novellistischen Werk Storms.
Als „Kindsbraut“ im engsten Sinne gilt danach ein vor, während oder kurz nach der physischen Geschlechtsreife auf das Rollenmuster „des Kindes“ (dies je nach epochenspezifischer Semiotik der Altersgruppen, Ehe- und Familienstrukturen) fixiertes, u. U. imaginär oder real mortifiziertes Mädchen, das als solchermaßen imaginär-tödlich fixiertes Kind und um seiner behaupteten Kindhaftigkeit willen erotisch begehrt wird. Da konstitutiv für die „Kindsbraut“ des Blick des Erwachsenen ist, kann der Begriff u.U. auch auf erwachsene Frauengestalten anwendbar sein, die durch diesen Blick re-infantilisiert oder in einer gewollten und behaupteten Kindlichkeit fixiert werden. In jedem Fall ist dieses Verhältnis ein hierarchisches und gewaltsames. Die mit dieser Gewalt verbundene Schuldhaftigkeit wird entweder dem Kind angelastet (Stifter) oder dem Erwachsenen, der dann ausgerechnet vom durch ihn selbst beschädigten und unterworfenen Kind „Entsühnung“ fordert (Storm in den Gedichten an Bertha). Und in jedem Fall ist der das Mädchen als „Kindsbraut“ allererst konstituierende männliche Blick bestimmt vom Paradox eine asexuellen Sexualität: Als vorsexuelles (und häufig auch, weil von der Geschlechtertrennung noch nicht betroffen, androgynes) Wesen wird das Kind von einem Erwachsenen begehrt, der in ihm eine eigene unwiderrufliche verlorene Kindlichkeit wiederzufinden und festzuhalten sucht – die Artikulation dieses Begehrens aber nimmt, als diejenige eines geschlechtsreifen Erwachsenen, sexuelle Ausdrucksformen an; das Begehren darf um der Bewahrung der gewollten Kindlichkeit willen nicht erfüllt werden, wird aber gerade durch diese fortwährend geweckt. Das Kind-sein-Wollen des Erwachsenen ist bestimmt von dem Verlangen nach dem verlorenen narzisstischen Größenselbst und Allmachtsgefühl des Kindes in der Mutter-Kind-Dyade. Das kann einhergehen mit Angst vor erwachsener Sexualität und Objektbeziehung.
Die narrativen Verfahren, in denen die während des Symposions erörterten Texte solche Konstellationen thematisieren, sind von diesen Konstellationen nicht zu trennen. Einblicke in diese Verschränkung gehören zu den vielleicht wichtigsten Erträgen der Tagung. So kann die Erzählinstanz selbst Träger eines ‚pädophilen’ Begehrens werden – etwa in Erinnerungsnovellen wie „Immensee“ als Alternder, der Gleichzeitigkeit einer vergangenen Kind-Kind-Beziehung erinnernd und erzählend, in die fiktionale Gleichzeitigkeit eines begehrenden Alten und eines begehrten Kindes transformiert, oder in der retrospektiven narrativen Sexualisierung von Kinderszenen, die aus der Geschehensperspektive heraus gerade als dezidiert vor- und asexuell konturiert werden, so im kindlichen Beilager in „Pole Poppenspäler“. Dabei kann das narrative Arrangement die Leser in entsprechende Positionszuschreibung hineinzwingen, u.U. als Reaktion auf vermutete Publikumserwartungen; hier wäre auch die Geschichte der unterschiedlichen Illustrationen etwa zu „Immensee“ als Leserlenkungen einzubeziehen.
Die Texte selbst können den Erzählvorgang als – aus der Produktionsperspektive – distanzschaffende und diagnostische Erkenntnis ermöglichende Selbsttherapie vollziehen und selbst schon im Wortsinne psychoanalytische Modellbildungen in Gang setzen (etwa im Übergang von der unreflektierten infantil-narzisstischen Größenphantasie vom allmächtigen Kind in „Hans Bär“ zur Reflexion dieser Phantasie in fiktiv dialogischer Erzählsituation und ironisierender Durchführung in „Der kleine Häwelmann“). Sie können auch als unreflektiert-symptomatisch lesbar sein. Beide Lesemöglichkeiten können neben- oder nacheinander im selben Text existieren.

 

- 18. – 21. September 2008 "Internationale Storm-Tagung 2008".   Tagungsprogramm (29.81 kb)
 Zwischen Mignon und Lulu. Das Rätsel der ‚Kindsbraut’ in Biedermeier und Realismus

