Dokument vom:
18.09.2008
Draußen im Heidedorf - Textüberlieferung und Textgrundlagen

Textüberlieferung und Textgrundlagen

Die folgenden Erläuterungen folgen dem Kommentar in: Theodor Storm. Sämtliche Werke, Bd. 2, hg. von Karl Ernst Laage. Frankfurt am Main 1987; sie wurden den Bedürfnissen dieser Darstellung angepasst und nach den Informationen im Storm-Archiv im Dezember 2000 ergänzt.

 

 

Textzeugen

Handschriften: 33 Seiten Entwürfe und Notizen (H1, Storm-Nachlass, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel); eine Entwurfshandschrift (56 S.), die ursprünglich als Reinschrift gedacht war (H2, Storm-Nachlass, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel); eine endgültige Reinschrift (vollständig: 74 S.) mit einem ersten Teil in Storms und einem zweiten Teil in der Handschrift von Dorothea Storm (H3, Goethe-Schiller-Archiv Weimar); Korrekturbogen (unvollständig: 12 S.) mit handschriftlichen Korrekturen des Dichters (H4, Storm-Archiv Husum). - Erstdruck (E) in: Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft, hg. von J. Rodenberg, Bd. 10, Heft 2, S.129-151 (Leipzig 1872). Erste Buchausgabe (Z) in: Zerstreute Kapitel, Berlin 1873, S. 113 bis 173. Seit 1877 in den Schriften, Bd. 7, S.17-77, mit der Datierung »1871«. - Hier nach S4, mit folgenden Emendationen:

69,16 gedalbert] Nach H1, H2, H3, E, Z; S4: gealbert

77,28 wolle] Nach H2, H3, E, Z; S4: wollte

87,3 ihrgegenüber/ Nach H2, H3, E; S4: gegenüber

 

Entstehung

Storm hat die Arbeit an dieser Novelle Ende 1871 oder Anfang 1872 begonnen. Im September 1871 ist er noch dabei, »ein langes kulturhistorisches >zerstreutes Kapitel<« zu schreiben (an Sohn Ernst, 29.9.1871); gemeint ist das Zerstreute Kapitel, das im Februar 1872 in Westermanns Monatsheften (Bd. 31, S. 465-479) erschien. Die Beschäftigung mit diesem Kapitel wird sich bis November 1871 hingezogen haben. Am 29. Januar 1872 ist dann zum erstenmal von der Arbeit an Draußen im Heidedorf die Rede (ebenfalls an Ernst): »Ich arbeite zwischen meinen täglichen Krampfschauern fleißig an einer Novelle.« Von fleißiger, immer wieder neu einsetzender und verbessernder Arbeit an der Novelle zeugen die Handschriften. Ein Vergleich der frühen Entwürfe (H1) und der Kladde (H2) mit der Reinschrift (H3) zeigt charakteristische Verbesserungen, z. B. wird die noch im Entwurf benutzte eigene Amtsbezeichnung (H1: »Landvogt«, »Landvogtei«) in H2 und H3 durchgängig verfremdet zu »Amtsvogt« und »Amtsvogtei«, und die Angabe »Norderstraße« (H1), in der die Beziehung zur eigenen Vaterstadt durchschimmert, wird später getilgt (ursprünglich zur Kennzeichnung des »Wirtshauses«); die verführerische Hebammentochter heißt in H1 noch »Margarethe Neumann«, in H2 (dort nachträglich eingefügt) und in H3 wird daraus »Margarethe Glansky«. Die Tendenz, schärfere Konturen zu zeichnen und die fremdländische Herkunft des Mädchens zu betonen, zeigt sich auch sonst, z. B. an einer Szene, von der sich in den drei Handschriftenkomplexen drei Fassungen erhalten haben.

