Dokument vom:
18.09.2008
Der Schimmelreiter - Kontext

Stellung im Kontext von Storms Werk

 

 

Von allen Prosawerken gilt die Altersnovelle „Der Schimmelreiter“ als die bedeutendste Leistung des Husumer Dichters. Entsprechend vielfältig sind die innerhalb des 20. Jahrhunderts vorgelegten Interpretationen, und kaum ein anderer Erzähltext Storms wurde hinsichtlich seiner Entstehung und seiner Quellen genauer untersucht. Die publikumswirksame literarischen Fiktion wurde sogar in die kollektive Vorstellung derjenigen Leser übertragen, die in der Region leben oder sich durch ihre Storm-Lektüre dem Handlungsraum der Erzählung nahe fühlen. So ist die literarische Gestalt zu einer vermeintlichen Sagengestalt geworden, eine Umkehrung des sonst üblichen Prozesses, in dem regionale Sagengestalten von Schriftstellern zu literarischen Figuren umgeformt werden.
Begonnen hatte Storm in den 1840er Jahren mit kleineren Skizzen, in denen er zunächst historische Texte, darunter auch schriftlich und mündlich überlieferte Materialien, zu Erzähltexten formte. Vom Novellisten Storm ist zu dieser Zeit noch wenig zu erkennen; der Dichter schreibt Stimmungsbilder, in denen er typische Situationen aus bürgerlichen Lebensverhältnissen erzählt. Mit „Immensee“ findet er um 1850 zu einer geschlossenen Form. Noch sind es tastende Versuche, die sich auch in gründlicher Umarbeitung der beiden ersten längeren Erzählungen zeigen, doch gelingt es Storm hier zu ersten Mal, die sonst isolierten Stimmungsbilder durch eine erzähltechnische Klammer zu einem Ganzen zu komponieren. Dazu verwendet er seine Fähigkeit zur Schilderung von Empfindungen und Stimmungen, die Gefühle transportieren können, wie er es in seiner Lyrik gelernt hat; zugleich orientiert es sich an der Erzählkunst der Romantik, die er zunächst noch kopiert.
1852 sichtet Storm seine bisherigen lyrischen Werke und veröffentlicht seine „Gedichte“ in Kiel. Der schmale Band mit 87 Gedichten wird von der Literaturkritik aufmerksam zu Kenntnis genommen und auch gelobt; der Absatz aber bleibt bescheiden. Und auch ein zweites Buchprojekt mit dem Titel „Sommergeschichten und Lieder“ kann in diesen Jahren diesmal in Berlin verwirklicht werden; durch „Immensee“ wird Storm nun weiteren Kreisen bekannt; die resignative Stimmung, die dieser Novelle ihr eigentümliches Gepräge verleiht, trifft offenbar die Zeitstimmung nach der gescheiterten Revolution. Die Novelle wird zur erfolgreichsten Arbeit zu Storms Lebzeiten; insgesamt sind bis 1888 30 Auflagen gedruckt worden.
Zwischen 1853 und 1864 lebt Storm in Preußen und arbeitet dort als beamteter Jurist; vor allem durch die kritische Begleitung der Berliner Freunde, unter denen Theodor Fontane der bedeutendste war, erwarb sich Storm nach und nach eine hohe literarische Meisterschaft. Zunächst erkannte er die Bedeutung von tragfähigen Stoffen für die Novellistik und eignete sich die Technik der Rahmenerzählung an, die es ihm ermöglichte, durch die Einführung von fiktiven Erzählerpersönlichkeiten Distanz zum Erzählten zu erzeugen. Als er sich dann Ende der 1850er Jahre an realistische Stoffe wagte, mit denen er bedeutsame gesellschaftliche Veränderungen in Deutschland darzustellen vermochte, gelang ihm der Durchbruch. Nach seiner Rückkehr nach Husum entstanden Jahr für Jahr ein bis zwei Novellen, in denen er sich unterschiedlichen Stoffen zuwandte und immer neue Rahmenvarianten des Erzählens erprobte.