R. Fasold / M. Stein / H. Detering 
Zwischen Mignon und Lulu.
Das Rätsel der „Kindsbraut" in Biedermeier und Realismus

Überlegungen zu einer Konferenz der Theodor-Storm-Gesellschaft in Husum 2008

Untersuchungen zu Storms Novellistik sind in jüngerer Zeit wiederholt auf die Darstellung von hoch problematischen Geschlechter- und Generationenverhältnissen gestoßen. Während der Husumer Autor in seinen Briefen noch an der Illusion einer natürlichen Geschlechterordnung und dem Ideal der bürgerlichen Kernfamilie festhielt, hat er in seinen Erzählungen immer wieder Beziehungen inszeniert, die diesen Vorstellungen stark zuwiderlaufen. Von den frühen „Sommergeschichten" bis ins Spätwerk hinein richtet sich das Begehren der Storm'schen Protagonisten auf noch junge, am Rande der Pubertät befindliche Mädchen, deren immer ähnliche Beschreibung an das seit der Goethezeit umhergeisternde Phantasma der Kindsbraut denken lässt. Reife Liebesbeziehungen und eine eigene Familiengründung bleiben den männlichen Hauptfiguren zumeist versagt, da jene Kindfrauen sich, aus von Text zu Text scheinbar unterschiedlichen Gründen, allzu rasch in „Totenbräute" verwandeln. 
Im Zusammenhang mit diesem Phänomen ist die Storm-Forschung herausgefordert, sich einem Ereignis in Storms Leben erneut zu stellen, das von den Biographen stets mit äußerster Diskretion behandelt wurde: Storms obsessiver Neigung zu Bertha von Buchan (1826 - 1903). Eine Art Wiederholung dieser Leidenschaft zu „jenem Kinde" stellt wenige Jahre später die Beziehung zu Dorothea Jensen (1828 - 1905) dar, die die junge Ehe mit Constanze Esmarch belastete.
In kulturwissenschaftlicher und literaturgeschichtlicher Hinsicht freilich noch interessanter sind die „Kindsbräute" in Storms literarischem Werk. Wie Forschungen etwa von Michael Wetzel (Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit, 1999), Walter Erhart/Britta Herrmann (Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit, 1997) und Andrea Blamberger (Die Kindfrau. Lust, Provokation, Spiel, 2002) gezeigt haben, sind Storms „Männerphantasien" durchaus keine bloß individuelle Erscheinung. Vielmehr stecken sie in einem literarischen und kulturellen „Schloon" (s.u. "Effi Briest"), der in der deutschen Literaturgeschichte seinen Anfang in Goethes Mignon-Gestalt zu nehmen scheint und am Ende des 19. Jahrhunderts die Kindfrauen der frühen Moderne hervortreibt. Dazwischen jedoch durchzieht dieser kulturelle Unterstrom eben auch - dort allerdings bislang noch wenig ergründet - viele Texte des Biedermeier und Realismus. 
Ein gezielter Vergleich der keineswegs seltenen Kindfrau-Darstellungen in dieser Epoche verheißt die Möglichkeit, die kulturelle Tiefendimension eines Phantasmas auszuloten, das zumindest für Literaten von erheblicher Bedeutung zu sein scheint. Von daher halten wir es für an der Zeit, dem ‚Rätsel Kindsbraut‘ einmal nicht mehr nur an Novellen Storms, sondern auch an Erzählungen Heines, Mörikes, Stifters, Kellers und Fontanes im Rahmen einer ca. zehn Vorträge umfassenden Konferenz auf den Grund zu gehen.
Erwünscht ist dabei eine Vielfalt sowohl der untersuchten Textbeispiele als auch der zur Analyse und Erklärung herangezogenen Theorien bzw. Bezugswissenschaften. Zugleich gilt es zu gewährleisten, dass die auf der Konferenz vorgetragenen Ergebnisse bei aller Pluralität der gewählten Ansätze eine vergleichende Betrachtung ermöglichen.
Die Organisatoren der Konferenz werden vorab einen Forschungsbericht bereitstellen, der den in der Storm-Forschung erreichten Diskussionstand zum Thema zusammenfasst. Diese Vorlage soll zum Vergleich mit den Werken der genannten anderen Autoren und/oder zur Erarbeitung neuer Positionen anregen, möchte aber zudem auch allen Vertretern anderer Fachwissenschaften (wie etwa der Psychotraumatologie oder der historischen Männerforschung) Anknüpfungsmöglichkeiten für eine interdisziplinäre Betrachtung bieten.
Es ist vorgesehen, dass alle BeiträgerInnen vor Beginn ein ein- bis zweiseitiges Thesenpapier vorlegen.