H1:

»Uebrigens« und er <der Cantor> stimmte seinen Ton zu vertraulichem Flüstern - »es sind auch keine guten Leute! Ich sehe darüber hinweg, was der Aberglaube sonst von ihnen faselt, aber mit Kartenlegen und Raten und Böten weiß die Alte manchem die Schillinge aus der Tasche zu fegen.«

H2:

»Uebrigens«, und er <der Küster> stimmte seinen Ton zu vertraulichem Flüstern, »es sind auch nicht die besten Leute; ihr Großvater war ein Slowak' droben von der Donau und, Gott weiß wie, in unserer Gemeine hängengeblieben. Ich sehe darüber hinweg, was der Aberglaube sonst von ihnen faselt; aber mit Kartenlegen und Rathen und Böten weiß die Alte Manchem die Schillinge aus der Tasche zu fegen«.

H3:

»Ueberdieß«, und er stimmte seinen Ton zu vertraulichem Flüstern, »ihr Großvater war ein Slovak' von der Donau und, Gott weiß wie, bei uns hängen geblieben; dazu die alte Hebamme mit ihrem Kartenlegen und Geschwulst-Besprechen, womit sie den Dummen die Schillinge aus der Tasche lockt, das hätte übel gepaßt in eine alte Bauernfamilie!«

Die fremdländische Herkunft der Hebammentochter wird von Fassung zu Fassung stärker betont, und der Kontrast zwischen dem Slowakenmädchen und den alteingesessenen Bauern wird immer deutlicher und schärfer herausgearbeitet.

Am 1. März 1872 scheint Storm das Manuskript fertiggestellt und an Julius Rodenberg, den Herausgeber der Monatsschrift >Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft<, abgeschickt zu haben. Kurz danach jedenfalls spricht er von der Umarbeitung einer Szene, die er »nachsenden« wolle: »ich fühle hinterher, daß die Figur der Küsterin und ihre etwas vulgäre Redeweise nicht <in> die Stimmung des Ganzen, namentlich der betreffenden Situation paßt. Ich hoffe, Ihnen in spätestens 2 Tagen die Scene glücklich umgearbeitet nachsenden zu können. Der Küster dürfte allerdings mit der Frau, die er jetzt bekommt, weniger zufrieden sein.« (An Rodenberg, 2.3.1872.) Bereits am nächsten Tag hat Storm diesen Nachtrag abgeschickt (Eintragung in sein Brieftagebuch unter dem 3.3.1872).

Dieser »Nachtrag« hat sich in der Reinschrift (H3) sowohl in der ursprünglichen ersten Fassung wie auch in der umgearbeiteten Fassung erhalten. Die Szene umfaßt zehn Manuskriptseiten. Inhaltlich hat Storm an dem Bericht der Küstersfrau (»es hat schon einen Vorspuk gegeben <. . .>«) kaum etwas verändert. Die »Figur der Küsterin« selbst aber hat Storm »der betreffenden Situation« angepaßt. Aus der »runden beweglichen Fünfzigerin«, die den Amtsvogt »mit vielen Knixen in die Stube nötigte«, ist »ein kränklich aussehendes Mütterchen« geworden, das »wegen ihrer Kreuzschmerzen nicht vom Lehnstuhl« aufstehen kann. Ihre Impulsivität und Aufdringlichkeit hatte Storm ursprünglich noch durch eine besondere Szene unterstrichen:

»Aber, Herr, du meine Güte!« unterbrach sie sich plötzlich. »hab' ich doch ganz vergessen, dem Herrn Amtsvogt eine Tasse Kaffee vorzusetzen!« Und fort war die kleine bewegliche Frau <. . .>. Ich war eingestiegen, und hatte schon das Zeichen zur Abfahrt gegeben, als der Kutscher noch die Pferde anhielt. - »0 nein, wohlgeborner Herr Landvogt!« hörte ich vom Hause her die Stimme meiner lebhaften Gastfreundin. »So fährt man nicht von Küsters fort!« Und schon stand sie mit der hellpolirten Kaffeekanne neben dem Wagen, und schenkte schäumend den braunen Trunk in die Tasse.

