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18.09.2008
Draußen im Heidedorf - Didaktische Grundlagen

Didaktische Grundlagen

 

Im Rahmen des Kursthemas "Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts" wurde die Erzählung Storms als Beispiel für die Novellendichtung der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts behandelt (poetischer Realismus). Durch den regionalen Bezug der Handlungsräume ergab sich ein besonderer Anreiz für eine Erforschung "vor Ort", die mit Informationen über die Arbeit eines Literaturarchivs verbunden wurde. Den Schülern stand als Textgrundlage die in dieser Präsentation enthaltene Textfassung zur Verfügung, die der kritischen Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag folgt, da es augenblicklich keine preiswerte Leseausgabe der Novelle im Buchhandel gibt: Theodor Storm. Sämtliche Werke, Bd. 2, hg. von Karl Ernst Laage. Frankfurt am Main 1987. Die sprachlichen und sachlichen Erläuterungen wurden ebenfalls dieser Ausgabe entnommen und leicht modifiziert. Darüber hinaus standen den Schülern Kopien des wissenschaftlichen Apparats dieser Ausgabe und weitere Materialien im Storm-Archiv zur Verfügung. Im Unterricht wurde vom Lehrer die Textkonstitution dieser Storm-Ausgabe und ihre Kommentierung als eine Möglichkeit wissenschaftlicher Editionsarbeit vorgestellt.

 

Der poetische Realismus

Theodor Storm ist einer der meistgelesenen Autoren des 19. Jahrhunderts; in der Schule erleben seine Novellen - insbesondere "Pole Poppenspäler" und "Der Schimmelreiter" - gegenwärtig eine Renaissance. Die Bedeutung der Stormschen Novellistik als Beitrag zum poetischen Realismus ist von der Forschung während der letzten 20 Jahre herausgearbeitet worden; biographische Materialien und andere bisher unbekannte Dokumente wurden erschlossen und ermöglichen neue Sichtweisen auf den Dichter aus Husum.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts setzt sich ein neuer Realismusbegriff durch, der den nationalstaatlichen Vorstellungen des Bürgertums entspricht und durch das naturwissenschaftliche Denken geprägt ist.

Ausgangspunkt für die Programmatik des R. war die Ablehnung der Literatur des Jungen Deutschland und des Vormärz und ihrer sog. subjektiven Reflexionspoesie ohne Basis in der Wirklichkeit. Dagegen wurde die Forderung nach einer Darstellung ›objektiver‹, geschichtlich begründeter sittlicher Verhältnisse erhoben, für die trotz der gescheiterten bürgerlichen Revolution der Boden bereitet sei: Auch ohne die politische Selbstbestimmung sei das Bürgertum dank seiner sittlichen Überlegenheit, die bereits das private und wirtschaftliche Leben durchdringe, auf dem Weg zur politischen Macht. Insofern biete die dt. Wirklichkeit die Grundlage für eine objektive Literatur und Kunst. Hauptorgan des programmatischen R. war die von Gustav Freytag und Julian Schmidt herausgegebene Zeitschrift Die Grenzboten (1842–1922). Die Forderung nach ästhetischer Objektivität gilt allerdings nur mit einer bezeichnenden, in der idealistischen Grundlage des bürgerlichen R. angelegten Einschränkung: Die Kunst habe zwar die Erfahrungswirklichkeit und ihre Widersprüche darzustellen, aber sie müsse zugleich auch ›verklären‹ (Otto Ludwig: »Poesie der Wirklichkeit, die nackten Stellen des Lebens überblumend«). Daher spricht man auch von ›poetischem R.‹. Zu den wichtigsten konkreten poetologischen Forderungen des R. gehören: Vermeidung rhetorischer Prinzipien, etwa des Allegorischen oder Tendenziösen, ›Verklärung‹ des Alltags und Verwendung des mittleren Stils, Stoffe aus dem Bereich des handel- und gewerbetreibenden Bürgertums, Prosa, zurückhaltende, ›objektive‹ Erzählergestalt in Novelle, Erzählung und Roman. Allerdings zeigen sich – etwa in der Erzählerfrage, aber auch in der Einschätzung des Bürgertums – bedeutende Unterschiede zwischen dem programmatischen R. der unmittelbar der 48er-Revolution folgenden Periode und dem Spätrealismus. [...] Die konzentrierte Form der Novelle entsprach mit ihrem kunstvollen, aber nicht ironisch gebrochenen Erzählen und mit ihrer distanzierenden Rahmentechnik in hohem Maß der Forderung der Objektivität (Gottfried Keller, Theodor Storm, Conrad Ferdinand Meyer); ihren großen Erfolg verdankte sie aber auch der Entwicklung des Buchmarkts (zahlreiche neue Zeitschriften; Familienblatt, Feuilleton).
(Volker Meid: Sachwörterbuch zur deutschen Literatur. Stuttgart 2000.)

Hauptproblem des poetischen Realismus war die Überwindung des Gegensatzes der "Prosa der Verhältnisse" und der "Poesie des Herzens", wie es in zeitgenössischer Metaphorik ausgedrückt wurde; Storm löste dieses Problem, indem er auf das "Motivieren vor den Augen des Lesers" verzichtet und seine Stoffe "symptomatisch" behandelt, d.h. er führt uns aus der Perspektive eines oder mehrerer Erzähler Ausschnitte aus dem Ganzen der Ereignisse vor und überlässt es uns - seinen Lesern -, sich aus diesen Andeutungen ein eigenes Bild zu rekonstruieren. Dabei beabsichtigt er, die Dinge sowohl wirklichkeitsgetreu als auch in einer allgemeinen, moralischen und auch schönen Weise darzustellen. Dies setzt die Beherrschung des literarischen Handwerks voraus und zeigt sich vor allem in der Stormschen Erzählkunst, die sich dadurch auszeichnet, dass zwischen dem wirklichen Leben, von dem der Dichter seinen Ausgang nimmt, und dem Bild, das die Dichtung davon entwirft, keine grundsätzliche Differenz herrscht. Allein die Art der Darstellung durch Verallgemeinerung, Ordnung und Klärung macht das Poetische und damit in gewisser Weise Verklärende des Stormschen Erzählens aus. Dass für den Leser tatsächlich Spielräume möglicher Deutungen geschaffen werden, zeigt das nach wie vor ungebrochene Interesse an seinem Werk; dass diese Deutungen aus einer Unzahl von möglichen Lesarten ein und derselben Texte bestehen können, belegen die vielfältigen Interpretationen, die noch immer von Literaturwissenschaftlern vorgelegt werden.
Storms Erzählkunst zeigt eine allmähliche Entwicklung von einfachen Situationsbeschreibungen bis zur meisterhaften Beherrschung komplexer Rahmenerzählungen.

