Dokument vom:
18.09.2008
Pole Poppenspäler - Unterrichtsgestaltung

Unterrichtsgestaltung

 

 

Einleitung

Theodor Storm gehört zu den meistgelesenen Autoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und erfreut sich bis heute einer großen Beliebtheit. Die scheinbare Einfachheit seiner Novellen hat früh dazu geführt, in ihnen eine ideale Schullektüre zu sehen. Das schadete dem literarischen Ansehen mancher Texte Storms, die bald als „Jugendlektüre” abgestempelt wurden. Gerade die bekannte Novelle „Pole Poppenspäler” stand lange Zeit für eine Gruppe von Texten, die leichter für Schüler der Mittelstufe zu verstehen seien, als andere Beispiele realistischer Erzählkunst des vorigen Jahrhunderts.

Mit einer solchen Klassifizierung wird man der Vielfalt an Inhalten und formalen Strukturen des Stormschen Werks gewiss nicht gerecht. Doch zeigt die arge Vernachlässigung der Erzählungen Storms durch die Literaturwissenschaften, wie hartnäckig sich ein solches Vorurteil halten kann. So ist zum Beispiel die Novelle „Pole Poppenspäler” nach anfänglicher begeisterter Aufnahme durch die Pädagogen nur ein einziges Mal einer detaillierteren Textanalyse unterzogen worden, und zwar in einer germanistischen Dissertation Anfang der zwanziger Jahre. Erst 1975 (!) erschien in der Schriftenreihe der Theodor-Storm-Gesellschaft eine größere Arbeit, in der sich der Verfasser die Mühe macht, die häufig in Mittelstufenklassen gelesene Novelle einer genauen Interpretation zu unterziehen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung legen nahe, dass die Künstlerproblematik, die im Mittelpunkt der Erzählung steht, durch eine zu oberflächliche „Pädagogisierung” der Novelle als schülergerechter Lesestoff der Klassen 7 und 8 kaum in den Blick geraten ist. In den letzten zwanzig Jahren sind weitere Interpretationen erschienen, die auch andere Deutungen des Textes zulassen, so die Vorstellung, dass Storm seine Idealvorstellung eines tüchtigen Handwerkertums in der Novelle im Kontrast zum untergehenden fahrenden Gewerbe entfaltet.

Noch vor einigen Jahren galten die Novellen Storms nicht mehr viel als Lektüren eines „emanzipatorischen” Unterrichts, weil der Autor in Verdacht geraten war, wirklichkeitsfremde Idyllen zu gestalten. Das hat sich in den letzten Jahren geändert.

Diese neuerliche Beschäftigung mit Storm auch in der Schule hat aber einen anderen Grund. Nach Jahren der Aufarbeitung bisher zu Unrecht vergessener und verschwiegener sozialkritischer Autoren wird der Begriff Natur wiederentdeckt, und es setzt eine neuerliche Identifizierung mit dem überschaubaren Lebensraum ein, aus dem wir stammen und in dem wir uns bewegen. Storm ist kein Heimatdichter, aber er hat fest in seiner Heimat verwurzelt aus dieser Identifikation mit dem Land zwischen den Meeren und seinen Menschen seine sprachlich reizvollen Gedichte und Novellen geschrieben. Auch in seiner Jungendnovelle „Pole Poppenspäler“ kann der moderne Leser regionale Erfahrungen von Storm wiederfinden und sich in Husum und Heiligenstadt auf die Suche nach Spuren begeben. Moderne Menschen vermissen immer mehr diese verlorene Identität. Da aber seit einiger Zeit die scheinbar unbegrenzte Fortschrittsgläubigkeit einer zweifelnden Haltung weicht, weil wir in unserer von moderner Technik so veränderten Welt auch den Sinn unseres Tuns nun wieder in Frage stellen, gewinnt der Autor wie Storm für uns Bedeutung, der uns aus einer vergangenen Zeit beileibe keine Idyllen vor Augen führt, sondern der zutiefst menschliche Probleme und Konflikte gestaltet hat, und das mit einer sprachlichen Kraft und poetischen Trefflichkeit, die uns bei der Besinnung auf unsere Herkunft und auf den Sinn unseres Lebensweges berühren kann.

