Der Schimmelreiter - Aufbau und Struktur
Aufbau und Struktur
Die Rahmenerzählung |
Der Erzählanfang |
Storms Schreibprozess |
Fiktive Mündlichkeit |
Die Rahmenerzählung
Die Novelle ist kunstvoll konstruiert; zunächst eröffnet ein äußerer Rahmen, in dem ein unbenannter Erzähler auftritt, die Erzählung. Er berichtet von einem Ereignis aus seiner Jugend, als ihm im Hause seiner Großmutter die Lektüre einer spannenden Gespenstergeschichte so beeindruckte, dass er sie bis zu seinen jetzigen Tagen nicht vergessen konnte. Man hat diesen Erzähler mit dem Autor Theodor Storm identifiziert, da die Rahmenerzählung und der Erzählort starke autobiografische Züge tragen und man unschwer das Haus von Storms Urgroßmutter Feddersen in der Nähe des Husumer Hafens erkennen kann. Genauere Vergleiche der Mitgeteilten Einzelheiten und der biografischen Hintergründe zeigen aber schnell, dass bereits dieser erste Erzählrahmen fiktiv ist, also eine reine Erfindung Storms darstellt. Überhaupt muss der Leser sich hüten, die Angaben in der Novelle mit historischen Ereignissen und wirklichen Orten in Nordfriesland gleichzusetzen, da literarische Texte immer eine eigene, erfundene Welt konstruieren, die erst im Bewusstsein des Lesers mit Hilfe von dessen Fantasie „wirklich“ wird.
Der Erzähler des äußeren Rahmens eröffnet nun, indem er von Erinnertem aus seiner Vergangenheit erzählt, einen inneren Erzählrahmen. Für diesen hat Storm einen anderen Erzähler erfunden, einen Geschäftsmann, der während einer Reise zu einer nahe gelegenen Stadt, in der man leicht Husum wiedererkennen kann, von Norden über den Deich reitet. Während einer stürmischen Nacht erscheint diesem zweiten Erzähler ein gespenstiger Reiter. Als er in einem nahen Wirtshaus vor dem Unwetter Schutz sucht, lernt er dort einen alten Schulmeister kennen, der nun als dritter Erzähler die Geschichte von Hauke Haien vorträgt.
Durch diese dreifache Erzählerfiktion schafft der Autor zwischen sich und dem Leser mehrere Instanzen, die das Erzählte als wahr verbürgen. Storm thematisiert das Verhältnis von wirklichem Ereignis und der Erzählung davon, indem er den Erzähler der zweiten Ebene und den Schulmeister immer wieder über die Wahrheit des Erzählten diskutieren lässt. Ja, der Autor geht noch einen Schritt weiter.
Die eigentliche Binnenerzählung handelt von Hauke Haien und seinem Kampf gegen die Nordsee. Sie ist in zwei Teile gegliedert und entwirft zunächst ein Charakterbild des jungen Hauke, der aus einfachen Verhältnissen zum Deichgrafen aufsteigt. Im zweiten Novellenteil wird berichtet, wie dieser Hauke Haien ein neues Deichprofil konstruiert und durch den Neubau eines Kooges dem Meer Land abgewinnt, das nicht nur die Menschen in der Marsch vor Sturmfluten schützen soll, sondern ihre wirtschaftliche Lage verbessert. Hauke setzt sich gegen alle Anfeindungen durch, scheitert aber am Schluss, da er einmal den falschen Ratschlägen seines Widersachers Ole Petersen nahgegeben hat.
Da der Schulmeister aber in einer anderen Epoche lebt und Hauke Haien nie kennen gelernt hat, musste er sich die Fakten für seine Erzählung vom Deichgrafen aus anderen Quellen zusammenstellen. Darunter befinden sich auch solche Erzählungen, die den Schimmelreiter zu einem Gespenst gemacht haben, das im Grab keine Ruhe findet. Somit wird die Frage, inwieweit das Bild von Hauke sowie seines Wirkens und Scheiterns, das der Schulmeister vor dem Erzähler der zweiten Ebene ausbreitet, überhaupt authentisch sein kann. Es lassen sich aus dem Text unterschiedliche Erzählinstanzen herausarbeiten, die ganz verschieden und zum Teil auch Widersprüchliches über die Gestalt des Deichgrafen sagen, ja die wirkliche Existenz des Helden wir sogar einmal vom Schulmeister infrage gestellt.
Aus dieser komplexen Struktur der Novelle ergibt sich für den Leser die Notwendigkeit, ein eigenes Bild von Hauke Haien und den erzählten Ereignissen zu konstruieren. Gerade das kann den Reiz der Lektüre ausmachen, da die vielen Interpretationen zeigen, wie unterschiedlich die Lesarten selbst geübter Literaturwissenschaftler in den letzten Jahrzehnten gewesen sind.
Der Erzählanfang
Vom Eingansrahmen der Erzählung haben sich drei Textstufen erhalten, die im Folgenden nacheinander wiedergegeben werden. Die Handschrift Storms wird dabei so abgebildet, dass gestrichene und über bzw. unter der Zeile nachgetragene Passagen leicht erkennbar werden (vergl.die Beschreibung der Textzeugen).
„Concept“ Storms Entwurfshandschrift (H1: Storm-Archiv Husum)
1. Fassung
<S. 115 (oben)>
Anfang__________________<mit Bleistift> Anfang
Der Schimmelreiter
Was ich berichten will, ist mir vor über einem halben Jahrhundert in meiner Urgroßmutter Hause, ich weiß nicht mehr ob aus dem lebendigen Munde eines Erzählers oder aus irgend einem Buche kund geworden; ich kann daher die Wahrheit der Thatsachen weder verbürgen, noch, wenn jemand sie bestreiten sollte, dafür aufstehen; nur soviel kann ich versichern, daß ich sie seit jener Zeit nie aus dem Gedächtniß verloren und wiederholt, wiewohl vergebens, nach der Quelle dieser Erinnerung geforscht habe.