Diese zuletzt zitierte Szene hat Storm getilgt. Sein Bemühen um einen sachlichen Erzählton wird darin deutlich. Dieselbe Tendenz läßt sich auch aus der Milderung der »vulgären Redeweise« (so an Rodenberg: s. o.) ablesen. Entsprechende Wendungen werden weggelassen (z.B. »das ist seine Natur so«, »können Herr Amtsvogt sich die Frechheit denken«, »ich dacht, meine Ohren wären falsch geworden«, »<. . .> daß der Hinrich weder in der Schule noch zu Haus was von sich sehen ließ«). So dokumentiert sich noch in der letzten Umarbeitung ein Bemühen des Dichters um einen möglichst kühlen, nüchternen und ruhigen Erzählton. Dieser darf als das besondere Merkmal der Novelle angesehen werden.

Mit der Umarbeitung der Küsterin-Szene ist die Novelle endgültig fertig geworden. Die Fertigstellung der Reinschrift hat Storm seinem Schwiegervater einige Tage später mitgeteilt: »<ich habe> dieser Tage eine Novelle zu meiner Zufriedenheit beendet, >Draußen im Heidedorf<, die Ihr wohl im Maiheft des Salon lesen werdet.« (An Ernst Esmarch, 12.3.1872.)

Tatsächlich ist der Erstdruck dann im Maiheft der von Julius Rodenberg herausgegebenen Zeitschrift >Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft< erschienen. In dem Sammelband Zerstreute Kapitel kam die Novelle 1873 in Buchform heraus. Eine Einzelausgabe aber hat sie merkwürdigerweise zu Storms Lebzeiten nicht erlebt; eine solche erschien erst 1919 in Leipzig.

 

Quellen

Den Stoff für die Novelle hat ein Fall aus der juristischen Praxis des Dichters geliefert, der fast 6 Jahre zurücklag. Im März 1866 war Storm als Landvogt mit einer Vermißtenanzeige und einem Selbstmord in Rantrum, einem Dorf süd-östlich von Husum, befaßt (Rantrum gehörte zu seinem Landvogteibezirk). Storm hat die Vorgänge Ende März/ Anfang April 1866 in einem Brief an Doris Jensen, seine spätere Frau, folgendermaßen dargestellt; der Brief ist verschollen; er wird zitiert nach einer Bleistiftabschrift Gertrud Storms, in: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 28 (1979), S. 53f.:

Ein junger Mann, der sich durch Liebschaften und Schulden sein Leben anscheinend unheilbar zerrüttet hat, war seit einigen Tagen verschwunden. Ich ließ alle Trinkgruben u. Brunnen d. Dorfes absuchen, heut ist er in Rantrum tot in einer Trinkgrube gefunden, die Frau ist schwanger. Gestern um 9 kam ich von jener traurigen Fahrt zurück. Es war der Leichnam eines stattlichen jungen Mannes, der am Rande der öden Mergelgrube lag. Von dort fuhren wir nach Rantrum und ich vernahm zuerst s<eine> schwangere junge Frau, die er nicht geliebt, aber geheiratet hatte, um mit Beihülfe ihres Geldes den väterlichen Besitz auf<b>essern zu können u. dann das bezaubernde in süßester Jugendfrische blühende Kind, die er schon, da sie noch fast ein Kind gewesen, geliebt und um die er sich, mir ganz unzweifelhaft, den Tod gegeben. Sie war wahrscheinlich auf Antrieb seines Vaters von ihrer Mutter (Hebamme) fortgeschickt gewesen, aber nachdem s<eine> Ehe ein Jahr lang gedauert, zurückgekehrt. Nun ist er wieder zu ihr gegangen u. hat sich aus diesen wunderbaren Augen Leidenschaft u. Tod getrunken. Ein Tag vor seinem Selbstmord ist er nach ihrer Angabe zuletzt bei ihr gewesen, auffallend niedergeschlagen u. hat gesagt, er halte das Leben zu Haus nicht aus, es brächte ihn unter die Erde. Dann ist er eines Abends 9 ½ Uhr im Arbeitszeug in der Dunkelheit fortgegangen, hat zu seinem 10jährigen Bruder ein letztes Wort gesagt, das dieser nicht verstanden u. ist geradewegs nach der ¼ St<unde> entfernten Grube gegangen, denn d. Uhr, die wir aus seiner Tasche zogen, stand auf ¾ 10. Die Frau, die ihn sehr geliebt u. ihm, wenn überhaupt nur milde Vorwürfe gemacht zu haben scheint, hatte ihn d. Abends, da sie schon im Bett war, auf die Außendiele treten, dann aber d. Stubentür vorbei wieder aus dem Haus gehen hören. Das junge Mädchen schien beim Verhör eigentlich nur von Angst vor irgendeiner kriminellen Verantwortung erfüllt. Sie war in höchster Aufregung, aber von Schmerz um den Toten gewahrte ich nichts - obgleich sein nackter Leichnam eben ins Dorf gefahren wurde. - Da hast Du das Drama einer Leidenschaft auf dem Lande. >Ach Gott führ' uns liebreich zu Dir<, - schließt Eichendorff ein Lied, das ich Dir vorsingen werde, und damit will auch ich in Deinem Sinne mein geliebtes Kind diese Mitteilung schließen. 2. April 1866.