Effi Briest 
In diesem Augenblick hielt der Schlitten, und als sich beide Damen umsahen, um in Erfahrung zu bringen, was es denn eigentlich sei, bemerkten sie, daß rechts von ihnen, in etwa dreißig Schritt Abstand, auch die beiden anderen Schlitten hielten - am weitesten nach rechts der von Innstetten geführte, näher heran der Crampassche.
»Was ist?« fragte Effi.
Kruse wandte sich halb herum und sagte: »Der Schloon, gnäd'ge Frau.«
»Der Schloon? Was ist das? Ich sehe nichts.«
Kruse wiegte den Kopf hin und her, wie wenn er ausdrücken wollte, daß die Frage leichter gestellt als beantwortet sei.
Worin er auch recht hatte. Denn was der Schloon sei, das war nicht so mit drei Worten zu sagen. Kruse fand aber in seiner Verlegenheit alsbald Hilfe bei dem gnädigen Fräulein, das hier mit allem Bescheid wußte und natürlich auch mit dem Schloon.
»Ja, meine gnädigste Frau«, sagte Sidonie, »da steht es schlimm. Für mich hat es nicht viel auf sich, ich komme bequem durch; denn wenn erst die Wagen heran sind, die haben hohe Räder, und unsere Pferde sind außerdem daran gewöhnt. Aber mit solchem Schlitten ist es was anderes; die versinken im Schloon, und Sie werden wohl oder übel einen Umweg machen müssen.«
»Versinken! Ich bitte Sie, mein gnädigstes Fräulein, ich sehe noch immer nicht klar. Ist denn der Schloon ein Abgrund oder irgendwas, drin man mit Mann und Maus zugrunde gehen muß? Ich kann mir so was hierzulande gar nicht denken.«
»Und doch ist es so was, nur freilich im kleinen; dieser Schloon ist eigentlich bloß ein kümmerliches Rinnsal, das hier rechts vom Gothener See herunterkommt und sich durch die Dünen schleicht. Und im Sommer trocknet es mitunter ganz aus, und Sie fahren dann ruhig drüber hin und wissen es nicht einmal.«
»Und im Winter?«
»Ja, im Winter, da ist es was anderes; nicht immer, aber doch oft. Da wird es dann ein Sog.«
»Mein Gott, was sind das nur alles für Namen und Wörter!«
»... Da wird es ein Sog, und am stärksten immer dann, wenn der Wind nach dem Lande hin steht. Dann drückt der Wind das Meerwasser in das kleine Rinnsal hinein, aber nicht so, daß man es sehen kann. Und das ist das Schlimmste von der Sache, darin steckt die eigentliche Gefahr. Alles geht nämlich unterirdisch vor sich, und der ganze Strandsand ist dann bis tief hinunter mit Wasser durchsetzt und gefüllt. Und wenn man dann über solche Sandstelle weg will, die keine mehr ist, dann sinkt man ein, als ob es ein Sumpf oder ein Moor wäre.«
»Das kenn ich«, sagte Effi lebhaft. »Das ist wie in unsrem Luch«, und inmitten all ihrer Ängstlichkeit wurde ihr mit einem Male ganz wehmütig freudig zu Sinn.
Theodor Fontane: Effi Briest

 

Pressemitteilung


Die diesjährige Jahrestagung der Theodor-Storm-Gesellschaft findet vom 18. bis 21. September 2008 in Husum statt. Regelmäßig treffen sich ca. 200 Storm-Freunde aus aller Welt in der Grauen Stadt am Meer.
Auf einer wissenschaftlichen Konferenz werden zwanzig Forscher aus Belgien, der Schweiz und Deutschland das Rätsel der Kindsbraut in der Literatur des 19. Jahrhunderts erkunden.
Das Generalthema der öffentlichen Vorträge lautet

Zwischen Mignon und Lulu.
Das Rätsel der „Kindsbraut“ in Biedermeier und Realismus

Untersuchungen zu Storms Novellistik sind in jüngerer Zeit wiederholt auf die Darstellung von hoch problematischen Geschlechter- und Generationenverhältnissen gestoßen. Während der Husumer Autor in seinen Briefen noch an der Illusion einer natürlichen Geschlechterordnung und dem Ideal der bürgerlichen Kernfamilie festhielt, hat er in seinen Erzählungen immer wieder Beziehungen inszeniert, die diesen Vorstellungen stark zuwiderlaufen. Von den frühen „Sommergeschichten“ bis ins Spätwerk hinein richtet sich das Begehren der Storm’schen Protagonisten auf noch junge, am Rande der Pubertät befindliche Mädchen, deren immer ähnliche Beschreibung an das seit der Goethezeit umhergeisternde Phantasma der Kindsbraut denken lässt. Reife Liebesbeziehungen und eine eigene Familiengründung bleiben den männli-chen Hauptfiguren zumeist versagt, da jene Kindfrauen sich, aus von Text zu Text scheinbar unterschiedlichen Gründen, allzu rasch in „Totenbräute“ verwandeln. 
Im Zusammenhang mit diesem Phänomen ist die Storm-Forschung herausgefordert, sich einem Ereignis in Storms Leben erneut zu stellen, das von den Biographen stets mit äußerster Diskretion behandelt wurde: Storms obsessiver Neigung zu Bertha von Buchan (1826-1903). Eine Art Wiederholung dieser Leidenschaft zu „jenem Kinde“ stellt wenige Jahre später die Beziehung zu Dorothea Jensen (1828-1905) dar, die die junge Ehe mit Constanze Esmarch (1825-1865) belastete.
Ein gezielter Vergleich der keineswegs seltenen Kindfrau-Darstellungen in Biedermeier und Realismus verheißt die Möglichkeit, die kulturelle Tiefendimension eines Phantasmas auszuloten, das zumindest für Literaten von erheblicher Bedeutung zu sein scheint. Von daher halten wir es für an der Zeit, dem ‚Rätsel Kindsbraut‘ einmal nicht mehr nur an Novellen Storms, sondern auch an Erzählungen Heines, Mörikes, Stifters, Kellers und Fontanes im Rahmen einer ca. zehn Vorträge umfassenden Konferenz auf den Grund zu gehen.

 

 

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