Es war im dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts - so sagte der damalige Erzähler -
2. Fassung
<Seite 0/1>
Der SchimmelreiterWas ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor etwa einem halben Jahrhundert in meiner Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen, Hause kundgeworden, während ich, an ihrem Lehnstuhl sitzend, mich mit mit dem Lesen eines in blaue Pappe gebundenen Zeitschriften-Heftes beschäftigte; ich vermag mich nicht zu erinnern, ob von den Leipziger oder von Pappe's Hamburger „Lesefrüchten“. Noch fühl ich es wie gleich einem Schauer, wie dabei von Zeit zu Zeit die linde Hand der Ueberachtzigjährigen mitunter liebkosend über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt. Vergebens habe ich seitdem jenen Blättern nachgeforscht, und ich kann daher um so weniger weder die Wahrheit jener der Thatsachen verbürgen, noch, wenn jemand sie bestreiten sollte, dafür aufstehen; nur so viel kann ich versichern, daß ich sie seit jener Zeit, obgleich ihr sie durch keinen äußeren Anlaß in mir aufs Neue belebt wurden, niemals aus dem Gedächtniß verloren habe.
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Reinschrift (H2:Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel)
Was ich zu berichtigen habe, ist mir vor etwa reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen, kund geworden, während ich, an ihrem Lehnstuhl sitzend, mich mit dem Lesen eines eines in blaue Pappe eingebundenen Zeitschriftenheftes beschäftigte; ich vermag mich nicht mehr zu entsinnen, ob von den „Leipziger“ oder von „Pappes Hamburger Lesefrüchten“. Noch fühl' ich es gleich einem Schauer, wie dabei die linde Hand der Ueberachtzigjährigen, mitunter liebkosend über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt. Sie selbst und jene Zeit sind längst begraben; vergebens auch habe ich seitdem jenen Blättern nachgeforscht, und ich kann daher um so weniger weder die Wahrheit der Thatsachen verbürgen, als, wenn jemand sie bestreiten wollte, dafür aufstehen; nur so viel kann ich versichern, daß ich sie seit jener Zeit‚/ <Blatt> 2 obgleich sie durch keinen äußeren Anlaß in mir aufs Neue belebt wurden, niemals aus dem Gedächtniß verloren habe.
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Deutung des Textbefundes
Der Anfang dieses äußeren Rahmens ist in zwei Versionen überliefert, von denen die kürzere die ältere Fassung sein muss. Der Erzähler berichtet von einem Erlebnis, das er ca. 50 Jahre vor der Niederschrift des Textes an einem eindeutig identifizierbaren Ort hatte, im Hause der Urgroßmutter, mit dem Storm das Haus in Husum, Twiete/Ecke Schiffbrücke meint, das der Familie seines Urgroßvaters mütterlicherseits, des Senators Joachim Christian Feddersen (1770-1801) gehörte. Der Erzähler ist sich nicht sicher, ob das zu Berichtende aus mündlicher oder lschriftlicher Tradition stammt. Er kann die Wahrheit des Erinnerten nicht verbürgen, hebt aber hervor, dass er die Tatsachen nie aus dem Gedächtnis verloren habe und beteuert, wiederholt, aber vergeblich nach der Quelle geforscht zu haben.
Die zweite Version des Anfangs ist länger und offenbar das Ergebnis eines Erinnerungsprozesses; die Textelemente der ersten Fassung werden vollständig übernommen, aber um fast das Doppelte erweitert. Die intensive Erinnerung hat nämlich Klarheit über das Erlebte gebracht; das zu Erzählende wurde nicht durch mündlichen Bericht der Urgroßmutter tradiert, sondern stammt aus einer Zeitschrift, deren Titel so genau angegeben wird, dass die Spur von späteren Literaturhistorikern erfolgreich aufgenommen werden konnte. Sogar an die Farbe des Umschlags kann sich der Erzähler noch genau erinnern. Auch wird die Unsicherheit der Erinnerung (“oder“) in der ersten Version nun zur doppelten Bestätigung des Vorgangs, denn die Urgroßmutter ist in der Erinnerung als zärtliche Greisin präsent, die ihrem Enkel während dessen Lektüre „liebkosend“ über das Haar streicht. Dadurch erhält die Atmosphäre des Lesevorgangs etwas von jener Behaglichkeit, die für Storm eine der Voraussetzungen nicht nur für rezeptive sondern auch für produktive Textarbeit war. Hier wird auch deutlich, dass es sich um eine Fiktion und nicht - wie immer wieder fälschlich behauptet - um einen autobiographischen Bericht handelt. Denn 1838/9, in den Jahren also, auf die der in der Erzählung gemeinte Zeitpunkt der Lektüre jener Gespenstergeschichte verweist, war „Frau Senator <Elsabe> Feddersen“ (1741-1829) bereits seit zehn Jahren tot.

Das Haus der Urgroßmutter Feddersen in Husum, Schiffbrücke/Ecke Twiete
Die Wahrheit der Tatsachen kann vom Erzähler zwar immer noch nicht verbürgt werden, doch ihre Präsenz im Gedächtnis wird durch ein zusätzliches Argument qualitativ aufgewertet: Der Erzähler hat sich nicht nur - freilich erfolglos - bemüht, der Quelle nachzuspüren, er hat die Tatsachen niemals aus dem Gedächtnis verloren, „obgleich sie durch keinen äußeren Anlass in mir aufs Neue belebt wurden“. Damit wird der Erinnerung eine höhere Authentizität zugesprochen als dem schriftlichen Dokument. Diese Position des äußeren Rahmenerzählers entspricht genau derjenigen des Schulmeisters, der im inneren Erzählrahmen betont, es sei eine „Kunst“, seine Erinnerung an Hauke Haien ohne Aberglaube zu erzählen (Königs Lektüren, S. 8), denn die Tatsachen, von denen er dem Erzähler der zweiten Ebene so erzählt, wie er „sie nach bestem Wissen nur berichten konnte“ (Königs Lektüren, S. 123), stammen ausschließlich aus einander zum Teil widersprechenden oralen Traditionen.
