Dokument vom:
18.09.2008
Der Schimmelreiter - Dokumente zur Interpretation

Dokumente zur Interpretation

  • Johannes Klein: Geschichte der deutschen Novelle (1956)
  • Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus (1962)
  • Regina Fasold: Theodor Storm. Stuttgart 1997
  • David Jackson: Annektion oder Befreiung der Vergangenheit?

Die folgenden Auszüge aus der Literatur über Theodor Storm sollen beispielhaft zeigen, wie man die Novelle des Dichters unterschiedlich deuten kann. Die Interpretation ist das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit einem Text, sie ist aber nicht eindeutig und zwingend, das heißt, verschiedene Interpreten können ganz verschiedene Deutung ein und desselben Werkes anfertigen. Die Deutung hängt von sehr viel verschiedenen Faktoren ab. So gibt es innerhalb der Literaturwissenschaften unterschiedliche Methoden (Wege), literarische Werke zu deuten. Man kann beispielsweise die Biografie des Autors bei der Deutung seiner Texte berücksichtigen, oder die Interpreten haben ein besonderes Weltbild und deuten Literatur von diesem Standpunkt aus.
Gerade beim Schimmelreiter zeigt ein Vergleich der hier abgedruckten Deutungen, wie wenig von der Vielschichtigkeit möglicher Bedeutungszusammenhänge durch einseitige Interpretationsmethoden erfasst wird.
Zugleich zeigen diese Interpretationsbeispiele, dass von einer Deutung nicht die gesamte Vielfalt möglicher Bedeutungen erfasst werden kann. Erst die Zusammenschau unterschiedlicher Methoden wird uns das Verständnis erleichtern, das ja eigentlich für jeden interessierten Leser die ganz persönliche Deutung des Werks voraussetzt.

Johannes Klein: Geschichte der deutschen Novelle (1956)
Das Werk als Schicksal: „Der Schimmelreiter“

Storms letztes Werk, kurz vor seinem Tode fertig geworden, ist die monumentalste deutsche Novelle seit dem „Kohlhaas“ und unfertig wie dieser. Wie der „Kohlhaas“ begeistert er und befremdet dann, läßt keine letzte menschliche Annäherung zu, ja über den „Kohlhaas“ hinaus wird das Menschliche zu groß und einsam. Und trotz äußerer Abrundung sind die Teile nicht gleichmäßig durchgeführt. Es ist das letzte Werk eines todkranken Dichters und enthält alles Heldentum eines Geistes, der sich gegen einen gebrechlichen Leib durchsetzt. Daß aber das letzte Werk bei allen Fragwürdigkeiten das gewaltigste ist, bleibt ein seltener Fall. Es bedeutet viel, wenn man Storm neben Kleist nennen muß. Nicht nur innerhalb der Geschichte unserer Novelle, sondern auch unseres Geisteslebens überhaupt ist damit eine Wertordnung berührt. Das ist umso wichtiger, als die Wege beider Dichter so verschieden waren. Kleist trat mit seinen Novellen als ein Fertiger auf und starb früh. Storm reifte in einer langsamen Entwicklung und vollendete sich im Alter.
Der Grundzug des „Schimmelreiters“ ist dem des „Kohlhaas“ verwandt. Bei Kleist kämpft ein einzelner gegen die übermächtige Ungerechtigkeit der Welt, bei Storm ein einzelner gegen die Elementarmacht und menschliche Verstocktheit. Kleists Kohlhaas und Storms Hauke Haien erliegen, um einen Ausdruck Schillers zu gebrauchen, in Sympathie mit der ewigen Übermacht.
Wir haben es mit einer doppelten Rahmennovelle zu tun. Die erste umschließt die zweite, und dadurch rückt das halb geschichtliche, halb gespenstische Geschehen in noch größere Ferne.
[...]