 

Didaktisch-methodische Literatur

Auf ein Unterrichtsmodell wird an dieser Stelle verzichtet; folgende kommentierte Ausgaben und Vorschläge für die Unterrichtsgestaltung sind zur Zeit auf dem Markt:

Theodor Storm: Pole Poppenspäler. Novelle. Hg. von Johannes Diekhans. Erarb. und mit Anm. versehen von Jean Lefebvre. Paderborn: Schöningh 2000.
Lesen Sie die Rezension in den "Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft" 50.2001!

Theodor Storm. Pole Poppenspäler. Novelle. Hg. von Georg Völker. Berlin: Cornelsen 1998. (Text und Materialien.)
Theodor Storm. Pole Poppenspäler. Novelle. Hg. von Georg Völker. Berlin: Cornelsen 1998. (Lehrerheft.)

 

Texte für den Unterricht

Der folgende Materialienteil enthält 5 kürzere und längere Texte, die als Kopiervorlagen dienen können und den Schülern während der Unterrichtsreihe ergänzende Informationen bieten. Je nach Schwerpunkt der Besprechung oder Erarbeitung lassen sich auch einzelne Texte auswählen; das Material kann auch bei Gruppenarbeit verwendet werden, eventuell in Verbindung mit einigen im Literaturverzeichnis erwähnten Veröffentlichungen.

 

Quellennachweise

T1 Dokumente von Puppenspielern des 19. und 20. Jahrhunderts.

Bei den beiden Zeugnissen von Puppenspielern handelt es sich beim ersten Text um einen Auszug aus der Lebensschilderung des um 1850 geborenen Puppenspielers Johann Jungkunz, der in Süddeutschland ein Wandermarionettentheater betrieben hat. Dieses Lebenszeugnis wurde 1938 aufgezeichnet.
Der zweite Text stammt aus dem Jahre 1931 und wurde von Antonie Bindl erzählt, die zu der ebenfalls in Süddeutschland wirkenden Puppenspielerfamilie Widmann gehörte.
Beide Dokumente sind der Veröffentlichung „Das Hänneschen läßt die Puppen tanzen“, Köln 1976, entnommen.

 

T2 Zur Geschichte des Puppenspielers in Deutschland

Es handelt sich um eine Zusammenstellung, die auch in der Datei „Zum Puppenspiel“ enthalten ist; ergänzend sei auf eine weitere Darstellung verwiesen:
Hans R. Purschke: Die Anfänge der Puppenspielerformen und ihre vermutlichen Ursprünge. Bochum 1979. (Puppenspielkundliche Quellen und Forschungen, Nr.4)

 

T3 Paul Heyses Novellentheorie

Auszug aus: Deutscher Novellenschatz, hrsg. v. Paul Heyse und Hermann Kurz, Bd. 1, München 1871, 5. XVIff. Vergl. Auch unter Quellen.

 

T4 Aus dem Briefwechsel zwischen Storm und Heyse

Vergl. auch unter Entstehungsgeschichte.

 

T1 Dokumente von Puppenspielern des 19. und 20. Jahrhunderts

„Als Kind zog ich mit meinem Vater, der Pferdehändler und Kasperlspieler war, durch das Land. Auf unseren Wanderfahrten, die oft weit nach Österreich und Ungarn hinab reichten, reisten wir manchmal auch mit Schauspieler-Gesellschaften oder Marionettenspielern zusammen. Einer der berühmtesten Marionettenspieler, der alte Eisen, oder Lehner Franz, wie er eigentlich hieß, kaufte meinem Vater Pferde ab und erhandelte mich als Roßburschen dazu.