Storms Schreibprozess
Ein Blick auf das Fragment der „Sylter Novelle“, das der Dichter in der Anfangsphase seiner Arbeiten am „Schimmelreiter“ im August 1887 während eines Aufenthaltes auf der Insel Sylt nach einer mündlichen Erzählung Christoph von Tiedemanns niedergeschrieben hat, weist ein ähnliches Verfahren auf. Auf sechs Blättern skizziert Storm zunächst aus dem Gedächtnis das vorher mündlich Gehörte, vermischt die fremde Erzählung mit eigenen Erinnerungen an Sylter Sagen, mit denen er seit 1844 durch seine Korrespondenz mit dem Sylter Heimatforscher und Dichter C. P. Hansen eng vertraut war, und beginnt schon auf Seite 2 der Handschrift mit dem eigentlichen Poetisieren des Stoffes, indem er einzelne Szenen ausschmückt und zur Niederschrift von Dialogen ansetzt.
Ganz ähnlich verfährt er auch beim „Schimmelreiter“. Storm beginnt mit einer einzelnen Szene, von der eine anschauliche Vorstellung bildet und sie dann mit vollständigen Dialogen niederschreibt. Das „Concept“ besteht aus einer Fülle solcher Einzelszenen, die miteinander noch nicht verbunden sind und einander oft mit einigen Wörtern und manchmal ganzen Sätzen überschneiden. Es muss also allmählich zu einem Kompendium solcher Einzelszenen gewachsen sein, die in unterschiedlicher Genauigkeit ausgeführt waren. Erst bei der Herstellung der „Reinschrift“ hat Storm die Einzelszenen zu einem kontinuierlichen Erzählfluss zusammengestellt und noch nicht endgültig ausformulierte Einzelheiten konkretisiert. Viele Spuren im „Concept“ zeigen, dass er sie zum Teil vorher bereits zu Szenenkomplexen zusammengestellt hatte; das sind vor allem Markierungen mit rotem und blauem Farbstift (Haken, Gitter und Piktogramme), die als Hinweise für die Zuordnung der einzelnen Erzählteile gedient haben. Bei der Rekonstruktion des „Concepts“, das in seiner heutigen Erscheinung nicht mehr die ursprüngliche Reihenfolge der Blätter ausweist, hat sich dies in allen Fällen unklarer Textzuordnung bestätigt.
In einer sehr frühen Arbeitsphase muss sich Storm mit zwei Szenen beschäftigt haben, die im späteren Novellentext weit auseinander liegen: der ersten Beschreibung von Vater und Sohn Haien und der Erzählung von der Wasserfrau durch die alte Trien' Jans . In beiden Fällen ist er sich nämlich über die Namen der Personen noch nicht im Klaren gewesen, als er zu schreiben begann. Das „Concept“ zeigt zunächst die Namen „Hauke Heins“ und „Tede Heins“; etwas später wird Haukes Vater vom alten Deichgrafen als „Tede Hauken“ angesprochen. Trien' Jans heißt zuerst die „alte Magd Vollina“; Storm streicht diesen Namen und ersetzt ihn durch „Trien Jans“. Die endgültige Schreibweise mit dem Apostroph erscheint erst in der „Reinschrift“. „Trien Jans“ heißt die Alte auch schon in der später niedergeschriebenen Szene, die aber in der Novelle an früherer Stelle erscheint, als Hauke ihr den Angorakater erwürgt. Auch Ole Peters heißt zunächst, als Hauke beim Deichgrafen als Kleinknecht eingestellt wird, „Harke Volkerts“ und später beim Eisboßeln „Harke Peters“.
Aus diesem Textbefund, der Storms Unsicherheit bei der Namenssuche belegt, schließe ich, dass es kein früheres Konzept gegeben haben kann als das von Storm als „Concept“ bezeichnete Manuskript. Dieses ist aus Einzelszenen allmählich herangewachsen, war das einzige Manuskript während des Schreibprozesses zwischen Frühling und Winter 1887, diente als Grundlage für die Herstellung der „Reinschrift“ und wurde auch nach Absendung der Druckvorlage an den Verlag weiter benutzt.
Folgendes Beispiel soll zeigen, wie Storm einzelne Szenen erarbeitet hat. Die bereits erwähnte Erzählung von der Wasserfrau (Königs Lektüren, S. 101ff.) lässt im „Concept“ vier Erzählteile erkennen. Nach einer Einleitung mit genauer Beschreibung des Erzählortes, der Küche, mit der Erzählerin Trien' Jans und ihrer Zuhörerin Wienke folgt die zweiteilige Sagen-Erzählung, an die sich ein Dialog zwischen Trien' Jans und Hauke Haien anschließt.
Der Gesamttext erscheint im „Concept“ folgendermaßen (die Abschnittsnummerierung wurde von mir zur besseren Orientierung hinzugefügt):
(1) |
So lebten die Menschen in auf dem Deichgrafshofe still beisammen; wäre das Kind nicht dagewesen, es hätte viel gefehlt. Allmählich ging der Sommer, die Zugvögel waren waren <so! > vorbei durch gezogen, die Luft war ohne Lerchenlaut leer vom Gesang der Lerchen; nur vor den Scheunen wo sie Körner pickten, her sah hörte man hie u. da noch eine mit Gekreisch davon fliegen; denn es war Alles hart ge-froren. In der Küche des Haupthauses saß die alte Trien Jans auf dem Holzstuhl, der hinter dem Heerde stand. Sie Es war, als sei sie in den letzten Wochen wieder aufgelebt; sie saß am Vormittage gern dort in der Küche; ihr es war keine f Rede davon, daß ihre Beine sich sie n. dahin trage hätten tragen können. Das S Das Kind kniete an ihrer Seite u. sah sie an mit seinen stillen Augen in die Flammen, die aus dem Herdloch flackerten ihre eine Hand klemmte sich um den Aermel der Alten, die Andre lag in ihrem eignen fahlblonden Haar. Die Flamme fleckerte im Heerdloch, Die Alte erzählte: „Du weißt“, sagte sie, und neigte ihren schweren Kopf über den des Kindes, „ich stand in Dienst bei deiner Urgroßmutter, als Hausmagd u. dann / <Seite 63> mußte ich die Schweine füttern; da war es - es ist grausam lange her - aber eines Abends war es, der Mond schien, da ließen sie die Schleuse schließen u. / |