Storm referiert in diesem Brief die Vorgänge, die er amtlich untersucht hat, aber er kommentiert sie auch, und zwar aus der elegisch-weichen Stimmung heraus, von der er nach dem Tode seiner Frau Constanze (Mai 1865) und vor seiner Hochzeit mit Doris Jensen (Juni 1866) ergriffen war. Passagen wie »das bezaubernde in süßester Jugendfrische blühende Kind«, aus dessen »wunderbaren Augen« er sich »Leidenschaft u. Tod getrunken« machen das deutlich. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist auch der Schlußteil des Briefes, in dem Storm auf die Schlußverse des Gedichts »Die zwei Gesellen« von Eichendorff verweist und dabei auf die romantisch-melancholische Vertonung dieser Zeilen durch Robert Schumann (op. 44, Nr. 2: Frühlingsfahrt) anspielt. Auffällig ist nun, daß der Dichter nur den im Brief geschilderten amtlichen >Fall< der Novelle als Stoffgerüst zugrunde gelegt (Anzeige, Untersuchung, Verhör, Auffinden der Leiche), die subjektive, elegisch-weiche Kommentierung des Briefes aber nicht übernommen hat. Damit bestätigt sich die aus den Handschriften erschlossene Tendenz zu weniger Subjektivismus, zu schärferen Konturen und zu mehr Nüchternheit.

Dem entspricht die präzise lokalisierbare Szenerie. Die Geest- und Heidelandschaft östlich von Husum, Geestdörfer wie Ostenfeld, Wittbek, Schwabstedt und Rantrum bilden den Hintergrund des Geschehens, - ein Gebiet, das zu Storms Amtsbezirk als Landvogt und Amtsrichter gehörte und das er gut kannte. Deutlich sichtbar wird in der Novelle auch das »Wilde Moor«, das sich in einer Ausdehnung von über 40 km2 östlich von Ostenfeld und Schwabstedt bis zur Treene erstreckt.

 

Wirkung und Würdigung

Storm selbst war überzeugt, einen neuen Erzählton gefunden zu haben. »Da ist ein ganz neuer Ton«, meinte er (an Pietsch, 15.10.1874) und begründete seine Überzeugung folgendermaßen: »Neugierig bin ich, was Sie zu >Draußen im Haidedorf< sagen. Ich glaube darin bewiesen zu haben, daß ich auch eine Novelle ohne den Dunstkreis einer bestimmten >Stimmung< (d. h. einer sich nicht aus den vorgetragenen Thatsachen von selbst beim Leser entwickelnden, sondern vom Verfasser a priori herzugebrachten Stimmung - nach Heyse u. Kurz lyrische Novelle -) schreiben kann.« (An Kuh, 24.2.1873)