Die Entwicklung der Stormschen Erzählkunst

Der Schimmelreiter (1888)

Ein Doppelgänger (1887)

Ein Bekenntnis

multiperspektivische Erzählkunst an der Grenze zum Roman

gesellschaftspolitische Probleme: z. B.: "soziale Frage", Sterbehilfe etc.

Chroniknovellen historische Stoffe
moderne Psychologie
Rahmenstruktur
Erinnerungsperspektive
Spätwerk geschlossene erzählerische Qualität
Draußen im Heidedorf (1872) "Schwester des Dramas" geschlossener Handlungszusammenhang um einen zentralen Konflikt organisiert
Eine Halligfahrt (1871)
In St. Jürgen (1867)
Abseits (1863)
Experimente mit der Erzählform
Auf der Universität (1862) Kritik am Adel
Verzicht auf Motivationen
Im Schloß (1862) Darwinismus
Veronica (1861) Kritik an der Institution Kirche sozialgeschichtliche Stimmigkeit
Auf dem Staatshof (1858) konkreter Lokalton
symptomatische Darstellungsweise
Ich-Erzähler als teilnehmende Figur
Ein grünes Blatt (1854) politische Handlungsperspektiven
Immensee (1850) resignative Situationsschilderung
Posthuma (1849) kein gestaltender Wille
Marthe und ihre Uhr (1848) Stillstand der Zeit
lyrische Stimmung
frühe Schreibexperimente
(Anekdoten, Sagen, Märchen, Spukgeschichten)
Aneignung von Stoffen

 

Zur Novelle

In seiner heute wenig bekannten Novelle "Draußen im Heidedorf", erzählt Theodor Storm von einem Kriminalfall. Ein junger Bauer, Hinrich Fehse, ist einem jungen Mädchen slovakischer Herkunft verfallen. Margreth Glansky erwidert seine Liebe nicht, nimmt aber die Geschenke des um sie werbenden Mannes an. Hinrich Fehse, der aus finanziellen Gründen eine reizlose, aber vermögende Bäuerin heiraten musste, kann ohne Margreth nicht leben und begeht Selbstmord, nachdem seine Geliebte sich geweigert hat, mit ihm nach Amerika auszuwandern.

Dieser Stoff wird vom Erzähler in einen Zusammenhang gestellt, der sich räumlich und zeitlich genau identifizieren lässt: Das Dorf liegt nördlich von Schwabstedt am "Wilden Moor" in einem Treenebogen, die nahe Stadt trägt eindeutig Züge Husums. Die erzählte Zeit liegt etwa sechs Jahre vor der Niederschrift durch Storm im Jahre 1872, also spielen die Ereignisse um 1866. Auch zu den Umständen des Erzählens lassen sich biographische Beziehungen herstellen: In dem "Amtsvogt", der uns von den Ereignissen berichtet, zu deren Ermittlung er dienstlich verpflichtet ist, erkennen wir unschwer Theodor Storm, der seit 1864 in Husum das Amt des Landvogts bekleidete.

Dieses Beispiel zeigt, wie der Erzähler Theodor Storm arbeitet; der Dichter gewinnt viele seiner Stoffe aus Erlebnissen und Erfahrungen seiner unmittelbaren Umwelt; er verarbeitet die Kenntnis von Personen und ihres Umfeldes zur Darstellung bedeutsamer Lebenskonflikte, er stellt seine Personen in Lebenszusammenhängen dar, die er aus der eigenen Wahrnehmung zu fiktiven Räumen neu zusammensetzt und er reflektiert über die Umstände menschlicher Handlungen in zumeist extremen Situationen. Dies alles erzählt der Autor seinen Lesern nicht unmittelbar, sondern er erfindet fiktive Erzähler, die innerhalb der Novellen auftreten und eine besondere Rolle spielen, und so - gleichsam zwischen Autor und Leser als neue Instanz eingeschaltet - einen gefilterten Bericht von dem Geschehen liefern. Die Ereignisse werden uns also nicht dokumentarisch vorgeführt, sondern in kunstvoller Weise inszeniert.

In der Novelle "Draußen im Heidedorf" hat Storm eine Erzählinstanz geschaffen, die sehr starke autobiographische Züge trägt. Der Amtsvogt in der Novelle verweist auf das alte Schleswig-Holsteinische Amt des Landvogts, das Storm von 1864 bis 1867 in Husum ausübte. In einem Brief an seine zweite Ehefrau Dorothea Jensen berichtet Storm im Frühjahr 1866 über einen Fall, mit dem er dienstlich befasst war:

Ein junger Mann, der sich durch Liebschaften und Schulden sein Leben anscheinend unheilbar zerrüttet hat, war seit einigen Tagen verschwunden. Ich ließ alle Trinkgruben u. Brunnen d. Dorfes absuchen, heut ist er in Rantrum tot in einer Trinkgrube gefunden, die Frau ist schwanger. Gestern um 9 kam ich von jener traurigen Fahrt zurück. Es war der Leichnam eines stattlichen jungen Mannes, der am Rande der öden Mergelgrube lag. Von dort fuhren wir nach Rantrum und ich vernahm zuerst s<eine> schwangere junge Frau, die er nicht geliebt, aber geheiratet hatte, um mit Beihülfe ihres Geldes den väterlichen Besitz auf<b>essern zu können u. dann das bezaubernde in süßester Jugendfrische blühende Kind, die er schon, da sie noch fast ein Kind gewesen, geliebt und um die er sich, mir ganz unzweifelhaft, den Tod gegeben. Sie war wahrscheinlich auf Antrieb seines Vaters von ihrer Mutter (Hebamme) fortgeschickt gewesen, aber nachdem s<eine> Ehe ein Jahr lang gedauert, zurückgekehrt. Nun ist er wieder zu ihr gegangen u. hat sich aus diesen wunderbaren Augen Leidenschaft u. Tod getrunken. Ein Tag vor seinem Selbstmord ist er nach ihrer Angabe zuletzt bei ihr gewesen, auffallend niedergeschlagen u. hat gesagt, er halte das Leben zu Haus nicht aus, es brächte ihn unter die Erde. Dann ist er eines Abends 9 ½ Uhr im Arbeitszeug in der Dunkelheit fortgegangen, hat zu seinem 10jährigen Bruder ein letztes Wort gesagt, das dieser nicht verstanden u. ist geradewegs nach der ½ St<unde> entfernten Grube gegangen, denn d. Uhr, die wir aus seiner Tasche zogen, stand auf ¼10. Die Frau, die ihn sehr geliebt u. ihm, wenn überhaupt nur milde Vorwürfe gemacht zu haben scheint, hatte ihn d. Abends, da sie schon im Bett war, auf die Außendiele treten, dann aber d. Stubentür vorbei wieder aus dem Haus gehen hören. Das junge Mädchen schien beim Verhör eigentlich nur von Angst vor irgendeiner kriminellen Verantwortung erfüllt. Sie war in höchster Aufregung, aber von Schmerz um den Toten gewahrte ich nichts - obgleich sein nackter Leichnam eben ins Dorf gefahren wurde. -