(2) |
<Seite 39> die alte - saß in der Küche am Feurheerd etc du weißt sagte sie zu d. kl. Wienke ich stand in Dienst bei d. Großvater, das war ein klug „Da ließen sie die Hafschleuße schließen u. sie konnte nicht wieder zurück in See. Oh wie schrie sie und griff mit ihren Fischhänden sich in die struppigen langen harten Haare. Ja, Kind ich sah es u. hörte sie selber schreien! Die Gräben waren alle voll von Wasser u. der Mond schien darauf, daß sie wie Silber glänzten u. sie schwamm aus einem Graben in den andern; aber hinaus in die See das konnte sie nicht. und hob die Arme u. schlug, was sie an Händen hatte, zusammen, als wenn sie betete; aber beten können diese Creaturen nicht und so konnte sie nicht hinaus. Ich saß hier vor der Thür auf dem großen Stein, wo ich s jetzt sitze u. sah weit über die Fennen; und das Wasserweib sie schwamm immer zu in den Gräben und wenn sie die Arme hob, so glitzerten auch die wie Silber u. Demanten; denn der Mond schien immer noch. Zuletzt sah ich sie nicht mehr, und die Vögel in der Luft Wasserfrösche, die die ganze Zeit geschwiegen hatten, begannen wieder zu quarren, erst in einem Graben und bald pfeifen u. zu schnattern im ganzen Koog herum.“ |
(3) |
Es war die nur alte Magd Vollina Trien Jans, die in der Küche am Feuerheerd saß; denn es war Winter und draußen lag Alles unter Frost; aber in der Küche war es warm. Das Kind, Ddie schwachsinnige Wienke, kniete an ihrer Seite und sah mit todten glasigen Augen zu ihr auf. Die Finger der einen Hand klemmten sich um den einen Aermel der Alten, die andre lag in ihrem eignen fahlblonden Haar: „Konnte sie nicht beten? Was sagtest du? Wer war es?“ frug sie. „Kind“, sagte die Alte; „die Wasserfrau war' es; d das sind Undinger, die nicht sellig werden können.“ „Nicht selig!“ wiederholte das Kind u. ein langer Seufzer kam aus der kleinen Brust. / |
(4) |
<Seite 40> Läßt ihn sitzen?
„Vollina Trien Jans!“ rief eine tiefe Stimme von der Küchenthür, und die Alte zuckte leicht zusammen; es war der Deichgraf Hauke Haien, der dort am Ständer lehnte. „Was redet Sie dem Kinde da? gHab ich Ihr nicht geboten, Sie solle Ihre Mären für sich zu behalten oder sie draußen an die Gäns u Hühner erzählen. Die Alte sah ihn mit einem bösen Blick an und schob die Kleine von sich fort. „Das sind nicht Mären“, murmelte sie in sich hinein; „mein Großohm hat's es mir selbst erzählt.“ „Ihr Großohm, Vollina Trien? Ihr Sie wollte es ja eben selbst gesehen haben!“ „Das ist egal; aber Ihr glaubt nichts, Hauke Haien; Ihr wollt wohl meinen Großohm noch zum Lügner machen!“ Dann rückte sie näher an den Herd u. streckte ihre Hände über das Feuerloch. |
Die Abschnitte 2, 3 und 4 gehören zu den ersten Textteilen, die der Dichter niedergeschrieben hat, das kann man - wie ich oben bereits ausgeführt habe - an dem korrigierten Namen der alten Magd erkennen. Storm konnte Sagen von Wasserfrauen in Karl Müllenhoff Sagensammlung finden, an der er selber mitgearbeitet hatte. In einer von C. P. Hansen beigesteuerten Erzählung wird eine Meerfrau an den Strand gespült und von zwei Sylterinnen nach Hause getragen. Sie schreit so lange, bis man sie wieder in ihr Element zurückbringt. Storm entwickelt zunächst die Vorstellung von einer Meerfrau, die nicht wieder in die See zurück kann, weil man die Hafschleuse geschlossen hat. Die kurze Erzählung der alten Magd (2) suggeriert ein persönliches Erlebnis mit intensiven sinnlichen Wahrnehmungen, indem sie betont, alles selber gehört und gesehen zu haben. Dieses Erlebnis wird durch eine genaue Beschreibung der Fennen und Gräben sowie des Mondes und der von diesem beleuchteten Meerfrau als authentisch verbürgt. Als die Erzählerin die Wasserfrau nicht mehr sehen kann, hört sie stattdessen die „Wasserfrösche“ im ganzen Koog herum „quarren“. Es ist also das poetisierte Bild einer Sommernacht, das Storm zunächst skizziert. Der Schreibstrom bricht ab und wird unmittelbar danach auf dem selben Blatt wieder aufgenommen. Es entsteht der Abschnitt (3), in dem nun die Reaktion der schwachsinnigen Zuhörerin auf das Erzählte geschildert wird. Diese hat nur verstanden, dass Wasserfrauen nicht beten können, eine Deutung der wahrgenommenen verzweifelten Gestik jenes von seinem Element abgetrennten Wesens durch die Erzählerin. Auf ihre entsprechende Frage reagiert die Erzählerin mit der Erklärung, dass Wasserfrauen „Undinger“ seien und nicht selig werden könnten.
Der Neubeginn des Erzählstroms in Abschnitt (3) nennt neben dem Ort (“in der Küche am Feuerheerd“ auch die Zeit (“es war Winter“). Dadurch entsteht aber ein sehr starker Kontrast zu dem Vorstellungsbild, das im Abschnitt (2) imaginiert wird, und das durch die erwähnten Frösche mit Sommer konnotiert ist. Also streicht Storm (wann genau, lässt sich am Text nicht ablesen) die Frösche und ihr Quarren und ersetzt sie durch eine andere Wahrnehmung: „die Vögel in der Luft“ begannen zu „pfeifen u. zu schnattern“; damit wird der harte Kontrast gemildert, der zunächst durch den Kontrast von Sommer und Winter enstanden ist. Außerdem sucht er nach einer Alternative zu dem Adjektiv, mit dem er Wienkes geistige Beschränkteit charakterisieren will. Die zunächst „toten Augen“ erscheinen ihm zu hart und er ersetzt sie durch die „glasigen Augen“. Im selben Arbeitsgang wird Abschnitt (4) niedergeschrieben und erst danach Abschnitt (1).
