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Textüberlieferung und TextgrundlagenDie folgenden Erläuterungen folgen dem Kommentar in: Theodor Storm. Sämtliche Werke, Bd. 2, hg. von Karl Ernst Laage. Frankfurt am Main 1987; sie wurden den Bedürfnissen dieser Darstellung angepasst und nach den Informationen im Storm-Archiv im Dezember 2000 ergänzt.
TextzeugenHandschriften: 33 Seiten Entwürfe und Notizen (H1, Storm-Nachlass, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel); eine Entwurfshandschrift (56 S.), die ursprünglich als Reinschrift gedacht war (H2, Storm-Nachlass, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel); eine endgültige Reinschrift (vollständig: 74 S.) mit einem ersten Teil in Storms und einem zweiten Teil in der Handschrift von Dorothea Storm (H3, Goethe-Schiller-Archiv Weimar); Korrekturbogen (unvollständig: 12 S.) mit handschriftlichen Korrekturen des Dichters (H4, Storm-Archiv Husum). - Erstdruck (E) in: Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft, hg. von J. Rodenberg, Bd. 10, Heft 2, S.129-151 (Leipzig 1872). Erste Buchausgabe (Z) in: Zerstreute Kapitel, Berlin 1873, S. 113 bis 173. Seit 1877 in den Schriften, Bd. 7, S.17-77, mit der Datierung »1871«. - Hier nach S4, mit folgenden Emendationen: 69,16 gedalbert] Nach H1, H2, H3, E, Z; S4: gealbert 77,28 wolle] Nach H2, H3, E, Z; S4: wollte 87,3 ihrgegenüber/ Nach H2, H3, E; S4: gegenüber
EntstehungStorm hat die Arbeit an dieser Novelle Ende 1871 oder Anfang 1872 begonnen. Im September 1871 ist er noch dabei, »ein langes kulturhistorisches >zerstreutes Kapitel<« zu schreiben (an Sohn Ernst, 29.9.1871); gemeint ist das Zerstreute Kapitel, das im Februar 1872 in Westermanns Monatsheften (Bd. 31, S. 465-479) erschien. Die Beschäftigung mit diesem Kapitel wird sich bis November 1871 hingezogen haben. Am 29. Januar 1872 ist dann zum erstenmal von der Arbeit an Draußen im Heidedorf die Rede (ebenfalls an Ernst): »Ich arbeite zwischen meinen täglichen Krampfschauern fleißig an einer Novelle.« Von fleißiger, immer wieder neu einsetzender und verbessernder Arbeit an der Novelle zeugen die Handschriften. Ein Vergleich der frühen Entwürfe (H1) und der Kladde (H2) mit der Reinschrift (H3) zeigt charakteristische Verbesserungen, z. B. wird die noch im Entwurf benutzte eigene Amtsbezeichnung (H1: »Landvogt«, »Landvogtei«) in H2 und H3 durchgängig verfremdet zu »Amtsvogt« und »Amtsvogtei«, und die Angabe »Norderstraße« (H1), in der die Beziehung zur eigenen Vaterstadt durchschimmert, wird später getilgt (ursprünglich zur Kennzeichnung des »Wirtshauses«); die verführerische Hebammentochter heißt in H1 noch »Margarethe Neumann«, in H2 (dort nachträglich eingefügt) und in H3 wird daraus »Margarethe Glansky«. Die Tendenz, schärfere Konturen zu zeichnen und die fremdländische Herkunft des Mädchens zu betonen, zeigt sich auch sonst, z. B. an einer Szene, von der sich in den drei Handschriftenkomplexen drei Fassungen erhalten haben.