Man erkennt also, dass Storm einen juristischen Fall aus eigenem Erleben als Grundlage für seine Erzählung verwendet hat. Die deutliche Nähe der Stormschen Novellistik zur eigenen Lebenswirklichkeit hat um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Vertreter der Heimatkunstbewegung in Schleswig-Holstein dazu bewogen, Storms Werk als "Heimatdichtung" zu bezeichnen und damit abzuqualifizieren. Es handelte sich um eine ideologische Bewegung, die ein kritisches Verhältnis zur Verstädterung und Industrialisierung des deutschen Reiches vertrat. Vom Gedanken eines lebendigen Organismus her wurden die als "unnatürlich" und "tot" empfundenen kulturellen Erscheinungsformen und staatlichen Organisationsstrukturen der Moderne bekämpft; den zeitgenössischen literarischen Strömungen wurden Werte wie Blut und Boden, Heimat, Nation und Tradition entgegengesetzt. Literarischer Anknüpfungspunkt war die Dorfgeschichte des 19. Jahrhunderts, in der Autoren wie Adolf Bartels die einzig lebenswerte Gegenwelt zur Verstädterung sahen. Die damals entstandenen Heimatromane sind allerdings von einem extrem provinziellen und kleinbürgerlichen Denken geprägt und beanspruchen zu Unrecht, eine Tradition von Autoren wie Hebbel, Stifter, Keller und Storm fortzusetzen. Allerdings hat diese Bewegung die Storm-Rezeption vieler Leser des 19. Jahrhunderts nachhaltig geprägt.

Vorläufiger Höhepunkt war eine Charakterisierung Storms durch Friedrich Düsel, der 1916 in dem Gedenkbuch zum 100. Geburtstag Storms über dessen Gegenwartsbedeutung schrieb:

Sie liegt in der Heimatliebe und Heimattreue, in der seine Persönlichkeit wurzelt; sie liegt in der deutsch-nationalen Gesinnung, von der seine Dichtung erfüllt ist; sie liegt in den Kräften tapferer, aufrechter Mannhaftigkeit, die zumal in den späteren Schöpfungen den Pulsschlag seines Wesens ausmachen.

Kein Geringerer als Thomas Mann, der seine eigenen Dichtungen in vielfacher Hinsicht auf Storm-Lektüren zurückzuführen wusste, entwarf im Jahre 1930 ein ganz neues Storm-Bild und grenzte es von Düsels Literaturverständnis ab: "Das hohe und innerlich vielerfahrene Künstlertum Storms hat nichts zu schaffen mit Simpelei und Winkeldumpfigkeit, nichts mit dem, was man wohl eine Zeitlang ‚Heimatkunst’ nannte." Allerdings hat kaum jemand auf den bedeutenden Erzähler aus Lübeck gehört; Storms Werk blieb für weitere 30 Jahre mit einem unheilvollen Heimatbegriff verknüpft und wurde dadurch verkleinert und bagatellisiert.

Die Heimatkunstbewegung in Schleswig-Holstein hat den Poetischen Realismus grundlegend missverstanden. Storm hat – wie andere seiner literarischen Freunde und Zeitgenossen auch – den Kunstcharakter seiner Erzählungen häufig verborgen, d. h. er verzichtet darauf, die Figuren in seinen Erzählungen resonieren zu lassen und gibt den Lesern keine Deutungshinweise durch aufgesetzte Kommentare. Es ist gerade die Kunst des Poetischen Realismus, diese Zusammenhänge für den Leser szenisch zur Anschauung zu bringen. Das setzt aber voraus, dass die Leser und Interpreten Storms Signale auch wahrnehmen und die verschlüsselten Botschaften zu deuten bereit sind. Gerade dies aber haben viele Heimatkunstapologeten entweder nicht gekonnt oder nicht gewollt. Sie verwechseln ihre Sympathie für die dargestellte, ihnen vertraute Welt mit der künstlerischen Qualität der Texte. Diese entsteht bei Storm aus dessen Kunstverstand und seinem poetischen Handwerk.

Der fiktive Erzähler unserer Novelle ist ein gebildeter Mann, der ein hohes Amt in der kleinen Stadt bekleidet, die Storm als Kulisse für seine Erzählung gewählt hat. Er ist "Amtsvogt" und in dieser Funktion bereits vor den dramatischen Ereignissen draußen im Heidedorf mit der Person des Hinrich Fehse und seinen Lebensumständen befasst. Nach dem Tode des alten Hinrich Fehse wird unter seinem Vorsitz als Obervormund nämlich über die Vermögensverhältnisse der Ehefrau und des bereits mündigen Sohnes verhandelt und der ehemalige Küster des Dorfes als Vormund der Bauernwitwe eingesetzt. So lernt unser Erzähler aus dienstlicher Perspektive die Familie des späteren Selbstmörders kennen und er vermag ihre sozialen und finanziellen Verhältnisse analytisch zu beurteilen. Aber bereits vorher ist dem scharfen Beobachter etwas Besonderes aufgefallen. Gleich im ersten Abschnitt der Novelle lässt Storm seinen Erzähler eine Szene beobachten, die sich in der Stadt zugetragen hat:

Es war an einem Herbstabend; ich hatte in der Amtsvogtei ein paar am Mittag eingebrachte Holzfrevler vernommen und ging nun langsam meinem Hause zu. Die Gaserleuchtung war derzeit für unsere Stadt noch nicht erfunden; nur die kleinen Handlaternen wankten wie Irrlichter durch die dunklen Gassen. Einer dieser Scheine aber blieb unverrückt an derselben Stelle und zog dadurch meine müßigen Augen auf sich.
Als ich näher gekommen war, sah ich vor dem Wirtshause, wo damals die nach Ost belegenen Dörfer ihre Anfahrt hatten, noch einen angeschirrten Bauerwagen halten; der alte Hausknecht stand mit der Stalleuchte daneben, während die Leute sich zur Abfahrt rüsteten.
Macht fertig, Hinrich!« sprach es vom Wagen herab; »Ihr habt nun genug gedalbert! Carsten Krüger's und Carsten Decker's Frau warten alle Beid' auf ihre Stunde; es läßt mir nicht Ruh' mehr.« - Die etwas ältliche Stimme kam von einer breiten, anscheinend weiblichen Person, welche, in Tücher und Mäntel eingemummt, unbeweglich auf dem zweiten Wagenstuhle saß.
Ich war unwillkürlich an der Ecke der hier abgehenden Querstraße stehen geblieben. Wenn man stundenlang gearbeitet hat, so sieht man gern einmal die anderen Menschen eine Szene vor sich abspielen, und der Knecht hielt die Leuchte hoch genug, daß ich Alles bequem betrachten konnte.