Als ich in seinen Dienst trat, war ich 17 Jahre alt. Ich hatte nur die Pferde zu versorgen denn er zog mit 4 bis 6 Pferden und abends beim Spiel kleinere Handreichungen zu machen. Mein Nachtlager hatte ich auf einem Strohsack hinter der Bühne neben den Marionetten und Dekorationsstücken. Dort entdeckte ich eines Tages die ,Bibliothek' meines Meisters: 20 bis 30 Hefte, und in jedes war mit großer deutlicher Schrift ein anderes Spiel aufgeschrieben. Ohne daß mein Meister eine Ahnung davon hatte, las ich nachts beim Schein einer Kerze die ganzen Hefte durch. Es drängte mich nun mächtig, selbst einmal zu spielen, und ich begann damit, ein Stück auswendig zu lernen. Als ich meinen Alten einmal bei guter Laune glaubte, bat ich ihn, in der nächsten Vorstellung eine Rolle übernehmen zu dürfen. ,Was, du Bauernlümmel willst Theater spielen?' herrschte er mich an. ,Ja, ich glaub' schon, daß ich es könnt', sagte ich mit Festigkeit. ,Nun gut, wir wollen es einmal versuchen, aber wehe dir, wenn du einen Fehler machst...'. Mein Spiel mußte zu seiner Zufriedenheit ausgefallen sein, denn wenn er auch nichts sagte, so zahlte er mir doch nach der Vorstellung eine Maß Bier. Nach und nach bekam ich immer würdigere Rollen und zuletzt den Kasperl. ,Brav, Johann', sagte er, als er mein gutes Mundwerk hörte, ,du darfst nächsten Sonntag in der Kindervorstellung den Kasperl übernehmen'. So ging es Schritt um Schritt aufwärts, und zuletzt war ich sein ebenbürtiger Kompagnon.“

„Die Texte aus unserer Bibliothek stammen zum größten Teil von Großvaters Hand, welcher sie nach Texten von Christoph Schmid aus Reclamsbüchern für Marionetten bearbeitet hat. Alle sind handgeschrieben. Vater tauschte wieder mit seinen Kollegen Wecker, Hofbauer, Höfer usw. Theaterstücke aus. Das Leben stellte sich recht bunt zusammen, vier bis sechs Wochen auf einem Platz, dann ging es wieder weiter; gespielt wurde im Saal, gewohnt in dem gleichen Gasthof. Bei der Abreise wurde alles auf einen Wagen verpackt, teils mit der Bahn, teils per Achse weitergereist! So ging es, bis ich 13 Jahre alt wurde, und mein Vater starb im Jahre 1900 in Kaufering bei Landsberg. Schwer war der Schlag für Mutter und mich, doch weiter mußten wir wandern. Vermögen hatten wir keines. So waren wir weiter gezwungen, unser Brot zu verdienen. Mit der Hilfe unseres treuen, alten Andrae ging es auch, doch bekam er bald ein Kehlkopfleiden, konnte nicht mehr spielen und starb auch bald nach Vaters Tod. So wurde das Geschäft still-gelegt, bis ich selbst mich verheiratete und zwar mit 17 Jahren. Doch mein Mann, Ludwig Bindl, war Zauberkünstler und Illusionist mit eigenem Theater, und so konnte auch ich nicht gleich mein Theater ausführen, ich mußte mich für das Geschäft meines Mannes umstellen. Da erwachte dann wieder Onkel Xaver, da er seine Försterei aufgab und sich ein neues Theater baute, welches er einige Jahre in Nürnberg aufbaute, genannt das ,historische Marionettentheater'. Doch wieder war Krankheit eingekehrt, und machte es Onkel und Tante zur Unmöglichkeit, das Theater weiterzuführen, und er gab es nach achtjähriger Spielzeit wieder auf. Im Jahre 1916 fingen dann wir wieder an. Mein Mann machte Verbesserungen am Geschäft, der Zeit entsprechend, und so bauten wir uns zwei Bühnen, welche dann in München, eine in der Türkenstraße und eine in der Au, in Betrieb waren, beide mit Erfolg. Doch wieder kam ein Schicksalsschlag. Unser einziges Kind, unser Töchterchen starb. Es war 1922, wo wir unser Theater wieder stillegten und verkauften. Wir hatten uns wieder umgestellt und betrieben ein Möbelgeschäft, das drei Jahre stand. Dann kam doch wieder der alte Trieb zum Marionettentheater. Mein Mann baute eine neue Bühne, ließ Figuren von Professoren schnitzen, Dekorationen malen, Kostüme machte ich selbst, wir bekamen eine elektrische Lichtanlage, während man bei Vaters- und Großvaterszeiten Petroleumlampen hatte, ja sogar eine eigene Musikkapelle und einen 8 m langen Wohnwagen, alles neu. So begannen wir eine Tournee am 12. September 1925. Wir fingen in Miesbach an und machten fort ins Fränkische, Badische, Hessen, Württemberg, wo wir überall künstlerisch und finanziell sehr guten Erfolg hatten. Doch wurden auch wir ein Opfer der Zeit; denn die großen Lasten an Transportspesen, Saalmieten, Zeitungen, Personal und die horrenden Steuern machten es uns unmöglich, weiterzureisen. Im Jahre 1929 gaben wir unser Theater auf. Ob es für immer ist, das weiß ich heute noch nicht. Ich glaube aber kaum.“