Zwei Leitmotive fügen sich zueinander: das des Schimmelreiters, mit dem die Hauptgestalt in die Mitte tritt, – es wird durch das Motiv des Gespensterpferdes ins Unheimliche gerückt – sowie das des Opfers. Seinem Werk hingegeben, muß Hauke selber als lebendiges Opfer sein Werk festigen. Jedes Werk schaut über Jahrhunderte und nicht nur über ein kurzes Leben, ist also aus dem Dasein von Fleisch und Blut allein noch nicht verständlich. Das Volk wählt den ihm gemäßen Ausdruck und entmenschlicht den Schimmelreiter. So irrt der Geist des Toten noch immer um sein Werk und warnt bei Gefahr. So lebt der Schöpfer in seinem Werk. Die Rahmenhandlung führt auf dies Weiterleben hin. – Gegenmotiv zu den Leitmotiven sind die Vögel, die in den Eisbrüchen Fische fangen, groß wie Nebelgespenster. Ein Augen-Erlebnis wird Sinnbild für das Elementare, mit dem der Menschengeist ringen muß. All das ist aus der Wirklichkeit genommen; die seltsamen Gebilde, die vom Meer aufsteigen, der Dunst, der die Gestalten verändert, scheinen vom Wirklichen ins Gespenstische zu wachsen ... Storm beläßt diese Mittelwelt mit Absicht in sich und macht sie glaubhaft; so rührt sie an die Grenzen der uns bekannten Wirklichkeit. – Damit erfüllen die Motive den Sinn, den sie bei Storm seit der mittleren Zeit hatten: weiterzutreiben und zu deuten. Das Motiv des Pferdes, das Motiv des Opfers sagen, was gemeint ist, so daß Storm die Tragik seines Helden nicht zu erklären braucht; darin deuten sie. Und sie treiben zugleich weiter, weil Hauke sich durch sein abergläubisch betrachtetes Tier wie durch die Verhinderung des Deichopfers unbeliebt macht, die steigende Unbeliebtheit ihn innerlich schwächt und schließlich schuldig macht.
Alles ist auf die innere Mitte: den Deichbau bezogen, und im Mittelpunktsereignis: der Sturmflut, vollendet sich das novellistische Profil. Es ist eine Charakternovelle, aber mit dem Einschlag von Schicksalhaftigkeit, der für Storm typisch ist. Hauke Haiens Untergang beginnt dort, wo er den Widerstand gegen die Welt aufgegeben hat, wo er sich selber untreu wird. In der Wechselwirkung zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft ist er zu lange Einzelner gewesen und gerät nun ins Gegenteil: er läßt sich gleichmachen. Mit dem Bruch in seinem Wesen ist auch der Bruch in seinem Werk vollzogen. Diese Entwicklung des Charakters ist folgerichtig, aber er ist so groß, daß er in sich etwas Ungewöhnliches, fast Gewittriges trägt, und damit wird er unausweichlich: schicksalhaft. Aber hier geht das Schicksal nicht blind über den Einzelnen hinweg, sondern es ist an den Menschen gebunden; es verdeutlicht und erfüllt sich in ihm. Die gespenstischen Züge, die man dem Schimmelreiter andichtet, sind nicht nur von außen her, vom Unverständnis der Menschen aus erklärlich, sondern sie entsprechen einem innersten Trieb Storms, die Wirklichkeit zu erweitern, durchsichtig zu machen, ewige Hintergründe für sie zu finden. Zum letzten Mal leistet seine Gestaltung weit mehr als seine Weltanschauung.