Diese Inszenierung des Novellenbeginns zeigt, wie Storm medias in res springt und die Erzählerperspektive benutzt, und den Leser gleichsam wie im Theater die hell ausgeleuchtete Szene sehen lässt. Durch die Fokussierung auf den Ausschnitt, der durch das Licht der Lampe sichtbar wird, erscheint das Verhalten des Hauptakteurs, der sich in der schützenden Dunkelheit des Herbstabends vor fremden Blicken sicher weiß, für den Leser in heller Ausleuchtung. Die Wahrnehmungsperspektive des Amtsvogts lässt Dinge hervortreten, die in den Bereich des Privaten gehören, die nun aber öffentlich gemacht werden und den Leser in die Rolle des Zuschauers und des Mitwissers versetzen, der gleichsam vom bequemen Stuhl des Theaterzuschauers aus die agierenden Figuren mitfühlend oder auch distanziert beobachten und an ihrem Geschick, das sich nun in der Erzählung des Amtsvogts entfalten wird, teilnehmen kann.

Neben einer jugendlichen Frauengestalt, deren Wuchs sich auffallend von der gedrungenen Statur unserer gewöhnlichen Landmädchen unterschied, stand ein junger Bauer, dessen blondes krauses Haar unter der Tuchmütze hervorquoll; in der einen Hand hielt er Zügel und Peitsche, mit der anderen hatte er die Lehne eines hölzernen Stuhles gefaßt, der zum Auftritt an den Wagen gerückt war. Es lag etwas Brütendes in dem Gesicht des jungen Menschen; der breite Stirnknochen trat so weit vor, daß er die Augen fast verdeckte. - »Komm, Margreth, steig' nun auf !« sagte er, indem er nach der Hand des Mädchens haschte.
Aber sie stieß ihn zurück. »Ich brauch' dich nicht !« rief sie. »Paß du nur deine Braunen!«
»So laß doch die Narrenspossen, Margreth!«
Auf diese mit kaum verhehlter Ungeduld gesprochenen Worte wandte sie den Kopf. Bei dem Schein der Leuchte sah ich nur den unteren Teil des Gesichtes; aber diese weichen, blassen Wangen waren schwerlich jemals dem Wetter der ländlichen Saat- und Erntezeit preisgegeben gewesen; was mir besonders auffiel, waren die weißen spitzen Zähne, die jetzt von den lächelnden Lippen bloßgelegt wurden.
Sie hatte dem jungen Menschen auf seine letzten Worte nichts erwidert; aber nach der Haltung des Kopfes konnte ich annehmen, daß ihre Augen jetzt die Antwort gaben. Zugleich trat sie leise mit einem Fuße auf den Holzstuhl, und als er sie nun umfaßte, ließ sie sich weich an seine Schulter sinken, und ich bemerkte, wie ihre Wangen eine Weile an einander ruhten. Ich sah aber auch, wie er sie nach dem vorderen Wagensitze hinzudrängen suchte; allein sie entschlüpfte ihm und hatte sich im Augenblick auf dem zweiten Stuhl neben der dicken Frau zurecht gesetzt, die jetzt wieder ein »Mach' fertig, Hinrich, mach' fertig !« aus ihren Tüchern herausrief.
Der junge Bauer blieb noch wie unentschlossen an dem Wagen stehen. Dann zupfte er dem Mädchen an den Kleidern. »Margreth!« stieß er dumpf hervor, »setz' dich nach vorne, Margreth !«
»Viel Dank, Hinrich !« erwiderte sie laut, »ich sitz' hier gut genug.«
Der junge Mensch riß heftiger an ihren Kleidern. »Ich fahr' nicht ab, Margreth, wenn du nicht bei mir sitzen willst.«
Jetzt bog sie sich über den Rand des Sitzes zu ihm herab; ich sah ein Paar dunkle Augen in dem blassen Antlitz blitzen, und die weißen Zähne wurden wieder sichtbar zwischen den üppigen Lippen. »Willst du dich schicken, Hinrich!« sprach sie leise, fast wie mit verheißender Zärtlichkeit; »oder sollen wir ein ander Mal mit Hans Ottsen zur Stadt fahren? Er hat mich oft genug darum geplagt.«
Der junge Mann murmelte etwas, das ich nicht verstand; dann sprang er ungestüm zwischen die Pferde durch auf den vorderen Wagensitz, knallte ingrimmig mit der Peitsche und riß in die Zügel, daß die Braunen sich steil in die Höhe bäumten. Und gleich darauf, unter dem Aufschrei der Frauen, rasselte das Gefährt in die Nacht hinaus, daß der Holzstuhl vom Rade getroffen zertrümmert auf das Pflaster stürzte und der alte Hausknecht mit einem »Gott bewahr' uns in Gnaden« zurücktaumelte und dann scheltend mit seiner Leuchte durch die Haustür verschwand.

Damit hat uns der Amtsvogt das Wesentliche der folgenden Konfliktstruktur vorgeführt, aber nicht als nüchternen Bericht, sondern eben symptomatisch, indem uns das Verhalten der Personen beschrieben und ihre Dialoge mitgeteilt werden. Dadurch werden wir mit dem problematischen Beziehungsgeflecht zwischen Hinrich und Margarethe und dem Nebenbuhler Hans Ottsen ebenso bekannt wie mit der dumpfen Persönlichkeit Hinrichs und der schnippisch-berechnenden Verhaltensweise des schönen Mädchens, dessen von ihm selbst kaum gekannte Sinnlichkeit die engen Kreise des bäuerlichen Lebens im Heidedorf bedroht.

Die Region, also Husum und Nordfriesland mit dem Heidedorf und dem Wilden Moor, das noch seine Rolle in der Tragödie zu spielen hat, und der autobiographische Erzähler der Ereignisse, das sind die regionalen Grundlagen dieser Novelle. Dass Storm einen Amtsvogt erzählen lässt, kommt nicht von ungefähr. Im Jahre 1867, also in dem Jahr, in dem die Novelle spielt, bekleidete Storm das Amt des Landvogts von Husum.

Storm war also mit juristischen Fragen sehr vertraut; er kannte das alte Schleswig-Holsteinische Recht, hatte sich in einer Phase der Umstrukturierung mit dem Preußischen Landrecht und verschiedenen Prozessverfahrensregeln auseinandergesetzt und acht Jahre als Richter praktiziert. Nun veränderten sich durch die Ernennung zum Landvogt seine Aufgaben; an seinen Berliner Freund Ludwig Pietsch schrieb er über seine neue Position als Landvogt im April 1864:

Mein Amt gibt mir eine sehr selbständige und angesehene Stellung und ist mir in der ganzen Tätigkeit, die ich zu entwickeln habe, sehr lieb. Ich komme als Obervormund, Polizeimeister, Kriminal- und Zivilrichter viel mehr in rein menschliche Berührung, als dies in meiner früheren Stellung der Fall war.