Storms konnte sich nach 1870 am literarischen Mark etablieren und galt den Zeitgenossen als bedeutender Erzähler, der die realistischen Stoffe poetisch zu verallgemeinern verstand. Der poetische Realismus verlangt die Darstellung von wirklich wichtigen Themen der Zeit, also von gesellschaftlichen Veränderungen, die das 19. Jahrhundert geprägt haben. Dies sollte aber in einer „schönen“ Form geschehen, das heißt, man erwartete vom Novellisten, dass er die harte und oft brutale Wirklichkeit in einem „goldenen“ Schimmer der Poesie künstlerisch so darstellte, dass die einzelnen Lebensschicksale, von denen er erzählte, für den Leser als allgemein gültige Erscheinungen wahrgenommen und auch genossen werden konnten. Das setzte einer gesellschaftskritischen Literatur enge Grenzen, die Storm aber immer wieder auszufüllen verstand, ohne die Regeln von Schicklichkeit und Anstand zu verletzen.
Nach 1875 wandte sich Storm vor allem historischen Ereignissen zu und verfasste eine Reihe von Chroniknovellen; aber immer blieben seine Themen mit den gesellschaftlichen Veränderungen in Familie und Gemeinschaft verbunden, wie er sie in seiner bürgerlichen Welt erlebte. Seine Themen kreisen vor allem um die Frage, wie der Mensch sein Leben jenseits von christlicher Religion und ohne göttliche Transzendenz selber gestalten könne. Dabei nahm Storm eine kritische Haltung gegen den Adel ein, dessen Privilegien er ablehnte und forderte ein auf aufgeklärtes, reines Menschentum gegründetes demokratisches Gemeinwesen. Mit zunehmendem Alter beschäftigte er sich immer öfter mit Problemen der Vergänglichkeit und fragte nach den Gründen des menschlichen Scheiterns und der menschlichen Schuld.
Im Detail wie im Ganzen erweist sich Storms Schreibprozess im Alter als außerordentlich strukturiert und zielgerichtet; der Dichter hatte von Anfang an ein klares Konzept vor Augen; dies betraf nicht nur den Stoff der Erzählung, sondern auch die Form, in die er seine Novellen kleiden wollte. Die lange Erfahrung mit Erinnerungsmotiven, die genaue Kenntnis von Rahmenstrukturen und nicht zuletzt die Meisterschaft, mit der Storm Situationen angemessen schildern konnte, ermöglichten es dem schwer kranken Autor, am Ende seines Lebens mit dem „Schimmelreiter“ noch einmal ein Meisterwerk zu schreiben, mit dem er nicht nur die Summe seiner novellistischen Schaffens zog, sondern das zugleich in Richtung auf den Roman verweist; eine Gattung, in der er vielleicht auch noch Bedeutendes zu leisten imstande gewesen wäre, hätte der Tod dies nicht verhindert.
Noch vor Beendigung der Reinschrift äußerte Storm gegenüber Paul Heyse, er hätte dieses Werk besser zehn Jahre früher schreiben sollen; vielleicht wäre es ihm zu diesem Zeitpunkt leichter gefallen; die Souveränität, mit der er trotz der vielen Probleme bei der Niederschrift sein Projekt vorantrieb und schließlich zu einem guten Abschluss brachte, ist erstaunlich und steht im Widerspruch zu mancher wehleidiger Äußerung, die er während seiner letzten Lebensjahre getan hat. Verständlicherweise kamen ihm zum Abschluss der Arbeit noch einmal Zweifel. Emilie Gräfin zu Reventlow gegenüber gab er am 5. Februar 1888 seiner Hoffnung Ausdruck, dass sein „Schimmelreiter“ ihr ein gewisses Interesse abgewinnen möge, obwohl „er auch kein Meisterstück geworden“ sei. Diesem zu selbstkritischen Urteil hat sich keiner seiner Leser angeschlossen. Im Gegenteil: Storms Ruhm gründet bis heute im Wesentlichen auf der Größe seiner letzten Novelle.

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