Tatsächlich präsentiert sich - wie Heyse es ausdrückte - in der Novelle »ein ganz neuer Storm« (zitiert im Brief Storms an Kuh vom 22.12.1872 und im Brief Storms an Pietsch vom 15.10.1874). Eine Entwicklung, die sich in den Novellen Eine Malerarbeit und Eine Halligfahrt schon vorbereitet hat, kommt hier zum Durchbruch: Storm gelingt es in Draußen im Heidedorf zum erstenmal, ganz ohne lyrische und elegische Stimmungselemente auszukommen. Nicht aus der Erinnerung wird erzählt, sondern ein juristischer >Fall< wird so nüchtern wie möglich referiert und analysiert. Storm verzichtet nicht auf die Perspektivkunst, verbindet sie aber mit dem distanzierten Bericht; aus wechselnden Perspektiven, aus der Perspektive des Amtsvogts, des Schreibers, des Küsters und der Küstersfrau, der Ehefrau und der Geliebten des Selbstmörders werden die Gründe beleuchtet, die den Bauern Hinrich Fehse in den Tod getrieben haben.

So hart und nüchtern hatte Storm bisher nicht geschrieben. Keine Spur von geruhsamer ländlicher Idyllik, keine detaillierte Schilderung der keuschen, schönen Natur (wie z. B. in Stifters Heidedorf); im Gegenteil! Dorf und Natur sind nur sparsam skizziert, und das Dorf selbst ist der Schauplatz lebenszerstörender Elementarkräfte: ein Bauer geht wie ein stumpfes Tier, das »mit sich selber umzugehen« nicht gelernt hat, an seiner leidenschaftlichen Liebe zu einem fremdländisch schönen Mädchen zugrunde, und dieses Mädchen wird mit einem Moorgespenst, einem »weißen Alp« verglichen, das seinem Opfer die Seele austrinkt.

Diese »häßliche« Seite der Novelle hat bei den Zeitgenossen nicht überall Anklang gefunden. Der Bibliothekar Aldenhoven aus Gotha z. B. vertrat eine andere Kunstauffassung als Storm; er bezweifelte »die Berechtigung des Charakteristischen im Gegensatz zum Schönen«, wie sie in der Novelle zum Ausdruck kam (zitiert von Storm im Brief an Oskar Horn, 11.3.1873, HL-Cambridge/Mass. USA). Storm hat auf solche Kritik sehr selbstbewußt reagiert: »Daß meinem >Haidedorf< die Schönheit mehr fehlt, als sie in der Poesie dem Charakteristischen weichen darf, resp. muß, kann ich <....> nicht zugeben. Sie gehen darin zu weit. Ich halte diese Arbeit für so tüchtig, daß Weniges in der deutschen Novellistik damit concurriren dürfte.« (An Carl Aldenhoven, 30.1.1874.) Zeitweilig aber kamen ihm doch auch Zweifel, ob er in seiner Novelle dem Unschönen nicht zuviel Raum gegeben bzw. das »Charakteristische« zu stark hervorgehoben hatte. »Freilich«, meinte er dem Journalisten Oskar Horn gegenüber, »Kellers Novelle <Romeo und Julia auf dem Dorfe> genügt wohl mehr dem Schönheitsgefühl als meine.« (An Oskar Horn, 11.3. 1873)

Schon gleich nach dem Erscheinen war die Novelle Draußen im Heidedorf in einer Flensburger und einer Grazer Zeitung, »an beiden Enden Deutschlands« also (Storm an Pietsch 1873), mit Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe verglichen und gegen die gängigen Dorfgeschichten abgesetzt worden. In der >Grazer Zeitung< (Beilage vom 5.3.1873) schrieb ein nicht genannter Rezensent:

»Draußen im Haidedorf« ist ein Nachtbild der Leidenschaft, in welchem die dämonische, verderbliche Macht ungezügelter Liebe eine um so erschütterndere Wirkung hervorbringt, als es eine harte, rauhe, im Kampfe mit den Elementen gestählte, in strengbäuerlicher Sitte gehaltene, unverfälschte, nicht zum Heucheln, Biegen und Drehen gemachte Natur ist, welcher der Vampyr der Leidenschaft, »der weiße Alp« die Seele austrinkt. Mit Gottfried Kellers »Romeo und Julia« auf dem Dorfe gehört Storms »Draußen im Haidedorf« zu dem Besten, was die neuere Novellistik geschaffen, und ist geradezu ein Muster der Dorfgeschichte. Die Anlage und folgerichtige Entwicklung der Charaktere, der rasche Fortschritt der Handlung, die höchst anschauliche stimmungsvolle Schilderung des Lebens zwischen Moor und Haide, der Gluthauch der Leidenschaft, die zum unlöschbaren Alles verheerenden Brande sich anfacht, der durchaus festgehaltene, streng epische Ton, sind die Vorzüge dieser in ihren Motiven und Conflicten zwar höchst einfachen, an der ewigen Tragik des Menschenherzens aber so reichen Dorfgeschichte.