 

T2 Zur Geschichte des Puppenspielers in Deutschland

Es lässt sich heute geografisch und zeitlich nicht festlegen, wo und wann das Spiel mit Puppen seinen Ursprung hatte. Die Wissenschaft hat unterschiedliche Theorien über die Herkunft des Puppenspiels entwickelt, die entweder von einer gemeinsamen Quelle oder aber von einer räumlich und zeitlich unabhängigen Entwicklung ausgehen. Für die letztere Annahme spricht, dass sich in vielen kulturellen Epochen an verschiedenen Orten der Erde ähnliche Formen der Puppen und des Puppenspiels entwickelt haben.

Manche Forscher vermuten die Heimat des Puppenspiels in Indien, von wo aus Zigeuner es nach Europa gebracht hätten. Andere nehmen das antike Griechenland als Herkunftsland an, doch zeigen einige Forschungsergebnisse, dass lediglich die genauere Herkunft bestimmter Hauptformen des Puppenspiels, wie Handpuppen, Stockpuppen und Marionetten ermittelt werden kann. Diese Puppenformen haben sicherlich nicht das gleiche Ursprungsland und stammen auch aus verschiedenen Zeiten.

 

Das Handpuppenspiel

Über das Handpuppenspiel liegen in Europa Dokumente erst aus dem frühen 13. Jahrhundert vor. Die Quellen lassen vermuten, dass sich diese Art des Puppenspiels im persischen Raum entwickelt hat, da es in Asien und Europa in ähnlichen Ausprägungen vorkommt. Im Mittelpunkt des Geschehens steht eine lustige Person, die dem Volksschauspiel verbunden ist und ihre jeweilige regionale Ausprägung erfährt. Sie entstammt den unteren Schichten und greift soziale Missstände auf, gegen die sie rebelliert. Weitere Figuren parodieren menschliche Unzulänglichkeiten durch Übertreibungen (z. B. Bauer, Polizist, Großmutter usw.).

Die lustige Figur des „Hans Wurst” wird im 18. Jahrhundert durch das Wiener Volkstheater in den gemäßigteren „Kasperl Larifari” verwandelt, der im Spiel die Interessen der städtischen Unterschichten wahrnimmt. Diese Figur wird im ausgehenden 18. Jahrhundert vom Puppentheater übernommen und wandelt sich in den nächsten Jahrzehnten immer mehr zur belanglosen Klamaukfigur des Kindertheaters, weil sich das Erwachsenenpublikum vom Puppentheater abwendet und der zeitkritische Bezug verloren geht. Wir kennen diese Figur heute als „Kasper“.

 

Das Marionettenspiel

Marionetten werden Gliederpuppen genannt, die an Fäden, Drähten oder Stangen geführt werden. Über ihre Herkunft ist nichts Genaues bekannt. Man vermutet China, Persien oder Indien als Heimat; in China war ihre Entwicklung Ende des 16. Jahrhunderts am weitesten fortgeschritten, als Jesuiten diese Puppenformen nach Europa brachten. Ob hier schon vorher Marionetten bekannt waren, lässt sich nicht nachweisen.

Im 18. Jahrhundert genoss das Marionettentheater in Europa ein hohes Ansehen; oft wurde das Menschentheater kopiert. Die Theatergruppen waren von der Gunst der Fürsten abhängig, das Spiel unterschied sich aber durch die höheren technischen Anforderungen auch qualitativ von dem der Handpuppenspieler, die dem Jahrmarkttreiben und der Schaustellerei verbunden blieben. Im 19. Jahrhundert erfuhr das Marionettenspiel eine Vervollkommnung und erlangte durch die neuen stehenden Bühnen ein hohes Ansehen.