In Abschnitt (1) verwendet Storm die bereits vorhandenen Erzählteile (2) und (3). Die Erzählung findet während des Winters in der vom Herdfeuer erwärmten Küche statt. Storm übernimmt außerdem das in Abschnitt (3) skizzierte Bild der gespannten Aufmerksamkeit der kleinen Zuhörerin („ihre eine Hand klemmte sich um den Aermel der Alten, die Andre lag in ihrem eignen fahlblonden Haar“). Damit ist die Substanz der Erzählung von der Wasserfrau einschließlich Zeit und Raum, in denen erzählt wird, fertig skizziert und bildet eine in sich stimmige Einzelszene.
In Abschnitt (4) wird die Sage von dem Wasserweib nun mit der ganzen Novellenhandlung und ihrer komplexen Erzählstruktur in Beziehung gesetzt. Die ganze Szene wird zunächst von der Gespenstergeschichte getragen, die von einem jener Menschen in der Novelle erzählt wird, der Naturereignisse durch magische Kräfte zu erklären versuchen. Trien' Jans gehört zu der Gruppe von Erzählern, die sich mit dem Aberglauben identifizieren, den der Schulmeister vor Beginn seiner Erzählung erwähnt; zugleich repräsentiert sie aber auch diejenigen, von denen der Deichgraf der Rahmenerzählung sagt, sie könnten das Geschehen „richtig“ erzählen (Königs Lektüren, S. 7). Und er meint dies im Gegensatz zur Erzählung des Schulmeisters, der es nur „am besten“ erzählen könne.
Der Gegensatz zwischen dem Schulmeister und der Deichgrafenmagd Antje Vollmers als potenziell „richtiger“ Erzählerin spiegelt sich auch in der hier in Betracht stehenden Szene, da sie von Storm erweitert wird. Bisher ist der Leser davon ausgegangen, dass die Sage von der Wasserfrau von Trien' Jans nur der kleinen Wienke erzählt wurde, der blöden Tochter des Deichgrafen. Aber ein bisher unsichtbarer Zuhörer meldet sich zu Wort: Hauke Haien hat nämlich im Nebenzimmer zugehört. Er mischt sich ein und gebietet der Magd, seiner Tochter keine „Mären“ zu erzählen. Zwar weist Trien' Jans das Wort „Mären“ zurück, aber ihre Begründung, sie habe es selber vom „Großohm“ erzählt bekommen, widerspricht der von ihr zuvor selbst behaupteten unmittelbaren Wahrnehmung des erzählten Vorgangs. Auf diesen neuen Widerspruch weist Hauke sofort hin, aber die Alte kontert: „Das ist egal; aber ihr glaubt nichts“ und beendet damit das Gespräch. Der Zusammenhang zwischen der Wasserfrau und der für sie tödlichen Schleuse, der sich als Deutung aus der Mär von Trien' Jans herauslesen ließe, bleibt Hauke im Gegensatz seiner Tochter Wienke verschlossen. Zunächst weigert er sich, dem Erzählten irgendeine Wahrhaftigkeit zuzugestehen. Im Anschluss wird der Gegensatz vom „richtig“ und „am besten“ Erzählenkönnen dem aufmerksamen Leser an einem Beispiel veranschaulicht. Hauke reitet unmittellbar nach dieser Konfrontation mit Wienke hinaus ans Meer; als sie dort undeutliche Erscheinungen im Nebel sehen, versucht der Vater seiner Tochter die Ursache der unheimlichen Gestalten zu erklären. Er kann es „am besten“, in dem er Vögel als Ursachen der verzerrten Bilder nennt, die nach Fischen jagen. Aber Wienke versteht diese Erklärung nicht. Die geistig zurückgebliebene Tochter des Deichgrafen kann offenbar nur die von Trien' Jans „richtig“ erzählte Mär begreifen. Das Beispiel zeigt, in welch frühem Stadium Storm es bereits versteht, gerade erst konzipierte Szenen in Hinblick auf das Ganze der Novellenkonzeption zu funktionalisieren, in unserem Beispiel sogar vor der Überarbeitung des Erzählkerns der Sage von der Wasserfrau.
[...]
Ein anderes Beispiel (Königs Lektüren, S. 21ff.) zeigt, wie dieser Erweiterungs- und Präzisierungsprozess vom „Concept“ zur „Reinschrift“ von Storm noch gesteigert wird. Es handelt sich um die erste Begegnung zwischen Elke und Hauke, nachdem der Junge beschlossen hat, sich um die Stelle eines Kleinknechts beim Deichgrafen zu bewerben. Die Szene lautete im „Concept“:
„Dank auch, Vater,“ sagte Hauke und stieg zu seiner Kammer hinauf, wo er sich auf die Bettkante setzte und darüber nachsann, weshalb denn sein Vater ihn über Elke Volkerts angefahrn rufen habe. Er kannte sie freilich; <nachträglich eingefügt> das ranke 18jährige Mädchen mit dem braunen schmalen Antlitz und den schwarzen Brauen, die wet über den trotzigen Augen u. der feinen langen Nase in einander liefen aber doch nur so oben hin; nun wenn er zum alten Tede Volkerts ging, wollte er sie doch besser darauf ansehen, was es mit dem Mädchen auf sich habe. Und gleich wollte er gehen, damit kein anderer ihm die Stelle abjage. Als er dann seine Sonntagsjacke und seine ein paar festen Stiefeln angezogen hatte er bald am Leibe.