In der >Flensburger Norddeutschen Zeitung< schrieb Oskar Horn am 13. Februar 1873:

Draußen im Haidedorf werden die Schulmeister unserer Literatur sofort als Dorfgeschichte klassifiziren, eine lange Nadel durchspießen und sie dann in ihrer ästhetischen Käferschachtel aufstecken. Draußen im Haidedorf ist allerdings eine Dorfgeschichte von jener Art, wie wir noch eine in unserer Sprache besitzen: Gottfried Kellers Romeo und Julie auf dem Dorfe. Leute mit Fleisch und Blut wehren sich darin vergebens gegen ihr Verhängniß, <...>.

Storm selbst meinte, daß die beiden Novellen »doch sehr verschiedenen Inhalts« seien (an Pietsch 1873). Aber wenn wir Storms und Kellers Dorfgeschichten mit den damals gängigen Dorfgeschichten, etwa mit Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten, vergleichen, dann ergeben sich doch bemerkenswerte Gemeinsamkeiten. Beide Dichter verzichten auf eine idyllische Ausmalung des Dorflebens, verzichten auf einen versöhnlichen Schluß. Beide gestalten das »Drama einer Leidenschaft auf dem Lande« und lassen dieses Drama tragisch enden. Bei Keller allerdings sind es mehr die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse, die die Liebenden in den Tod treiben; Storm betont stärker die besinnungslose Leidenschaft: ein Bauernsohn ertränkt sich im Moor, weil er nicht wiedergeliebt wird und weil er ohne die Liebe des schönen Slowakenmädchens nicht weiterleben kann. Diese Triebhaftigkeit trägt schon geradezu naturalistische Züge, wie sie später z. B. von Gerhart Hauptmann im Bahnwärter Thiel (1888) gestaltet worden sind.

 