Die fremdländische Herkunft der Hebammentochter wird von Fassung zu Fassung stärker betont, und der Kontrast zwischen dem Slowakenmädchen und den alteingesessenen Bauern wird immer deutlicher und schärfer herausgearbeitet. Am 1. März 1872 scheint Storm das Manuskript fertiggestellt und an Julius Rodenberg, den Herausgeber der Monatsschrift >Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft<, abgeschickt zu haben. Kurz danach jedenfalls spricht er von der Umarbeitung einer Szene, die er »nachsenden« wolle: »ich fühle hinterher, daß die Figur der Küsterin und ihre etwas vulgäre Redeweise nicht <in> die Stimmung des Ganzen, namentlich der betreffenden Situation paßt. Ich hoffe, Ihnen in spätestens 2 Tagen die Scene glücklich umgearbeitet nachsenden zu können. Der Küster dürfte allerdings mit der Frau, die er jetzt bekommt, weniger zufrieden sein.« (An Rodenberg, 2.3.1872.) Bereits am nächsten Tag hat Storm diesen Nachtrag abgeschickt (Eintragung in sein Brieftagebuch unter dem 3.3.1872). Dieser »Nachtrag« hat sich in der Reinschrift (H3) sowohl in der ursprünglichen ersten Fassung wie auch in der umgearbeiteten Fassung erhalten. Die Szene umfaßt zehn Manuskriptseiten. Inhaltlich hat Storm an dem Bericht der Küstersfrau (»es hat schon einen Vorspuk gegeben <. . .>«) kaum etwas verändert. Die »Figur der Küsterin« selbst aber hat Storm »der betreffenden Situation« angepaßt. Aus der »runden beweglichen Fünfzigerin«, die den Amtsvogt »mit vielen Knixen in die Stube nötigte«, ist »ein kränklich aussehendes Mütterchen« geworden, das »wegen ihrer Kreuzschmerzen nicht vom Lehnstuhl« aufstehen kann. Ihre Impulsivität und Aufdringlichkeit hatte Storm ursprünglich noch durch eine besondere Szene unterstrichen:
Diese zuletzt zitierte Szene hat Storm getilgt. Sein Bemühen um einen sachlichen Erzählton wird darin deutlich. Dieselbe Tendenz läßt sich auch aus der Milderung der »vulgären Redeweise« (so an Rodenberg: s. o.) ablesen. Entsprechende Wendungen werden weggelassen (z.B. »das ist seine Natur so«, »können Herr Amtsvogt sich die Frechheit denken«, »ich dacht, meine Ohren wären falsch geworden«, »<. . .> daß der Hinrich weder in der Schule noch zu Haus was von sich sehen ließ«). So dokumentiert sich noch in der letzten Umarbeitung ein Bemühen des Dichters um einen möglichst kühlen, nüchternen und ruhigen Erzählton. Dieser darf als das besondere Merkmal der Novelle angesehen werden. Mit der Umarbeitung der Küsterin-Szene ist die Novelle endgültig fertig geworden. Die Fertigstellung der Reinschrift hat Storm seinem Schwiegervater einige Tage später mitgeteilt: »<ich habe> dieser Tage eine Novelle zu meiner Zufriedenheit beendet, >Draußen im Heidedorf<, die Ihr wohl im Maiheft des Salon lesen werdet.« (An Ernst Esmarch, 12.3.1872.) Tatsächlich ist der Erstdruck dann im Maiheft der von Julius Rodenberg herausgegebenen Zeitschrift >Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft< erschienen. In dem Sammelband Zerstreute Kapitel kam die Novelle 1873 in Buchform heraus. Eine Einzelausgabe aber hat sie merkwürdigerweise zu Storms Lebzeiten nicht erlebt; eine solche erschien erst 1919 in Leipzig.