 

Das Stockpuppenspiel

Diese in China schon kurz nach Christi Geburt verbreitete Puppenform wird an einem starren Stock geführt, auf dem der Kopf sitzt. Die Hände können durch Stäbe bewegt werden. In Deutschland spielt man seit Beginn unseres Jahrhunderts verstärkt mit Stockpuppen; die Mechaniken zur Bewegung von Mund, Augen usw. sind immer komplizierter geworden.

 

Puppentheater im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich einiges gegenüber früher geändert: Menschenbühne und Puppentheater hatten sich getrennt, die Unternehmen waren nicht mehr in beiden Bereichen zugleich aktiv, und aus den vormals großen Truppen waren durch Spezialisierung auf Marionetten Familienunternehmen geworden. Während sich das Menschentheater einen anerkannten Platz im Bereich der Künste erobern konnte, drifteten die Puppenspieler immer mehr zu den Schaustellern ab. Dadurch veränderten sich auch Publikum und Stücke: Immer weiter verbreitete sich die Ansicht, das Puppenspiel sei Kindersache.

 

T3 Paul Heyses Novellentheorie

Von dem einfachen Bericht eines merkwürdigen Ereignisses oder einer sinnreich erfundenen abenteuerlichen Geschichte hat sich die Novelle nach und nach zu der Form entwickelt, in welcher gerade die tiefsten und wichtigsten sittlichen Fragen zur Sprache kommen, weil in dieser bescheidenen dichterischen Gattung auch der Ausnahmefall, das höchst individuelle und allerpersönliche Recht im Kampf der Pflichten, seine Geltung findet. Fälle, die sich durch nicht allgemein gültige Lösung der dramatischen Behandlung entziehen, sittliche Zartheit oder Größe, die zu ihrem Verständnis der sorgfältigsten Einzelzüge bedarf, alles Einzige und Eigenartige selbst Grillige und bis an die Grenze des Hässlichen sich Verirrende ist von der Novelle dichterisch zu verwerten. Denn es bleibt ihr von ihrem Ursprung her ein gewisses Schutzrecht für das bloß Tatsächliche, das schlechthin Erlebte, und für den oft nicht ganz reinlichen Erdenrest der Wirklichkeit kann sie vollauf entschädigen, teils durch die harmlose Lebendigkeit des Tons, indem sie Stoffe von geringerem dichterischen Gehalt auch in anspruchloserer Form, ohne den vollen Nachdruck ihrer Kunstmittel überliefert, teils durch die unerschöpfliche Bedeutsamkeit des Stoffes selbst, da der Mensch auch in seinen Unzulänglichkeiten dem Menschen doch immer das Interessanteste bleibt.

(...) Wie sehr auch die kleinste Form großer Wirkungen fähig sei, beweist unseres Erachtens gerade die Novelle, die im Gegensatz zum Roman den Eindruck eben so verdichtet, auf einen Punkt sammelt und dadurch zur höchsten Gewalt zu steigern vermag, wie es der Ballade, dem Epos gegenüber, vergönnt ist, mit einem raschen Schlage uns das innerste Herz zu treffen. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, das Kapitel der Ästhetik über Roman und Novelle zu schreiben, so wenig wir mit den einleitenden Notizen eine Geschichte der deutschen Novellistik zu geben dachten. So viel aber muss doch zu vorläufiger Verständigung gesagt werden, dass wir allerdings den Unterschied beider Gattungen nicht in das Längenmaß setzen, wonach ein Roman eine mehrbändige Novelle, eine Novelle ein kleiner Roman wäre. Da lang und kurz relative Begriffe sind und man bekanntlich die simpelste Liebesgeschichte für den Liebhaber nicht lang genug ausspinnen, dagegen den Inhalt der Odyssee „zum Gebrauch des Dauphin”[1] auf eine Quartseite bringen kann, so muss, wenn es sich um mehr als Namen handeln soll, schon im Thema, im Problem, im unentwickelten Keim etwas liegen, das mit Notwendigkeit zu der einen oder anderen Form hindrängt.