Nach Art der Meisternovellen ergibt sich im „Schimmelreiter“ aus Motiven und Geschehnis die Idee: die Einsamkeit des bedeutenden Menschen, der Wesentliches für die Menschheit gegen sie durchsetzen muß. Er muß als Eigenzweck verfolgen, was ihm nicht eigen ist. Er muß daher die Verfolgung auf sich nehmen, die jeden Eigensüchtigen trifft, und doch trifft sie ihn in seinem Gewissen nicht. So peinigt sie ihn mit Recht und Unrecht zugleich. Er muß sich an der Schöpferkraft genügen lassen; ihm ist ein großes Maß zugemessen, nur das Glück der Gemeinschaft nicht. Obendrein trifft ihn jede Schuld mit verdoppelter Wucht. Wo es natürlich ist, einzustimmen, ist es für ihn Verbrechen, und er sehnt sich doch nur nach Frieden. Wo er ihn schließt, verdirbt er die mit, zu denen er sich endlich hatte finden wollen. Die Liebesgemeinschaft ist für ihn nur im Bewußtsein künftigen Heils für das Ganze da, aber nicht als Geschenk der Gegenwart. Das ist Vorbestimmung, aber es wird mißverstanden als Hochmut und gedeutet als Schuld. Es wird Schuld, wenn der Verbitterte den Riß vertieft, noch mehr, wenn er in persönlichem Haß um sein Werk als um das Persönlichste kämpft. Schuld ist es, und doch unausbleiblich, denn woher nähme er sonst die Kraft, selbstlos die Zukunft derer zu lieben, die ihn hassen? Er nimmt sein persönliches Anliegen zu Hilfe und gerät in den tragischen Widerspruch. Daher verbindet Hauke den eigenen Gewinn mit dem Gewinn des Werkes, wenn auch der Grund nicht Gewinnsucht, sondern Stolz ist.
Diesem Werkmenschen tritt als Gegengestalt Ole Peters gegenüber, hinter ihm die Bevölkerung, in einigen Fällen die Arbeiter. Ole Peters ist kein Massenmensch, der gegen den Einzelnen stünde, hat nichts von den herdenhaft Dumpfen, die sich gegen den Überlegenen aufpeitschen lassen. Er vertritt das selbstbewußte Mittelmaß, das überall nein sagt, wo es um ein Übermittleres geht, um Gründe nie verlegen, immer im Recht. Erst schädigt er das Werk, denn rechnet er den Mißerfolg des verstümmelten Werkes seinem Schöpfer zur Schuld an. Große Dinge zu fassen, ist er nicht klug genug, aber zu klug, um den gefährlichen Anspruch des Weitblickenden nicht zu wittern. Er ist innerlich zu arm, um das Menschlichste zu fördern, aber zu reich, um sich als Werkzeug mißbrauchen zu lassen. Er ist die Verzweiflung der schöpferischen Naturen und doch oft die beste, ausführende Kraft: unfähig, zu schaffen, unentbehrlich, Geschaffenes zu erhalten. Er leistet Widerstand; er erkennt nicht an. Aber was geleistet ist, übernimmt er.
Diese Urtragödie des schöpferischen Menschen vollzieht sich in der Stimmung großer Landschaft, und die Landschaft dient dazu, die überzeitliche Gebundenheit dieses einsamen Menschen an ein Gemeinsames zu verdeutlichen. Er ist ja selber, als ob er aus ihr gewachsen wäre. Die Landschaft ist nicht der Stimmung wegen da: sie handelt mit. In ihr ist ja, über den Menschen hinaus, der große Widerpart: das Meer, dem Herzen befreundet und zugleich die äußerste Gefahr. Die Landschaft ist immer da, und ihre Stimmungen sind nicht nur in der Seele des Menschen empfunden, sondern sie sind wie Zustände einer ungeheuren Gestalt, bald zugeneigt, bald feindlich. Sie nimmt schließlich den Menschen Hauke in ihre tödliche Gemeinschaft auf; sie bewahrt damit die Größe seiner geistigen Gestalt. Der gedichthafte Realismus Storms geht ins Mythische über.
Dabei bleibt es tröstlich, daß Elke Volkerts, ein starker Mensch, diesem Mann die Hand reicht, daß sie mit Liebe neben seiner Einsamkeit her geht, auch wenn diese Liebe in einem tieferen Sinn unfruchtbar bleiben muß, weil das Kind schwachsinnig ist. Hauke Haien ist das Glück der letzten Liebeserfüllung verweigert; es ist kein Zufall, daß gerade jenes Motiv der Vögel, die gleich Nebelgespenstern sind, wieder auftaucht, wenn er mit seinem Kinde auf dem Deich wandert. Bei der Entschiedenheit, mit der Elke liebt und glaubt, könnte er der Liebeserfüllung näher sein als irgendein anderer. Wie weit sie geht, ist gesagt, wenn Hauke in der Angst um Elke sogar Gott anfleht. Wie weit sie nicht geht, ahnt man nur.