QuellenDen Stoff für die Novelle hat ein Fall aus der juristischen Praxis des Dichters geliefert, der fast 6 Jahre zurücklag. Im März 1866 war Storm als Landvogt mit einer Vermißtenanzeige und einem Selbstmord in Rantrum, einem Dorf süd-östlich von Husum, befaßt (Rantrum gehörte zu seinem Landvogteibezirk). Storm hat die Vorgänge Ende März/ Anfang April 1866 in einem Brief an Doris Jensen, seine spätere Frau, folgendermaßen dargestellt; der Brief ist verschollen; er wird zitiert nach einer Bleistiftabschrift Gertrud Storms, in: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 28 (1979), S. 53f.:
Storm referiert in diesem Brief die Vorgänge, die er amtlich untersucht hat, aber er kommentiert sie auch, und zwar aus der elegisch-weichen Stimmung heraus, von der er nach dem Tode seiner Frau Constanze (Mai 1865) und vor seiner Hochzeit mit Doris Jensen (Juni 1866) ergriffen war. Passagen wie »das bezaubernde in süßester Jugendfrische blühende Kind«, aus dessen »wunderbaren Augen« er sich »Leidenschaft u. Tod getrunken« machen das deutlich. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist auch der Schlußteil des Briefes, in dem Storm auf die Schlußverse des Gedichts »Die zwei Gesellen« von Eichendorff verweist und dabei auf die romantisch-melancholische Vertonung dieser Zeilen durch Robert Schumann (op. 44, Nr. 2: Frühlingsfahrt) anspielt. Auffällig ist nun, daß der Dichter nur den im Brief geschilderten amtlichen >Fall< der Novelle als Stoffgerüst zugrunde gelegt (Anzeige, Untersuchung, Verhör, Auffinden der Leiche), die subjektive, elegisch-weiche Kommentierung des Briefes aber nicht übernommen hat. Damit bestätigt sich die aus den Handschriften erschlossene Tendenz zu weniger Subjektivismus, zu schärferen Konturen und zu mehr Nüchternheit. Dem entspricht die präzise lokalisierbare Szenerie. Die Geest- und Heidelandschaft östlich von Husum, Geestdörfer wie Ostenfeld, Wittbek, Schwabstedt und Rantrum bilden den Hintergrund des Geschehens, - ein Gebiet, das zu Storms Amtsbezirk als Landvogt und Amtsrichter gehörte und das er gut kannte. Deutlich sichtbar wird in der Novelle auch das »Wilde Moor«, das sich in einer Ausdehnung von über 40 km2 östlich von Ostenfeld und Schwabstedt bis zur Treene erstreckt.
Wirkung und Würdigung Storm selbst war überzeugt, einen neuen Erzählton gefunden zu haben. »Da ist ein ganz neuer Ton«, meinte er (an Pietsch, 15.10.1874) und begründete seine Überzeugung folgendermaßen: »Neugierig bin ich, was Sie zu >Draußen im Haidedorf< sagen. Ich glaube darin bewiesen zu haben, daß ich auch eine Novelle ohne den Dunstkreis einer bestimmten >Stimmung< (d. h. einer sich nicht aus den vorgetragenen Thatsachen von selbst beim Leser entwickelnden, sondern vom Verfasser a priori herzugebrachten Stimmung - nach Heyse u. Kurz lyrische Novelle -) schreiben kann.« (An Kuh, 24.2.1873) Tatsächlich präsentiert sich - wie Heyse es ausdrückte - in der Novelle »ein ganz neuer Storm« (zitiert im Brief Storms an Kuh vom 22.12.1872 und im Brief Storms an Pietsch vom 15.10.1874). Eine Entwicklung, die sich in den Novellen Eine Malerarbeit und Eine Halligfahrt schon vorbereitet hat, kommt hier zum Durchbruch: Storm gelingt es in Draußen im Heidedorf zum erstenmal, ganz ohne lyrische und elegische Stimmungselemente auszukommen. Nicht aus der Erinnerung wird erzählt, sondern ein juristischer >Fall< wird so nüchtern wie möglich referiert und analysiert. Storm verzichtet nicht auf die Perspektivkunst, verbindet sie aber mit dem distanzierten Bericht; aus wechselnden Perspektiven, aus