Als der lange Junge aufgeschossene junge Mensch danach die hohe Werfte, die an den Seiten des Aufstiegs überall mit Kohl u. Rüben bepflanzt war, hinaufsprang sah er die Tochter des HausWirths neben der niedrigen Hausthür stehen; der eine etwas hagere Arm hing schlaff herunter, die andre Hand schien hinter sich in den Eisenring zu greifen, die zu be von denenje einer zu jeder zur ZSeite der Hausthür in der Mauer waren, damit, wer vor an die Thür ritt, sein Pferd daran befestigen konnte. Die Dirne schien von dort ihre Augen auf über den Deich nach dem Meer hinaus zu haben, wo eben an dem stillen Abend die Sonne in das Meer Wasser hinabsank und zugleich das braune Mädchen mit ihrem letzten Schein umgoldete. |
Hauke wundert sich, dass sein Vater eine Anspielung auf sein Verhältnis zu Elke Volkerts ausgesprochen hat. Der Text konstatiert zunächst knapp, dass Hauke sie kennt, schränkt aber ein „nur so oben hin“. Hauke beschließt, sich das Mädchen genauer anzuschauen und zieht seine besten Kleidungsstücke an. Der zweite Abschnitt erzählt nur vom Gang zum Hause des Deichgrafen und davon, dass Elke gerade vor dem Hause steht. Eine nachträglich in das „Concept“ eingefügte Ergänzung aber gibt eine genaue Beschreibung der Deichgrafentochter, die nicht mehr übereinstimmt mit Haukes erster Erinnerung an eine Wahrnehmung von Elke „nur so oben hin“. Der Text bestimmt nun das Alter Elkes (18 Jahre) und beschreibt ihre Figur sehr genau: sie ist „rank“, hat ein „braunes schmales Antlitz“, „schwarze Brauen“, einen „feine lange Nase“ und - eine besonders genaue Beobachtung- „trotzige Augen“. Die Textergänzung konterkariert Haukes frühere Aussage im inneren Monolog, nach der er sie nur oberflächlich angesehen haben will, denn er kann sich aus der Erinnerung ein sehr genaues Bild machen. Dies nun bestätigt dem Leser , dass der Vater Haukes im vorausgehenden Gespräch mit seinem Sohn diesen wegen Elke nicht ohne Grund „scharf“ angesehen hat. Aber dieses auf den späteren Handlungsprozess vorausdeutende Signal erschien Storm noch nicht deutlich genug. In der „Reinschrift“, Seite 37-38, ist daraus folgendes geworden:
'Dank auch, Vater!' sagte Hauke und stieg zu seiner Schlafstatt auf dem Boden; hier setzte er sich auf die Bettkante und sann, weshalb ihn denn sein Vater um Elke Volkerts angerufen habe. Er kannte sie freilich, das ranke achtzehnjährige Mädchen mit dem bräunlichen schmalen Antlitz und den dunklen Brauen, die über den trotzigen Augen und der schmalen Nase in einander liefen; doch hatte er noch kaum ein Wort mit ihr gesprochen; nun, wenn er zu dem alten Tede Volkerts ging, wollte er sie doch besser darauf ansehen, was es mit dem Mädchen auf sich habe. Und gleich jetzt wollte er gehen, damit kein Andrer ihm die Stelle abjage; es war ja kaum noch Abend. Und so zog er seine Sonntagsjacke und seine besten Stiefel an und machte sich verließ guten Muths auf den Weg das Haus.
<nachträglich eingefügt> Das langgestreckte Haus des Deichgrafen war durch seine hohen Werfte, besonders durch den höchsten Baum des Dorfes, eine gewaltige Esche, schon von weitem sichtbar; der Großvater des jetzigen, der alte erste Deichgraf des Geschlechtes, hatte in seiner Jugend sie eine solche osten der Hausthür hier gesetzt; aber die beiden ersten Anpflanzungen waren vergangen, und so hatte er an seinem Hochzeitsmorgen diesen dritten Baum gepflanzt, der noch jetzt mit seiner immer mächtiger werdenden Blätterkrone in dem hier unablässigen Winde wie von alten Zeiten rauschte.
Als nach einer Weile einiger Zeit der lange aufgeschossene Mensch Hauke die mit Rüben und Kohl bepflanzte hohe Werfte hinaufstieg, welche an den Seiten mit mit Rüben und Kohl bepflanzt war, sah er droben die Tochter des Hauswirths neben der niedrigen Hausthür stehen. Ihr einer etwas hagerer Arm hing schlaff herab, die andere Hand schien hinter im Rücken nach dem Eisenring zu greifen, von denen je einer zu beiden Seiten der Thür in der Mauer war, damit, wer vor die Thür das Haus ritt, sein Pferd daran befestigen könne. Die Dirne schien von dort ihre Augen über den Deich hinaus nach dem Meer zu haben, wo an dem stillen Abend die Sonne eben in das Wasser hinabsank und zugleich das bräunliche Mädchen mit ihrem letzten Schein vergoldete. |
Zunächst wird der ursprüngliche Text vollständig aus dem „Concept“ übernommen und sprachlich überarbeitet noch einmal ausführlicher formuliert. Dann aber fügt Storm erneut einen Text ein, in dem das Haus des Deichgrafen beschrieben wird. Das Auffällige an dem Anwesen ist die hohe Esche, die vom jetzigen Deichgrafen gepflanzt wurde. Es handelt sich um die dritte ihrer Art, denn „die beiden ersten Anpflanzungen waren vergangen“. Das dreifache Baumleben wird so zum Symbol für den Stammbaum der Deichgräflichen Familie, deren Verstand - wie wir bald aus einer provozierenden Äußerung von Tede Haien erfahren werden - im dritten Gliede verschlissen ist. Der zusätzliche Hinweis des Erzählers, dass der jetzige Deichgraf diesen Baum „an seinem Hochzeitsmorgen“ gepflanzt hat, verweist zunächst auf die Fruchbarkeit seiner Eheverbindung, der aber - zu seinen Leidwesen - gar kein Sohn, sondern nur eine Tochter entsprungen ist. Gleichzeitig ist es die erste Wahrnehmung, die Hauke vom Haus des Deichgrafen hat, noch bevor er Elke erblickt. Dadurch verweist der Text symbolisch auch auf die künftige Hochzeit der beiden. Storm poetisiert im Prozess der Szenenerweiterung also seine Texte nicht nur, er schafft auch Symbolkomplexe, die auf eine weitere Bedeutungsebene verweisen, die hinter den Landschafts- und Situationsschilderungen verborgen ist. Für den geübten Leser setzt er deutlich erkennbare und damit auch deutbare Zeichen, die ein Verstehen des zunächst verborgenen Textsinns ermöglichen.