Dem entspricht die herbe, knappe Sprache, die selten vorher, ausgenommen in „Hans und Heinz Kirch“, bei Storm eine solche Gedrungenheit angenommen hatte. Sie lebt gleichsam aus dem inhaltstiefen Schweigen. Beispiele sind die Unterredung zwischen Hauke und seinem Vater, als für ihn ein Platz außerhalb der väterlichen Hütte gefunden werden muß, oder der Auftritt, als Hauke und Elke einander nach dem Eisboßeln finden. –
Bei der Größe des Werkes zeigen sich jene voraus angedeuteten Schwächen. Die inneren Linien sind nicht ungebrochen, auch nicht immer sichtbar. Zuweilen laufen sie sozusagen unterirdisch. Die Entwicklung Haukes ist nicht immer klar; manches muß man erschließen oder ergänzen. So erfährt man nicht, was in Hauke vorgeht, wenn er Ehrgeiz und Haß verschließt. Seine Liebe zu Elke steht dadurch im Verdacht, daß sie durch Ehrgeiz entstellt ist. Die Auswirkung dieser Züge wird nicht greifbar, die erregenden Widersprüche und Fragen, die sich daraus ergeben würden, sind nicht ausgenutzt. Aber man hat, wie bei allen wesentlichen Dingen, zu fragen, was da ist und weniger, was fehlt.
Knappheit und Lebensnähe der Darstellung haben durch Storm einen hohen Grad erreicht, ebenso hoch steht die Gedichthaftigkeit. Die novellistische Form ist in epochenmachender Weise bei ihm durchgebildet worden. Als er den „Schimmelreiter“ unter Qualen vollendete, bewies er, daß er wie jeder bedeutende Dichter nicht nach seinem Glück, sondern nach seinem Werk getrachtet hatte.
Johannes Klein: Geschichte der deutschen Novelle von Goethe bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1956, S. 266ff.

Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus (1962)
„Der Schimmelreiter“

Die Novelle „Der Schimmelreiter“, seiner letzten, durch die Nähe des Todes eher gestärkten Novelle, hat Storm lange Reifezeit gelassen. Er blieb in ihr nicht bei der Psychologie; er ließ auch die bürgerlichen Sicherungen hinter sich. In ihr sind alle Grundmotive und Stimmungen seiner Spätzeit vereinigt; verdichtet zum Spukhaft-Dämonischen der Dinge und zum irrational Verhängnishaften des Mensch-Seins. Die doppelt zurückspiegelnde Rahmengebung, die das ergreifend Unerhörte des Vorgangs wie seine sagenhafte Ungewißheit, die Betroffenheit durch ihn wie seine Distanz im Unfaßbaren einprägen soll, deutet auf eine künstlerisch nicht voll bewältigte Spaltung zwischen Storms lyrischem Stimmungsstil und dem mehr dramatisch-balladesken Tatsachenstil. Sie deutet auf eine unklare Mischung von subjektivierter Erzählweise und aus sich sprechender objektivierter Gegenständlichkeit. Dies beeinträchtigt die Einheit des Erzählgefüges. Storm fand in „Der Schimmelreiter“ in einem psychologisch wahrscheinlichen und dennoch zum Dämonisch-Gespenstischen entrückten Ablauf, in einem mit Erregungsakzenten gestrafften Lebensbild und in dessen von außen und innen zuwachsender Tragik die knappe, herbe Gestaltung dessen, was sich in ihm seit 1870, noch immer nicht voll ausgeschöpft, vorbereitet hatte. Die psychologisch-rational nicht auflösbaren Spannungen, die er zur Formeinheit von Heldenballade und Tragödie, Wirklichkeitsereignis und mythisierender Sage brachte, prägen ein, wie er kraft ihrer Stilisierungen die Novelle zur Symbolsprache des Irrationalen führen konnte. Es bleibt nicht beim Stimmungsreiz, obwohl der äußere