Und dies scheint, wenn man auf das Wesentliche sieht, in Folgendem zu beruhen.

Wenn der Roman ein Kultur- und Gesellschaftsbild im Großen, ein Weltbild im Kleinen entfaltet, bei dem es auf ein gruppenweises Ineinandergreifen oder ein konzentrisches Sichumschlingen verschiedener Lebenskreise nicht eigentlich abgesehen ist, so hat die Novelle in einem einzigen Kreise einen einzelnen Konflikt, eine sittliche oder Schicksals-Idee oder ein entschieden abgegrenztes Charakterbild darzustellen und die Beziehungen der darin handelnden Menschen zu dem großen Ganzen des Weltlebens nur in andeutender Abbreviatur[2] durchschimmern zu lassen. Die Geschichte, nicht die Zustände, das Ereignis, nicht die sich in ihm spiegelnde Weltanschauung, sind hier die Hauptsache; denn selbst der tiefste ideelle Gehalt des einzelnen Falles wird wegen seiner Einseitigkeit und Abgetrenntheit – der Isolierung des Experiments, wie die Naturforscher sagen – nur einen relativen Wert behalten, während es in der Breite des Romans möglich wird, eine Lebens- oder Gewissensfrage der Menschheit erschöpfend von allen Seiten zu beleuchten. Freilich wird es auch hier an Übergangsformen nicht fehlen. Hat doch unser größter Erzähler in seinen Wahlverwandtschaften ein echt novellistisches Thema mit vollem Recht zum Roman sich auswachsen lassen, indem er das bedeutende Problem mitten in ein reich gegliedertes soziales Leben hineinsetzte, obwohl vier Menschen auf einer wüsten Insel eben so gut in die Lage kommen konnten, die Gewalt dieses Naturgesetzes an sich zu erfahren.

Im Allgemeinen aber halten wir auch bei der Auswahl für unsern Novellenschatz an der Regel fest, der Novelle den Vorzug zu geben, deren Grundmotiv sich am deutlichsten abrundet und – mehr oder weniger gehaltvoll – etwas Eigenartiges, Spezifisches schon in der bloßen Anlage verrät. Eine starke Silhouette – um nochmals einen Ausdruck der Malersprache zu Hülfe zu nehmen – dürfte dem, was wir im eigentlichen Sinne Novelle nennen, nicht fehlen, ja wir glauben, die Probe auf die Trefflichkeit eines novellistischen Motivs werde in den meisten Fällen darin bestehen, ob der Versuch gelingt, den Inhalt in wenige Zeilen zusammenzufassen, in der Weise, wie die alten Italiener ihren Novellen kurze Überschriften gaben, die dem Kundigen schon im Keim den spezifischen Wert des Themas verraten. Wer, der im Boccaz die Inhaltsangabe der 9ten. Novelle des 5ten. Tages liest:

Federigo degli Alberighi liebt, ohne Gegenliebe zu finden; in ritterlicher Werbung verschwendet er all seine Habe und behält nur noch einen einzigen Falken; diesen, da die von ihm geliebte Dame zufällig sein Haus besucht und er sonst nichts hat, ihr ein Mahl zu bereiten, setzt er ihr bei Tische vor. Sie erfährt, was er getan, ändert plötzlich ihren Sinn und belohnt seine Liebe, indem sie ihn zum Herrn ihrer Hand und ihres Vermögens macht” – wer erkennt nicht in diesen wenigen Zeilen alle Elemente einer rührenden und erfreulichen Novelle, in der das Schicksal zweier Menschen durch eine äußere Zufallswendung, die aber die Charaktere tiefer entwickelt, aufs Liebenswürdigste sich vollenden? Wer, der diese einfachen Grundzüge einmal überblickt hat, wird die kleine Fabel je wieder vergessen, zumal wenn er sie nun mit der ganzen Anmut jenes im Ernst wie in der Schalkheit unvergleichlichen Meisters vorgetragen findet.

Wir wiederholen es: Eine so einfache Form wird sich nicht für jedes Thema unseres vielbrüchigen modernen Kulturlebens finden lassen. Gleichwohl aber könnte es nicht schaden, wenn der Erzähler auch bei dem innerlichsten oder reichsten Stoff sich zuerst fragen wollte, wo „der Falke” sei, das Spezifische, das diese Geschichte von tausend anderen unterscheidet.