Seit einer dänischen Neuregelung aus dem Jahre 1850 hatten die Landvögte die bis dahin durch die Amtmänner verhandelten summarischen Verfahren durchzuführen. Hierdurch entschied der Landvogt kleinere und eilbedürftige Fälle aus dem Zivil- und Verwaltungsrecht im Beisein des Actuars, der in Schleswig ein ausgebildeter Jurist war. Als Obervormund hatte Storm die Vormünder und Kuratoren zu bestellen und zu kontrollieren. In Erbschaftssachen war der Landvogt Erbteilungsbehörde. Er hatte auch, soweit erforderlich, einen Testamentsvollstrecker zu bestellen. Bei schriftlichen Grundstücksverträgen war er, neben anderen Amtspersonen, Solennitätszeuge. Bei Taxationen war er Protokollbeamter und konnte bei Differenzen eine neue Schätzkommission einberufen. Bei der Versteigerung von Immobilien war er amtlicher Auktionator. Auch Notariatsgeschäfte erledigte er. In Strafverfahren war er nach der dänischen Reform Einzelrichter. Der Landvogt war auch Polizeibehörde. Hatte der Amtmann die Oberleitung, so war der Landvogt untere Polizeibehörde, der dem Amtmann gegenüber weisungsgebunden war. Der Landvogt konnte bei Gefahr im Verzug sofort polizeiliche Eilmaßnahmen verfügen. Auch im Steuerrecht hatte er eine Funktion und musste z.B. rückständige Steuern eintreiben.

Eine Reihe dieser Funktionen nimmt auch der Amtsvogt in der Novelle wahr; die biographische Spiegelung lässt sich also bis ins Detail verfolgen und wir können sicher sein, dass der Autor Theodor Storm sehr genau kannte, was er seinem Erzähler über die juristische Seite des Falles Fehse in den Mund legte.

Die Novelle erreicht ihren ersten Höhepunkt, als der Erzähler einige Zeit später in seinem offenen Wagen in jenes Heidedorf fahren muss, weil ihm als Vertreter der Polizeibehörde angezeigt worden ist, dass "Hinrich Fehse seit letztem Sonntagabend verschwunden sei". Der Amtsvogt ermittelt also in seiner Funktion als Polizeibehörde.

Der von Storm erfundene Amtsrichter ist ein in vielen Facetten biographisch mit dem Autor identischer Jurist, ein studierter Mann, dem gehobenen Bürgertum zugehörig, der genau zu beobachten weiß und über besondere analytische Fähigkeiten verfügt. Durch die Wahl dieser Erzählerpersönlichkeit erhöht Storm die Authentizität des Erzählten, das er – in der Tradition des poetischen Realismus – in einer regional eindeutig bestimmbaren Kulisse inszeniert. Die Details werden so genau beschrieben, dass man noch heute die Handlungsräume der Novelle abschreiten und das Beschriebene im Detail nachvollziehen kann. Die zeitabhängigen Handlungsbedingungen, also das Dorfleben mit seinen gesellschaftlichen Konflikten und die juristischen Verhältnisse des Jahres 1866 im Herzogtum Schleswig, stimmen mit den gesellschaftlichen und politischen Lebensbedingungen der Stormzeit exakt überein. Dürfen wir bei diesem Befund bereits von großer realistischer Literatur sprechen? Ich meine: nein, dazu gehört noch etwas anderes, und das will ich Ihnen im Folgenden erläutern.

Wenn uns ein so genauer Beobachter vorgeführt wird, wie Storm dies mit seinem Amtsvogt tut, dann sollte man in der Tat auch als Leser genau hinsehen. Denn die exakte Schilderung von Menschen und ihren persönlichen Verstrickungen machen nur einen Aspekt der Novelle aus, der sich uns auf den ersten Blick aufdrängt. Bei einem zweiten Blick erleben wir den Amtsrichter in ganz anderer Weise. In der Erzählung heißt es:

- - Ich beschloß sofort, noch am Nachmittag die Sache an Ort und Stelle zu untersuchen. - Um desto unbehinderter zu sein, verzichtete ich auf einen Protokollführer und nahm nur den Amtsdiener als Begleitung mit. Wir fuhren auf einem offenen Wagen; denn es war ein milder Herbsttag, wie uns deren in unserer Gegend immer einige vor dem entschiedenen Eintritt des Winters beschert zu werden pflegen. Die lebendigen Hecken, welche wir während der ersten Stunde zu beiden Seiten des Weges hatten, trugen noch einen Teil ihres Laubes; hie und da zwischen Hasel- und Eichenbusch drängte sich ein Spillbaum vor, an dessen dünnen Zweigen noch die roten zierlichen Pfaffenkäppchen schwebten. Meine Augen begleiteten im Vorüberfahren das eben so sanfte, als schwermütige Schauspiel, wie fortwährend unter dem noch warmen Strahl der Sonne sich gelbe Blätter lösten und zur Erde sanken, zumal wenn vor dem Schnauben unserer Pferde eine verspätete Drossel, ihren Angstschrei ausstoßend, durch die Büsche flatterte.
Aber die Gegend wurde anders; die bewachsenen Wälle mit den bebauten Feldern dahinter hörten auf. Statt dessen fuhren wir hart am Rande des sogenannten »wilden Moors« entlang, das sich derzeit, so weit der Blick reichte, nach Norden hinauszog. Es schien hier, als sei plötzlich der letzte Sonnenschein, der noch auf Erden war, von dieser düsteren Steppe eingeschluckt worden. Zwischen dem schwarzbraunen Heidekraut, oft neben größeren oder kleineren Wassertümpeln, ragten einzelne Torfhaufen aus der öden Fläche; mitunter aus der Luft herab kam der melancholische Schrei des großen Regenpfeifers, der einsam darüber hinflog. Das war Alles, was man sah und hörte.
Mir kam in den Sinn, was ich einst - ich meine, über die noch von dem slavischen Urstamm bewohnten Steppen an der unteren Donau - gelesen hatte. Dort aus den Heiden erhebt sich in der Dämmerung ein Ding, das einem weißen Faden gleicht und das sie dort den »weißen Alp« nennen. Es wandert gegen die Dörfer, es stiehlt sich in die Häuser, und wenn die Nacht gekommen ist, legt es sich an den offenen Mund der Schlafenden; dann schwillt und wächst der anfänglich dünne Faden zu einer schwerfälligen Ungestalt. Am Morgen darauf ist Alles verschwunden; aber der Schläfer, der dann die Augen auftut, ist über Nacht blödsinnig geworden; der weiße Alp hat ihm die Seele ausgetrunken. Er bekommt sie nimmer wieder; weit auf die Heide hinaus in feuchte Schluchten, zwischen Moor und Torf, hat das Unwesen sie verschleppt.
Nicht der weiße Alp war hier zu Hause; aber zu anderen, nicht minder unheimlichen Dingen verdichteten sich auch die Dünste dieses Moores, denen manche, besonders der älteren Dorfbewohner, Nachts und im Zwielicht wollten begegnet sein.