Storm hat an insgesamt 16 Stellen der „Reinschrift“ auf den freien Seiten Texte nachgetragen, zumeist kurze Einschübe, aber auch längere Abschnitte. Mehrfach notiert er „Zur Verdeutlichung“, woraus erkennbar ist, dass diese späten Ergänzungen bei einem nochmaligen Lesen bereits geschriebener Textpassagen, vielleich sogar des fertigen Manuskripts, entstanden sein müssen. Insgesamt umfassen diese Einschübe 165 Zeilen, von denen nur 35 bereits im „Concept“ entworfen wurden. Der Text des längsten Nachtrags („Reinschrift“, S. 77, 55 Zeilen) fehlt dort ganz. Es handelt sich um die Unterbrechung der Erzählung des Schulmeisters, bevor er von der Zeit nach Haukes Weggang vom Hofe des Deichgrafen berichtet. Eingefügt ist ein Abschnitt des inneren Erzählrahmens, in dem zwei Männer die Erzählung im Wirtshaus unterbrechen, als sie davon berichten, wie der gespenstige Schimmelreiter sich in den Bruch gestürzt hat. Durch dieses Ereignis ändert sich die Situation im Wirtshause schlagartig, denn fast alle Zuhörer verlassen die Stube, um draußen Wache zu halten. So bleiben Erzähler und Schulmeister allein zurück. Der Schulmeister bittet seinen übrig gebliebenen Zuhörer, mit auf seine Kammer zu kommen, wo die Erzählung von Hauke Haien ihre Fortsetzung finden soll. Mit dieser Erweiterung beabsichtigte Storm aber mehr, als eine Zäsur der langen Erzählung; als die anderen nämlich aufgrund des Berichts von der Gespenstererscheinung hinausgelaufen sind, bleibt der Schulmeister auf seinem Platz sitzen und zeigt „ein überlegenes, fast mitleidiges Lächeln“ (Königs Lektüren, S. 48). Und er begründet seine überlegene Haltung mit den Worten: „Ich wohne hier im Hause; und glauben Sie mir, ich kenne die Wetter hier am Deich; für uns ist nichts zu fürchten.“ Die Textergänzung soll also noch einmal nachdrücklich die aufgeklärte Position des Schulmeisters von der abergläubischen Furcht der übrigen Marschbewohner abgrenzen; wie in der Binnenerzählung stehen auch in der Rahmenerzählung die beiden möglichen Sehweisen von Naturgewalten und Deichtechnik einander unvermittelt gegenüber. Hauke Haiens Taten haben bis heute, also bis in die erzählte Zeit des Rahmens, nichts am abergläubischen Wesen der einfachen Menschen geändert, signalisiert uns der Text.
Aus: Gerd Eversberg: „Vor der Deichnovelle habe ich einige Furcht“ Storms letzter Schreibprozess im Spiegel der „Schimmelreiter“-Textzeugen. In: G.E. u.a. (Hg.): Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Würzburg 2000, S. 323-348.
Fiktive Mündlichkeit im „Schimmelreiter“
Der Erzählvorgang selbst ist für die gesamte Novellistik Storms bedeutsam; Erzählen und Erinnern werden zu zentralen Mitteln seiner realistischen Darstellung. Storm wählt das Erinnerungsmotiv, „um in dem Leser den Eindruck hervorzurufen, dass aus der Erinnerung heraus erzählt wird“. Auch dadurch erreicht der Autor eine gewisse Nähe zu lebendigem mündlichen Erzählen. Diese Fiktion der Mündlichkeit ist aber nicht nur für die Entwicklung der Stormschen Erzählkunst von Bedeutung, sie bleibt charakteristisches formales Merkmal bis zur Altersnovelle „Der Schimmelreiter“.
In der kunstvoll geschachtelten Rahmenerzählung seines Hauptwerks werden die Ereignisse um den Deichgrafen Hauke Haien von drei Erzählern mitgeteilt; in einem äußeren Rahmen berichtet der namenlose Erzähler von seiner Jugendzeit, in der er auf die Geschichte vom gespenstischen Reiter beim Durchblättern von Zeitschriften gestoßen sein will; der Erzähler beschreibt die Erinnerung an die Lektüre aber so, als ob es sich um eine mündliche Erzählung gehandelt habe. Er lässt nun diese Ereignisse von einem Reisenden erzählen, dem beim Ritt über den Deich bei einer Sturmflut ein Gespenst erscheint.
In einem Gasthof entfaltet erst der dritte Erzähler, ein alter Schulmeister, die Geschichte von Hauke Haien als mündlichen Bericht. Allerdings hat der Schulmeister den Deichgrafen nicht gekannt, er kann also auch nur das erzählen, was ihm mündlich zugetragen wurde.
Mich wollte nachträglich ein Grauen überlaufen: „Verzeiht!“ sprach ich, „was ist das mit dem Schimmelreiter?“
Abseits hinter dem Ofen, ein wenig gebückt, saß ein kleiner hagerer Mann in einem abgeschabten schwarzen Röcklein; die eine Schulter schien ein wenig ausgewachsen. Er hatte mit keinem Worte an der Unterhaltung der Anderen teilgenommen; aber seine bei dem spärlichen grauen Haupthaar noch immer mit dunklen Wimpern besäumten Augen zeigten deutlich, daß er nicht zum Schlaf hier sitze.
Gegen diesen streckte der Deichgraf seine Hand: “Unser Schulmeister“, sagte er mit erhobener Stimme, „wird von uns hier Ihnen das am besten erzählen können; freilich nur in seiner Weise und nicht so richtig, wie zu Haus meine alte Wirtschafterin Antje Vollmers es beschaffen würde.“
„Ihr scherzet, Deichgraf!“ kam die etwas kränkliche Stimme des Schulmeisters hinter dem Ofen hervor, „daß Ihr mir Euern dummen Drachen wollt zur Seite stellen!“
„Ja, ja, Schulmeister!“ erwiderte der Andere; „aber bei den Drachen sollen derlei Geschichten am besten in Verwahrung sein!“
„Freilich!“ sagte der kleine Herr; „wir sind hierin nicht ganz derselben Meinung“; und ein überlegenes Lächeln glitt über das feine Gesicht.
„Sie sehen wohl“, raunte der Deichgraf mir ins Ohr; „er ist immer noch ein wenig hochmütig; er hat in seiner Jugend einmal Theologie studiert und ist nur einer verfehlten Brautschaft wegen hier in seiner Heimat als Schulmeister behangen geblieben.“
Dieser war inzwischen aus seiner Ofenecke hervorgekommen und hatte sich neben mir an den langen Tisch gesetzt. „Erzählt, erzählt nur, Schulmeister“, riefen ein paar der Jüngeren aus der Gesellschaft.