Anmerkungen:

[1] Für Schüler bearbeitete Ausgaben der Klassiker, in denen anstößige Stellen entfernt wurden. „Dauphin“ war der Titel des französischen Kronprinzen.
[2] lat.: Abkürzung

 

T4 Aus dem Briefwechsel zwischen Storm und Heyse

1. Heyse an Storm, 11.12.1875

(...) Pole Poppenspäler ist auch seinem Vater aus den Augen geschnitten, der ja bekanntlich zwei Gesichter hat, ein idyllisches und ein novellistisches im eigentlichen Sinne. Ich bin nur durch meine Schatzgräberei, wo ich jede Novelle zunächst auf ihren „Falken” ansah – Sie entsinnen sich vielleicht der Einleitung zu unserm „Novellenschatz” –, dahin gekommen, dass ich immer etwas vermisse, wenn kein eigentlich novellistisches Motiv mir entgegenspringt, eines mit einer psychologischen Kollision, ein Problem, wenn Sie lieber wollen. Eine Reihe Genrebilder, selbst von Ihrer sichern und zarten Hand ausgeführt, hinterlässt mir ein verstohlenes Verlangen nach einem Mittelpunkt, der das Ganze organisiert. Aber ich bin nicht so Pedant, dass ich auch jede reizende Geschichte für „Unsere Jugend” nach ihrem novellistischen Pass befragte, und nur die Nachbarschaft des „Waldwinkels” hat diese Betrachtungen angeregt.

(...) Mit Ihrem Süddeutsch, Teuerster, steht es „man swack”. Hätten Sie sich doch Liseis Geplauder von meiner „geliebten Münchnerin” revidieren lassen, die auch mich noch immer auslacht, wenn ich das richtige Bayrisch zu stammeln wage.

 

2. Storm an Heyse, 16.4.1876

(...) Meines Doppelgesichts, dessen Sie in Ihrem letzten Briefe erwähnten, bin ich mir, und war ich mir insbesondre auch eben bei Abfassung des Poppenspälers, nur zu sehr bewusst; nehmen Sie einstweilen darin den „Kasperle” als den Falken; so etwas ist er doch in der Tat. – Wo ist der Falke in Goethes „Faust”? Er müsste sehr zusammengesucht werden. Das soll übrigens kein Argument gegen den von mir sehr respektierten Falken sein; ich meine nur, es kann ein bedeutender poetischer Wert auch ohne ihn vorhanden sein. Die Unterscheidung von „Novelle” und „Erzählung” ist übrigens gegeben.

Theodor Storm. Briefe, Hrsg. v. P. Goldammer, Bd. 2, Berlin 1972, S. 110 f. und 126 f.

 

T5 Theodor Storm - Leben und Werk


Theodor Storm um 1870, Photographie von Rudolph Ström. (Storm-Archiv Husum)