Während seiner Fahrt von der Stadt ins Heidedorf - es gilt, den verschwundenen Hinrich Fehse zu suchen bzw. die Gründe für sein Verschwinden aufzuklären - resonniert dieser uns als genauer Beobachter und unbestechlicher Analytiker bekannte Jurist über Vampirismus und bringt die verführerische Margreth Glansky mit dem weißen Alp in Verbindung, der dem Menschen die Seele austrinkt. Dies steht in deutlichem Gegensatz zu den vielfältigen Bemühungen des Erzählers um einen möglichst kühlen, ruhigen und nüchternen Erzählton. Indem ausgerechnet der Amtsvogt Margreth mehrfach mit der Sage vom Alp in Verbindung bringt und sie dadurch zum Vampir dämonisiert – ich erinnere an die spitzen Zähne in der Novellen-Einleitung -, entsteht ein auffälliger Gegensatz zur präzise lokalisierbaren Szenerie und den scharfen Konturen, mit dem die Ausschnitte aus der Wirklichkeit in die erzählerische Fiktion eingebettet sind. Der Leser wird nun Zeuge der Vernehmungen im Heidedorf; wenn er aber erwartet, dass hier der aufgeklärte und nüchtern denkende gebildete Jurist einer abergläubischen Dorfbevölkerung gegenübergestellt wird, die in dem hübschen Slowakenmädchen die dämonische Verführerin und Verderberin des bodenständigen Bauernsohns sehen, so wird er eines besseren belehrt. Gerade unser Erzähler, der die Ereignisse auf dem Land zunächst aus der Distanz des Städters beschreibt und anschließend seine Beobachtungen aus der Nähe wiedergibt, weil er sie amtlich zu untersuchen hat, bestimmt, wer was zu erzählen hat. Ja, er geht noch einen Schritt weiter und wertet das dem Leser Vorgelegte, indem er eigene Vorstellungen zum Geschehen hinzufügt, die so gar nicht zu seiner Persönlichkeit und zur gesellschaftlichen Instanz, die er repräsentiert, zu passen scheinen. Damit enttäuscht Storm die Erwartungen seiner Leser, eine detektivische Analyse des Vorgefallenen im Sinne eines Sherlock-Holmes-Falles geboten zu bekommen. Stattdessen führt er uns auch das Seelenleben des Besuchers aus der Stadt vor, der sich beim Anblick des schönen Slowakenmädchens immer wieder dazu hinreißen lässt, uns seine innersten Überzeugungen kundzutun und der damit für den psychologisch aufmerksamen Beobachter eindeutig signalisiert, dass auch er der Faszination dieses "blutjungen" Menschenkindes unterliegt und dass es nur sein Amt, seine bürgerliche Erziehung und Stellung sind, die ihn wie ein Schutzschild umgeben und daran hindern, die eigenen Leidenschaften auszuleben, wie er es gebannt an Hinrich Fehse beobachtet. Denn er weiß, dass ein solches Verhalten selbstzerstörerisch sein muss, wenn er es wagen würde, Leidenschaft und Lebenslust ungezügelt auszuleben.

Der zweite Blick hat uns also eine weitere Ebene der Erzählkunst Storms eröffnet, das Spiel mit den Erzählerinstanzen, wodurch die Wahrheit des Erzählten dem Leser gleichsam zur Entscheidung vorgelegt wird. Storms Texte sind nie einsträngig erzählt, sondern weisen komplexe Strukturen auf. Dem Leser werden keine Lehren und Wahrheiten vermittelt, sondern Wahrnehmungen, Beobachtungen, Deutungen, Gefühltes und Erlebtes, manchmal auch Reflexionen vorgelegt, aus denen er sein eigenes Bild der Vorgänge rekonstruieren muss. Dadurch werden die Text vieldeutig und entziehen sich der allzu schnellen Kategorisierung und Deutung.

Wir wollen uns ein letztes Mal den Text genauer anschauen. Als der Amtsvogt Margarethe verhört, vermittelt der Jurist uns Lesern kein einfaches Protokoll, wie er es vielleicht im Anschluss an seine Ermittlungen aufgezeichnet hat, sondern er schildert uns die Umstände der Vernehmung:

Als ich wieder in das Zimmer trat, fielen schon die schrägen Strahlen der Abendsonne durch die Fenster. Das Mädchen stand noch auf demselben Platze wie vorhin; aber sie schien ruhiger geworden und sogar, vielleicht nur weil ich den anderen Frauen gegenüber ihre Anwesenheit vertreten hatte, ein Vertrauen zu mir gefaßt zu haben. »Ich will's Ihnen wohl erzählen, Herr Amtsvogt«, begann sie, indem sie mit beiden Händen ihr glänzend schwarzes Haar zurückstrich; - »ob ich ihn geheiratet hätte, wenn er das Geld von der Anderen nicht hätte brauchen müssen; - ich weiß das nicht, und ist auch wohl übrig jetzt zu fragen; ich bin gut Freund mit ihm gewesen; wir tanzten wohl zusammen; aber - und das ist die Wahrheit ! Herr Amtsvogt - ich hatte nicht gedacht, daß er's gar so ernsthaft nehmen würde.«
»Sie wußten doch«, sagte ich, »daß er von Jugend auf Ihnen nachgegangen war; und ich meine, der sah nicht aus, als ob er mit solchen Dingen spielen könnte.«
Sie hatte seitwärts einen raschen Blick in den kleinen, mit Pfauenfedern geschmückten Spiegel geworfen, und eine Sekunde lang brach es wie heiße Lebenslust aus ihren dunklen Augen. »Nun«, sagte sie, »zuletzt hab' ich's schon merken müssen; aber da hab' ich ihn nicht mehr fort bringen können.