der Perspektive des Amtsvogts, des Schreibers, des Küsters und der Küstersfrau, der Ehefrau und der Geliebten des Selbstmörders werden die Gründe beleuchtet, die den Bauern Hinrich Fehse in den Tod getrieben haben. So hart und nüchtern hatte Storm bisher nicht geschrieben. Keine Spur von geruhsamer ländlicher Idyllik, keine detaillierte Schilderung der keuschen, schönen Natur (wie z. B. in Stifters Heidedorf); im Gegenteil! Dorf und Natur sind nur sparsam skizziert, und das Dorf selbst ist der Schauplatz lebenszerstörender Elementarkräfte: ein Bauer geht wie ein stumpfes Tier, das »mit sich selber umzugehen« nicht gelernt hat, an seiner leidenschaftlichen Liebe zu einem fremdländisch schönen Mädchen zugrunde, und dieses Mädchen wird mit einem Moorgespenst, einem »weißen Alp« verglichen, das seinem Opfer die Seele austrinkt. Diese »häßliche« Seite der Novelle hat bei den Zeitgenossen nicht überall Anklang gefunden. Der Bibliothekar Aldenhoven aus Gotha z. B. vertrat eine andere Kunstauffassung als Storm; er bezweifelte »die Berechtigung des Charakteristischen im Gegensatz zum Schönen«, wie sie in der Novelle zum Ausdruck kam (zitiert von Storm im Brief an Oskar Horn, 11.3.1873, HL-Cambridge/Mass. USA). Storm hat auf solche Kritik sehr selbstbewußt reagiert: »Daß meinem >Haidedorf< die Schönheit mehr fehlt, als sie in der Poesie dem Charakteristischen weichen darf, resp. muß, kann ich <....> nicht zugeben. Sie gehen darin zu weit. Ich halte diese Arbeit für so tüchtig, daß Weniges in der deutschen Novellistik damit concurriren dürfte.« (An Carl Aldenhoven, 30.1.1874.) Zeitweilig aber kamen ihm doch auch Zweifel, ob er in seiner Novelle dem Unschönen nicht zuviel Raum gegeben bzw. das »Charakteristische« zu stark hervorgehoben hatte. »Freilich«, meinte er dem Journalisten Oskar Horn gegenüber, »Kellers Novelle <Romeo und Julia auf dem Dorfe> genügt wohl mehr dem Schönheitsgefühl als meine.« (An Oskar Horn, 11.3. 1873) Schon gleich nach dem Erscheinen war die Novelle Draußen im Heidedorf in einer Flensburger und einer Grazer Zeitung, »an beiden Enden Deutschlands« also (Storm an Pietsch 1873), mit Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe verglichen und gegen die gängigen Dorfgeschichten abgesetzt worden. In der >Grazer Zeitung< (Beilage vom 5.3.1873) schrieb ein nicht genannter Rezensent:
In der >Flensburger Norddeutschen Zeitung< schrieb Oskar Horn am 13. Februar 1873:
Storm selbst meinte, daß die beiden Novellen »doch sehr verschiedenen Inhalts« seien (an Pietsch 1873). Aber wenn wir Storms und Kellers Dorfgeschichten mit den damals gängigen Dorfgeschichten, etwa mit Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten, vergleichen, dann ergeben sich doch bemerkenswerte Gemeinsamkeiten. Beide Dichter verzichten auf eine idyllische Ausmalung des Dorflebens, verzichten auf einen versöhnlichen Schluß. Beide gestalten das »Drama einer Leidenschaft auf dem Lande« und lassen dieses Drama tragisch enden. Bei Keller allerdings sind es mehr die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse, die die Liebenden in den Tod treiben; Storm betont stärker die besinnungslose Leidenschaft: ein Bauernsohn ertränkt sich im Moor, weil er nicht wiedergeliebt wird und weil er ohne die Liebe des schönen Slowakenmädchens nicht weiterleben kann. Diese Triebhaftigkeit trägt schon geradezu naturalistische Züge, wie sie später z. B. von Gerhart Hauptmann im Bahnwärter Thiel (1888) gestaltet worden sind.
Sprachliche und sachliche Erläuterungen
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