Daten zu Storms Leben

1817 Am 14. September in Husum als Sohn des Rechtsanwalts Johann Casimir Storm (1790-1874) geboren; Mutter: Lucie, geb. Woldsen (1797-1879).
1818 Umzug der Familie ins Haus Neustadt 56.
1821 Umzug in das Haus der Großeltern Woldsen, Hohle Gasse 3.
1826 Theodor tritt in die Quarta der Husumer Gelehrtenschule ein.
1833 Erstes Gedicht: „An Emma“
1834 Erste Gedichtveröffentlichung „Sängers Abendlied“ im Husumer Wochenblatt vom 27. Juli 1834.
1835 Im Herbst wechselt Theodor zum Katharineum in Lübeck und besucht die Prima; dort Freundschaft mit Ferdinand Röse, der ihn mit Goethes „Faust“ und der Lyrik Heines und Eichendorff bekannt macht.
1837 Beginn des Jura-Studiums in Kiel; Storm schreibt ein Märchen und Gedichte für Bertha von Buchan; Verlobung mit der 17-jährigen Emma Kühl von Föhr.
1838 Entlobung; Studium in Berlin, Bildungsreise nach Dresden. Veröffentlichung von Gedichten im den „Neuen Pariser Modeblättern“.
1839 Rückkehr zur Universität Kiel; Freundschaft mit Theodor und Tycho Mommsen.
1842 Bertha von Buchan weist Theodors Heiratsantrag zurück; juristisches Staatsexamen in Kiel. Beginn der Sammlung von Sagen und Reimen aus Schleswig-Holstein. Im Herbst kehrt Theodor nach Husum zurück und arbeitet in der väterlichen Kanzlei.
1843 Eröffnung einer Rechtsanwaltskanzlei; Gründung eines gemischten Gesangsvereins. Weitere Veröffentlichungen im „Volksbuch auf das Jahr 1844“ und im „Liederbuch dreier Freunde“.
1844 Verlobung mit seiner Cousine Constanze Esmarch, Tochter des Bürgermeisters von Segeberg. Teilnahme am Nordfriesenfest in Bredstedt.
1845 Einzug in das Haus Neustadt 56. Karl Müllenhoff gibt die Sagensammlung mit vielen Beiträgen von Storm zum Druck.
1846 Eheschließung mit Constanze. Weitere Arbeiten für die „Volksbücher“.
1847 Liebesverhältnis zu Dorothea Jensen, leidenschaftliche Liebesgedichte, z. B. „Rote Rosen“; „Marthe und ihre Uhr“ im „Volksbuch“ veröffentlicht.
1849 Storm engagiert sich für die nationale Unabhängigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein; „Immensee“ (1. Fassung).
1850 Niederlage der Schleswig-Holsteiner bei Idstedt; Beschießung von Friedrichstadt.
1852 Storms Bestallung als Rechtsanwalt wird kassiert; Stellungssuche, erste Reise nach Berlin: „Immensee“ (2. Fassung), „Gedichte“.
1853 Ernennung zum preußischen Gerichtsassessor; Wohnung in Potsdam. Bekanntschaft mit Fontane; Beginn des Briefwechsels mit Paul Heyse.
1855 Besuch bei Eduard Mörike in Stuttgart.
1856 Freundschaft mit dem Illustrator Ludwig Pietsch; Ernennung zum Kreisrichter in Heiligenstadt; Übersiedlung nach Thüringen.
1859 „Auf dem Staatshof“.
1862 „Im Schloß“.
1864 Deutsch-Dänischer Krieg. Storm wird zum Landvogt des Kreises Husum gewählt; Rückkehr nach Husum.
1865 Tod Constanzes. Gedichtzyklus „Tiefe Schatten“; Novelle „Von Jenseit des Meeres“. Reise nach Baden-Baden zu Iwan Turgenjew.
1866 Vermählung mit Dorothea Jensen; Umzug in das Haus Wasserreihe 31.
1868 Nach Aufhebung des Amtes des Landvogts wird Storm Amtsrichter; erste Aufl. der „Gesammelten Schriften“.
1870 „Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius. Eine kritische Anthologie“.
1872 „Draußen im Heidedorf“; Reise nach Salzburg und München.
1874 Ernennung zum Oberamtsrichter; „Pole Poppenspäler“.
1876 „Aquis submersus“; „Meine Erinnerung an Eduard Mörike“.
1877 Beginn des Briefwechsels mit Gottfried Keller; „Carsten Curator“.
1878 „Renate“.
1880 Pensionierung; Umzug nach Hademarschen. „Die Söhne des Senators“.
1882 „Hans und Heinz Kirch“.
1884 „Zur Chronik von Grieshuus“; Festbankett in Berlin zu Ehren Storms.
1885 „John Riew’“; „Ein Fest auf Haderslevhuus“.
1886 Reise nach Weimar; „Bötjer Basch“; Beginn der Arbeit am „Schimmelreiter“. Schwere Krankheit.
1887 „Ein Doppelgänger“; „Ein Bekenntnis“; Reise nach Sylt; „Sylter Novelle“ (Fragment); Feier zum 70. Geburtstag in Hademarschen.
1888 Vollendung der Novelle „Der Schimmelreiter“; Tod Storms am 4. Juli; Beisetzung am 7. Juli in der Familiengruft auf dem Husumer St. Jürgen-Friedhof.

 

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