Dieser Textauszug enthält neben dem Wortlaut des Dialoges zwischen Ermittler und Zeugin drei weitere Informationen. Die erste ist eine notwendige Orts- und Zeitangabe, mit der der Erzähler seinen Lesern die logische Folge seiner Erzählteile vermittelt. Er schließt eine Beobachtung "sie schien ruhiger geworden" an und ergänzt dies mit einer Vermutung "und sogar, [...], ein Vertrauen zu mir gefaßt zu haben". Dadurch will der Amtsvogt dem Leser vermitteln, dass zwischen ihm und dem Mädchen ein anderes, intimeres Verhältnis entstanden ist, als zu den übrigen Zeugen. Diese Annahme kann ich durch die beiden weiteren Beobachtungen belegen. Zunächst heißt es "Herr Amtsvogt«, begann sie, indem sie mit beiden Händen ihr glänzend schwarzes Haar zurückstrich" und einige Zeilen später "Sie hatte seitwärts einen raschen Blick in den kleinen, mit Pfauenfedern geschmückten Spiegel geworfen, und eine Sekunde lang brach es wie heiße Lebenslust aus ihren dunklen Augen." Der Textausschnitt zeigt also im Detail, wie sehr der Erzähler seine neutrale Rolle aufgegeben hat, zu der er von Amts wegen eigentlich verpflichtet wäre und wie genau er die erotische Wirkung des Mädchens wahrnimmt. Zugleich werden wir aber auch Zeugen, wie Theodor Storm die Banalität des Alltags sprachlich zu poetisieren vermag. Und dies darf bei der Beschäftigung mit Inhalten der Dichtung nicht vernachlässigt werden: Realistisches Erzählen heißt bei Storm immer auch poetisches Erzählen. Die besondere Fähigkeit des Husumer Dichters besteht darin, die harte Realität, die er zum Vorwurf seiner Dichtkunst wählt, in einem poetischen Licht erscheinen zu lassen. Dies beherrscht Storm in besonderer Weise, weil - wie er einmal gesagt hat - seine Dichtkunst aus der Lyrik erwachsen ist. Das lyrische Element finden wir nicht nur in den bedeutenden Natur- und Liebesgedichten, von denen hier heute aus Platzgründen nicht die Rede sein kann; es durchzieht das gesamte Erzählwerk von "Immensee" bis zum "Schimmelreiter".

 

Literaturhinweise:

Theodor Storm Gedenkbuch zu des Dichters 100. Geburtstage. Hg. von Friedrich Düsel, Braunschweig 1916.
Antje Erdmann-Degenhardt: Theodor Storm - vom Husumer Advokaten zum preußischen Richter. In: Schleswig-Holsteinische Anzeigen, Kiel, August/September 1992.
Thomas Mann: Theodor Storm Essay. Herausgegeben und kommentiert von Karl Ernst Laage, Heide 1996.
Dieter Lohmeier: Heimatkunst als Mißverständnis des Poetischen Realismus. In: Jahresgabe der Klaus-Groth-Gesellschaft 31, Heide 1989, S. 36-38.
Norbert Mecklenburg: Wieviel Heimat braucht der Mensch? Gedanken über Beziehungen zwischen Literatur und Region. In: Literaturen in der Provinz – Provinzielle Literatur? Schriftsteller einer norddeutschen Region, hg. von Alexander Ritter. Heide 1991, S. 11-30.
Eckart Pastor: "Du bist hier Partei". Theodor Storms Novelle "Draußen im Heidedorf" und ihre Erzähler. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 44 (1995), S. 23-40.
Weitere Literatur

Zur Literaturdidaktik

Literaturunterricht ist seit einigen Jahren wieder "in", weil die Literaturdidaktik nicht müde wird, zu betonen, welcher Wert der Literatur für den schöpferischen Aneignungsprozess von Welt durch den Schüler zukommt. Die Wissenschaft vom Literaturunterricht beschreibt in immer neuen pädagogischen Paradigmen das Verhältnis von literarischer Realität und Literaturrezeption; sie erlaubt dem Schüler sogar, innerhalb ihrer Begründungsstrategien als Kommunikationselement mitzuspielen, rezeptiv oder kreativ, wenn es der lernpsychologische Ansatz fordert, auch beides zugleich. Die vielfältigen Begründungsketten werden zudem zumeist stimmig vorgetragen, sie weisen uns einsichtig auf die Notwendigkeit hin, die übergreifende kulturelle Dimension von Literatur als bedeutsamen Inhalt des Deutschunterrichts zu akzeptieren: "Mehr Literatur im Deutschunterricht!" ist eine Forderung, die der Zustimmung fast aller pädagogischer Richtungen gewiss sein kann.
Der gängige Leseunterricht ist auf fixierbare Erkenntnisziele hin ausgerichtet; gleichgültig, welches Verständnis von "kritisch" den Leseprozess steuert, es geht dem Lehrer zu aller erst um rational fassbares und möglichst abfragbares Wissen, denn wenn er das vermittelt, wird sein unterrichtliches Tun gerechtfertigt, weil der Anspruch den herrschenden Normen genügt und die Ergebnisse überprüfbar sind. Dass diese Legitimation zu einem gewissen Teil in Selbsttäuschung gründet und auf fragwürdigen lerntheoretischen Voraussetzungen beruht, wird nur selten bewusst. Denn bei "dem Schüler", von dem die Didaktiker sprechen, handelt es sich immer um eine Abstraktion von wirklichen Kindern, mit denen wir Lehrer es in der Praxis zu tun haben.
Der Deutschlehrer täuscht sich nur allzu oft in der Annahme, seine eigene Form des Lesens sei identisch mit der seiner Schüler. Mehr noch, er glaubt allzu gern, sein affektives Verhältnis zum Unterrichtsgegenstand, also zur Literatur, entspräche dem Verhältnis seiner Schüler zu eben demselben Gegenstand. Das ist aber nur selten der Fall. Wohl dem Kollegen, dem es vergönnt ist, seine persönliche Freude an einem literarischen Kunstwerk auf seine Schüler zu übertragen! Auch die best durchdachten und mit pädagogischem Fingerspitzengefühl kleingearbeiteten kognitiven Lehrstrukturen helfen da oft gar nichts. Unsere Schüler lesen privat zumeist wenig oder gar keine Literatur; ihre emotionalen Bedürfnisse werden durch andere Medien, wie zum Beispiel das Fernsehen, viel besser angesprochen und befriedig. Wir brauchen uns nur einmal der Mühe zu unterziehen, die täglichen Kinderprogramme im Kabelnetz durchzutesten, und wir wissen, dass wir dagegen mit unserem vor allem rational aufbereiteten Literaturunterricht hoffnungslos ins Hintertreffen geraten. Und wenn Schüler privat lesen, dann wollen sie Vergnügen, Genuss und vor allem Freiheit von jedem didaktischen Kalkül.
In dieser Feststellung liegt aber auch etwas Positives für den Literaturunterricht, denn viele Schüler weichen nicht dem Lesen selber aus, sondern vor allem der ausschließlichen Verwendung des Lesens als Transportmittel für Wissen, für Einsichten und für intellektuelle Fähigkeiten. Es wäre also schon der Mühe wert, einige Überlegungen anzustellen, auf welche Weise die Intentionen des Literaturunterrichts mit den Erwartungshaltungen unserer Schüler vermittelt werden können.