Sprachliche und sachliche Erläuterungen

01. Amtsvogtei] Anklang an das alte schleswig-holsteinische Amt (Landvogt, Landvogtei), das bis 1867, also solange Justiz und Verwaltung nicht getrennt waren, bestanden hat; Storm ist selbst von 1864-1867 Landvogt des Kreises Husum gewesen. Im Herzogtum Schleswig gab es keine Amtsvögte, sondern Landvögte (in Bezirken mittlerer Größe) und Hardesvögte (in den kleineren Bezirken).
02. Holzfrevler] Einer, der im Wald unbefugt Holz geschlagen bzw. gesammelt hat.
03. Gaserleuchtung] Straßenbeleuchtung durch Gas (1814 zum erstenmal als Straßenbeleuchtung in London, 1826 in Berlin eingeführt).
04. vor dem Wirtshause, wo damals die <. . .> Dörfer ihre Anfahrt hatten] Die Bauern bestimmter Dörfer fuhren bestimmte Wirtshäuser an (»Anfahrt«), um dort während ihres Stadtaufenthalts ihre Pferde auszuspannen und unterzustellen.
05. gedalbert] Auf dem Lande im niederdeutschen Raum gebräuchliche mündliche Form von »gealbert«.
06. Wagenstuhle] Bezeichnung für einen Sitzplatz im Wagen.
07. geplagt] (Nd.) Bearbeitet, gequält.
08. des Eingesessenen] In ländlichen Gebieten wird als Eingesessener ein Dorfbewohner bezeichnet, dessen Familie aus der Gegend stammt und Haus- und Grundbesitz hat. Wie aus Urkunden dieser Zeit hervorgeht, die Storm als Landvogt unterschrieben hat (Storm-Archiv), war die Bezeichnung »Eingesessener« gerade auch amtlicherseits gebräuchlich. Dieses Wort unterstreicht also den registrierenden Kanzleistil, den Storm hier durchklingen läßt.
09. wie mir bekannt war] Die Amtsverwaltung führte auch die Schuld- und Pfandprotokolle, die Vorläufer der heutigen Grundbücher; sie war daher also auch über die Belastung der Höfe im Bilde.
10. Masse] Der gesamte Nachlaß, das vererbbare Gut.
11. Gevollmächtigten] Angesehener Landbesitzer, der als gewählter Vertreter seines Kirchspiels »bevollmächtigt« ist, die Interessen der Bauern in der Amtsverwaltung zu vertreten.
12. Sacktuch] Schnupftuch, Taschentuch.
13. Hufners] Hufe: altes Ackermaß; auch: Bauernhof; Hufner: Besitzer eines Bauernhofs.
14. Verspruch] Verlobung.
15. Dirne] Mädchen; im älteren Sprachgebrauch noch ohne abwertenden Beiklang; bei Storm vielleicht von nd. Deern beeinflußt.
16. Actum ut supra (Lat.) »Verhandelt wie oben.« Schlußformel bei der Aufnahme von Protokollen oder der Anfertigung von Rechtsurkunden.
17. Neustadt] Hier: Straßenname (bis heute der Name einer Straße in Husum, die nach Norden aus der Stadt herausführt; die Gasthöfe an dieser Straße wurden bis in neuere Zeit vom Viehhandel genutzt).
18. mit einem jütischen Bauern] Bauer aus Jütland; Jütland: dänische Provinz, nördl. Teil der Cimbrischen Halbinsel.
19. Hundertunddörtig] (Nd.) Hundertdreißig.
20. klatschend fielen die Hände in einander] Der Handschlag als Geste, mit der Viehverkäufe rechtsverbindlich besiegelt wurden.
21. Geldkatze] Langer, lederner Geldbeutel, der um den Leib geschnallt wurde.
22. Rickwerk] Anbindevorrichtung für Pferde (nd. Rick »Stange«).
23. <er hat> bös verspielt] Er ist abgemagert, sieht kränklich aus (aus nd.: he het bannig verspelt).
24. Kuratel] Pflegschaft, Vormundschaft.
25. Bauervogt] Bäuerlicher Gemeindevorsteher; die Form »Bauervogt« (ohne »n«) ist von nd. »Buurvagt« beeinflußt.
26. Auswandererschiffe] Schiff, das Auswanderer nach Amerika brachte. Stärkere Auswanderungsbewegungen entstanden in Deutschland nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, nach den Hungerjahren 1816/17 und mit der Zunahme der Bevölkerung. In Schleswig-Holstein setzte die Auswanderungswelle erst nach 1850 ein; einen ihrer Höhepunkte erreichte sie zu Storms Zeiten in den Jahren 1865/66 und 1870; Ausschiffungshafen war meist Hamburg.
27. Spillbaum] Auch Spindelbaum, Pfaffenhut und Hundsbaum genannt (lat. Evonymus), 3 m hoher Strauch mit Blättern und Fruchtkapseln (»Pfaffenkäppchen«), die sich im Herbst rot färben.