„Nun freilich“, sagte der Alte, sich zu mir wendend, „will ich gern zu Willen sein; aber es ist viel Aberglaube dazwischen, und eine Kunst, es ohne diesen zu erzählen.“
„Ich muß Euch bitten, den nicht auszulassen“, erwiderte ich; „traut mir nur zu, daß ich schon selbst die Spreu vom Weizen sondern werde!“
Dieser Textauszug vom Anfang der Novelle zeigt, dass Storm die dreifache Erzählerfiktion um eine weitere ergänzt; der Schulmeister wird in einem Atemzuge mit der alten „Wirtschafterin Antje Vollmers“ genannt. Diese repräsentiert die einfachen Leute vom Lande, die von Hauke Haien - genau wie der Schulmeister - nur aus älteren Erzählungen wissen; im Gegensatz zu diesem glauben sie aber an Spuk und an Übernatürliches und würde daher das Vergangene in ganz anderer Weise erzählen. Selbst der Schulmeister, der vom Deichgrafen gerade als Gelehrter charakterisiert wurde und später der Aufklärung zugerechnet wird, relativiert das, was er zu erzählen beabsichtigt, mit dem Hinweis, dass viel Aberglauben dazwischen sei, und erst der fiktive Zuhörer, der Erzähler der zweiten Ebene also, traut es sich zu, die Spreu vom Weizen zu sondern.
Eine ähnliche Konstellation von Aufklärung und Aberglauben finden wir innerhalb der Erzählung wieder; dort stehen sich der rational kalkulierende Hauke Haien und einige Knechte und Mägde gegenüber, die in einem „Konventikel“ eine Mischung von Aberglauben und radikalem Pietismus praktizieren.
Durch diesen Erzählgriff erscheint Hauke Haien in der Erzählung des Schulmeisters einerseits als vernünftiger Neuerer und vorausdeutendes Genie, andererseits aber auch als unheimlicher Teufelsbündner, wie er von den abergläubischen Mägden und Knechten gesehen wird. Beide Sichtweisen werden in der Erzählung kunstvoll miteinander verflochten, und der zuhörende Reisende erklärt dem Leser nicht, ob und wie es ihm gelungen ist, die „Spreu vom Weizen“ zu trennen. Im Gegenteil, am Ende der Erzählung des Schulmeisters bleibt als einzige Gewissheit, dass die Körper Haukes und der Seinen verschwunden blieben, nicht einmal Gräber gibt es von ihnen.
Spuren, die von der Existenz Hauke Haiens künden, sind nur der Deich und die Erinnerung von Menschen; letztere ließ sich aber auch im komplexen Erzählvorgang - die Erzählung des Schulmeisters wird mehrfach durch dialogische Reflexionen auf das Problem unterbrochen - nicht in Gewissheit und Vermutung, wirklich Geschehenes und bloß Fantasiertes trennen.
Als der Deichgraf der Rahmenerzählung in den Gasthof zurückkehrt, relativiert er gegenüber dem Reisenden die Erzählung des Schulmeisters auf seine Weise noch einmal:
„Alles vorüber!“ sagte er. „Aber unser Schulmeister hat Ihnen wohl schön was weis gemacht; er gehört zu den Aufklärern!“
“Er scheint ein verständiger Mann!“
„Ja, ja, gewiß; aber Sie können Ihren eigenen Augen doch nicht mißtrauen; und drüben an der anderen Seite, ich sagte es ja voraus, ist der Deich gebrochen!“
Ich zuckte die Achseln: „Das muß beschlafen werden! Gute Nacht, Herr Deichgraf!“
Damit lässt Storm den Leser vollends im Unklaren darüber, ob die Ereignisse, die vorher mit dem Namen Hauke Haien in Verbindung gebracht wurden, der Sphäre der nüchternen Aufklärung angehören, oder ob sie nur Ausgeburten einer abergläubischen Fantasie sind. Und da der Reisende - dem Leser zeitlich und vom modernen Bewusstsein nahe - selber bloß einen Spuk wahrgenommen hat, bleib für den Leser die Frage nach der Existenz Hauke Haiens offen. Die andere Möglichkeit, die von den Nichtaufgeklärten geglaubt wird, gewinnt durch den Erzählvorgang sogar noch an Wahrscheinlichkeit. Jeder erzählt von Hauke Haien so, wie er ihn sieht; jeder dieser Erzählansätze wird wieder relativiert, obwohl Storm seine Erzähler im Prozess des Erzählens sich des Erzählten mehrfach vergewissern lässt. Das Mittel, um den Leser schließlich im Unklaren zu lassen, ist die Fiktion des mündlichen Erzählens. Sie eröffnet unterschiedliche, ja konträre Deutungsmöglichkeiten.
Mit der Fixierung einer Erzählung als Text und mit ihrer Veröffentlichung wird Oralität nicht immer endgültig in Literarität überführt, wie das Beispiel der Schimmelreiter-Sage in Nordfriesland zeigt, von der am Beginn die Rede war. Storm sammelt mündliches Erzählgut seiner Heimat nicht nur, um es zu dokumentieren und ihm einen angemessenen Platz innerhalb der Kulturgeschichte des deutschen Sprachraums zuzuweisen, sondern er benutzt es auch als Material, das von ihm nach der ersten Überführung in ein handschriftliches Manuskript in unterschiedlicher Weise literarisch verwendet wird. Der Grad der Veränderung vorgefundenen Textmaterials spiegelt die zunehmende erzählerische Souveränität des Autors. Aber selbst innerhalb eines fixierten literarischen Textes, der den Prozess hin zum „Werk“ durchlaufen hat, kann das Verhältnis von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit so in der Schwebe gehalten werden, dass der Textsinn mehrdeutig bleibt. Storm führt uns das im „Schimmelreiter“ durch eine komplexe Erzählstruktur vor.
Aus: Gerd Eversberg: Mündlichkeit/ Schriftlichkeit/ Drucktext. Literarische Produktion als Medienwechsel (am Beispiel von Sagen und Spukgeschichten). In: Theodor Storm und die Medien. Berlin 1999, S. 49-66.