Auch was das Lernen betrifft, geben wir uns manchen Täuschungen hin. Indem wir unter lernzielorientiertem Unterricht vor allem die Vermittlung von zumeist hierarchisch geordnetem Wissen und Fähigkeiten verstehen, ignorieren wir die Erkenntnisse der modernen Kognitionspsychologie. Sie hat gezeigt, dass Lernen eher als Aufbau von Begriffsnetzen zu verstehen ist denn als linearer Vorgang, der durch logische Operationen bestimmt wird. Das oft chaotisch erscheinende Lernen von Schülern außerhalb des Unterrichtszusammenhangs (selbstgesteuertes Lernen zum Beispiel am Computer) belegt, dass wir allen Anlass haben, über die Frage nachzudenken, ob die von uns wohl durchdachten Lehrstrategien, etwa der Weg vom Einfachen zum Komplexen, dem Lernvollzug unserer Schüler auch entsprechen. Was ist, wenn sich Lernen anders vollzieht, als es die Autoren von Lehrbüchern und die Verfasser von Unterrichtsmodellen annehmen?
Die Dominanz des Abstrakten in unseren Klassenzimmern - man kann das in einem beliebigen Schulbuch jederzeit überprüfen - sollte Anlass genug sein, über die Bedeutung der modalen Repräsentation in kognitiven Prozessen nachzudenken. Da Denken und Begriff sich immer an Vorstellbarem orientieren, ja unlösbar mit Vorstellungen verbunden sind, kommt der Anschaulichkeit in jedem Lernprozess eine große Bedeutung zu. Das ist übrigens keine so neue Erkenntnis, denn schon 1968 hat Martin Wagenschein in seinem Buch "Verstehen lehren" auf die Bedeutung des anschaulichen Lernens - allerdings für den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht - hingewiesen. Wie bei jedem Begriffsaufbau benötigt der Schüler auch im Literaturunterricht Vorstellungsrepräsentanten, die es ihm ermöglichen, die ihm fremde Welt der Gedichte, Erzählungen und Theaterstücke für sich persönlich anzueignen. Die Bilder, die sich beim Lesen einstellen, müssen vom Leser selbst erzeugt werden; sie orientieren sich am bisher von ihm Erlebten. Gerade weil hier die Fantasie eine zentrale Rolle spielt, sollten wir dies als Chance nutzen, der allzu glatten Welt des Fernsehkonsums etwas Substanzielles entgegenzusetzen.
Das hier vorgestellte Unterrichtsmodell versucht in mehrfacher Hinsicht auf diese Gedanken zu reagieren; die Organisation der Lernprozesse ist folgenden Prinzipien verpflichtet:

selbständiges Arbeiten in Gruppen
anschauliches Lernen
wissenschaftspropädeutische Orientierung

Den Schülern wird zu Beginn der Unterrichtsreihe das gesamte Material zur Verfügung gestellt; die Arbeitsorganisation stellt der Lehrer als Angebot vor und unterstützt die Lerngruppe bei der Gruppenorganisation und bei der ersten Informationsaufnahme. Anschließend arbeiten die Schüler selbständig an ihren Themen. Die Reihe ist ähnlich organisiert, wie ein Literaturseminar. Am Ende steht die mündliche und schriftliche Ergebnispräsentation zunächst im Unterricht und danach als Internet-Projekt.
Anschaulichkeit wird durch das Element der regionalen Erkundung, durch die Möglichkeiten, im Storm-Archiv mit den Original-Dokumenten (Handschriften, Drucken, Dokumenten, Film) zu arbeiten, erreicht; ein wissenschaftspropädeutischer Aspekt wird durch Lehrvorträge über Methoden wissenschaftlichen Arbeitens und die Demonstration entsprechenden Materials aus dem Storm-Archiv hinzugefügt.

Aus der Fülle des vorhandenen Materials wurden zwei Transkriptionen aus den Handschriften (vergl. den Kommentar zur Novelle) ausgewählt; sie dienen zur Demonstration wissenschaftlicher Arbeitsmethoden, hier zur Frage, wie Storm gearbeitet hat. Die Transkriptionen bilden den Text genetisch ab, so dass Storms Schreibprozesse erkennbar werden: Streichungen im Text werden gestrichen, nachgetragene Passagen kursiv dargestellt; Herausgeberkommentare stehen in spitzen Klammern.

 

1. Arbeitshandschrift (H2)

Mir fiel ein, was ich einst, ich meine, von den rumänischen Steppen gelesen hatte. Dort aus den Haiden erhebt sich in der Dämmerung ein Ding, das aussieht wie ein weißer Faden und das sie dort den weißen Alp nennen; es schleicht sich in die Dörfer und in die Häuser, und nachts legt es sich an den Mund der Schlafenden und trinkt ihnen die Seele aus u. dick und schwerfällig wandert es dann in die Haide zurück und verschleppt die Seele zwischen Moor und Torf. Der Schlafende aber, wenn er am Morgen aufwacht, ist über Nacht blödsinnig geworden. - Nicht dieser entsetzliche Glaube war hier zu Hause; aber von aber auch aber zu allem andern abergläubischen Gestalten verdichteten sich auch die Dünste des wilden Moors, die verdichteten sich zu allerlei anderen kaum weniger unheimlichen Dingen, <an der Seite nachgetragen:> aber zu andern nicht minder unheimlichen Dingen verdichteten sich auch die Dünste dieses Moores Undigen, die denen besonders einzelne d<e>r älteren Bewohner jener Zeit Nachts und im Zwielicht wollten begegnet sein.

Storm-Nachlass, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel; 33 S. Entwürfe und Notizen

2. Reinschrift (H3)

Mir kam in den Sinn, was ich einst - ich meine über die noch von dem slawischen Urstamm bewohnten Steppen an der unteren Donau gelesen hatte. - Dort aus den Haiden erhebt sich in der Dämmerung ein Ding, das einem weißen Faden gleicht und das sie dort den "weißen Alp" nennen. Es wandert gegen die Dörfer, es schlei stiehlt sich in die Häuser, und wenn die Nacht gekommen ist, legt es sich an den offenen Mund der Schlafenden; und der dann schwillt und wächst der anfänglich dünne Faden schwillst, und wächst zu einer schwerfälligen Ungestalt. Am Morgen darauf ist Alles verschwunden; aber der Schläfer, der dann die Augen aufthut, ist über Nacht blödsinnig geworden; der weiße Alp hat ihm die Seele ausgetrunken. Er bekommt sie nimmer wieder; weit auf die Haide hinaus in feuchte Schluchten, zwischen Moor und Torf, hat das Unwesen sie verschleppt.
Nicht der weiße Alp war hier zu Hause; aber zu andern nicht minder unheimlichen Dingen verdichteten sich auch die Dünste dieses Moors, denen manche, besonders der älteren Dorfbewohner, Nachts und im Zwielicht wollten begegnet sein.

Goethe-Schiller-Archiv Weimar; endgültige Reinschrift mit einem ersten Teil in Storms und einem zweiten Teil in der Handschrift von Dorothea Storm.

 

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