28. des sogenannten »wilden Moors«] So heißt heute noch das Moorgebiet zwischen Schwabstedt und Ostenfeld, südöstlich von Husum.
29. den »weißen Alp«] Alb: Nachtgespenst, Nachtmahr, eine Art Vampir.
30. Futterhemd] Gefütterte Jacke aus festem Woll- oder Baumwollstoff ohne Knöpfe, die als Arbeitskleidung über dem Hemd getragen wurde.
31. Vorspuk] Ankündigung, Vorzeichen, nd. »Vörspök«.
32. Ringlaufen] Kinderspiel, bei dem im Laufen ein (an einem Seil hängender) Ring mit einer Lanze getroffen (gestochen) und heruntergeholt werden muß (vgl. Ringreiten).
33. ließen ihr <....> gut] Standen ihr gut; bei Storm nd. Einfluß.
34. Hans Hoffart] Ein übermütiger, >hoch< hinausfahrender Bursche; Prahlhans.
35. Haff] Das Meer über dem Watt. Unterschiedliche Schreibung: in Meeresstrand z. B. »Haf«, in Pole Poppenspäler »Haff«, im Schimmelreiter durchgehend »Haf«. Hier an dieser Stelle hat Storm in den Korrekturbogen ausdrücklich »Haff« am Rand vermerkt.
36. räsonierte] Schimpfte.
37. kujonieren] Schikanieren, schlecht behandeln.
38. da hatte < . .> eine Eule gesessen] Aus der nd. Redewendung dor hett een Ul seten: daraus ist nichts geworden, das ist nicht geglückt.
39. haben sie die Sympathie gebraucht] Sie haben eine Methode angewandt, die sich geheimnisvoller Kräfte bedient, welche aus der »Sympathie« zwischen verschiedenen »Körpern« entstehen (z. B. durch Handauflegen, Besprechungen, Gebete, Kräuter, Salben usw.).
40. Schick] Richtige Ordnung (vgl. »was sich schickt«).
41. eingewallte Acker- und Wiesenstücke] Mit Erdwällen umgebene Acker- und Wiesenstücke (auf der schleswig-holsteinischen Geest gebräuchliche Feldeinfriedigung); wenn die Wälle mit Büschen bepflanzt sind, werden sie >Knicks< genannt.
42. so was simpel] Etwas einfältig (umgangssprachlich; eigentl. aus franz. simple; hier: aus nd. simpel).
43. der weiße Sand auf den Dielen] Früher wurden in Norddeutschland die Fußböden nach dem Scheuern mit Seesand bestreut.
44. die blanken Messingknöpfe an dem Beileger-Ofen] (Nd. Bilegger) Eiserner, kastenförmiger Ofen im Wohnzimmer, der vom Nebenraum her geheizt wird und an den Ecken mit abschraubbaren Messingknöpfen besetzt ist.
45. Wandbetten] In Wandnischen eingebaute Betten, Alkoven.
46. Ost un West, to Huus is best] (Nd.) Osten und Westen, zu Hause ist es am besten.
47. Schatulle] Kommode mit schrägem, aufklappbarem Aufsatz (nd. Schatull).
48. mit seinen Grillen] Mit seinen Launen, wunderlichen Einfällen.
49. Johanni] 24. Juni, Geburtstag Johannes des Täufers.
50. Nähstein] Kugelförmiger Stein, der als Nähkissen oder zum Glätten der Nähte benutzt wird.
51. hintersinnig] Trübsinnig, schwermütig.
52. Sie hat wieder ein neues Glas gekriegt] Sie hat wieder ein neues, in einem Glas Wasser aufgelöstes Arzneimittel bekommen.
53. Punktierbuch] Wahrsagebuch, dem die Bedeutung von Figuren entnommen wird, die entstehen, wenn man willkürlich hingeworfene Punkte miteinander verbindet
54. versehen] Falsch gesehen, falsch gemacht.
55. Beiläuferin] Konkubine, Geliebte.
56. Fensterläden] Hölzerne Fensterflügel, die von außen zum Schutze und zur Verdunkelung vor die Fenster geklappt werden (oft mit einer kleinen Öffnung, hier mit einem Herz, versehen).
57. verstürzt] Erschrocken, ratlos, fassungslos (vgl. bestürzt).
58. Wischen] (Nd. mit »i« oder »ie«) Wiesen.
59. blenkern] (Nd.) Glänzen.
60. Lebiges] Lebendiges.
61. Bettband] Ein an der Decke des Alkovens befestigtes Seil mit Handgriff, mit deren Hilfe Kranke sich im Bett aufrichten können.
62. steidel] (Nd.) Steil.
63. Unschlittkerzen] Kerzen, die aus Unschlitt (Rinder- oder Hammeltalg) hergestellt sind.
64. Setzwirt] Bauer (Wirt), der auf einen Bauernhof gesetzt wird, um ihn zu verwalten.
65. Bräune-Anfall] Angina-Anfall.

 

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