Rahmenansatz auf ihn einzustimmen scheint; ebenso ist die einsame Figur des Hauke Haien, trotz ihrer gesteigerten Individualität, nicht auf das Psychologische begrenzt. Hauke Haien gewinnt aus Landschaft und Volkstum, denen Storm hier die dichteste Eigenwirklichkeit gegeben hat, als sozialer Emporkömmling und seelischer Aristokrat, als geradezu vermessener Individualist des Willens und der Tat eine umfassendere Typik. Sie weitet sich in das Mythische, je mehr sich sein Leben der Verwobenheit von Schuld, Schicksal und Tod entgegenbewegt, unter das Gesetz des Verhängnishaften gerät. Dies prägt sich aus, wo in seiner Katastrophe der Zufall, die Folgen seiner Taten und das Schicksal mit schwebenden Konturen ineinander übergehen. Ein psychologisches Geschick, sozial begründet, durch Volksnatur und Umwelt determiniert, geht in die Traumwirklichkeit des Magisch-Gespenstischen über, die sich in Gerücht und Sage spiegelt. Volkstypus und Landschaft, das Elementare, Ungebändigte eines eigensinnig harten Charakters, Wille und Getriebenheit, Leidenschaft und Verhängnis bilden das Ganze eines vielschichtigen Schicksals. Es wird durch die gestufte Rahmenhandlung, durch beständige Übergänge im Halbdunkel gehalten, dem Begreifen angenähert und während seiner Steigerung zur Katastrophe mehr und mehr entrückt. Das Verhältnis zwischen dem mythischen und geschichtlichen Bereich, dem Magischen und Psychologischen bleibt absichtlich im Unklaren.
Storm hat in der Symbolsprache des „Schimmelreiter“ die Grenzen des Realismus und seines Immanenzdenkens geöffnet, aber nicht verlassen. Die Novelle muß auch als Zeichen des dichterischen Ungenügens an dessen eingeschränkter Stilform verstanden werden. Der mißlungene Rahmen erweist, wie die Novelle über seine bisherige Formtypik hinausstrebte. Auch die rationalistisch-moralische Schlußbemerkung des schulmeisterlichen Innenerzählers, die mit dem Widerspruch von Heiligem und Nachtgespenst spielt und die Hauke auf „einen tüchtigen Kerl“ reduzieren will, der die anderen „um Kopfeslänge überwachsen hat“, fällt gegenüber der Innenhandlung, ihrer „Urgewalt der Verbindung von Menschentragik und wildem Naturereignis“, ihrem „Dunklen und Schweren an Meeresgröße und -mystik“ ins Leere. Diese Innenhandlung weist auf eine Irrationalität, die Storm mittels Vorstellungen der Volksmythik im Schweben zwischen Wahn und Wahrheit dargestellt hat. Die Volksmythik deutet auf übermenschliche Mächte im und jenseits des Innerweltlichen. Sie brachen schon in „Hans und Heinz Kirch“ in der nächtlichen Todeserscheinung des Sohnes durch; in „Der Schimmelreiter“ ist Storms imaginative Tiefensicht, sein dichterisches „zweites Gesicht“ ganz zu sinnlich-atmosphärischer Bildgestaltung gekommen. Hauke Haien, vom Träumerischen zum Tathaften gewandelt, stellt die dynamische Steigerung jener spröden und besessenen Leidenschaftsnaturen dar, die Storms spätere Menschentypik durchziehen. In ihm lebt eine junge Generation, die in tatkräftiger Anspannung des Selbstwillens ins Maßlose drängt, die Enge des Veralteten sprengt, das Herkommen auflöst – bis zur Herausforderung des Schicksals, zum Umschlag des gerechten Tuns in das Gewalthafte. Es geht hier nicht um eine moralische Schuld, obwohl die Frage nach seiner Verantwortung, seinem Vergehen am besonnenen Maß anklingt, mehr um eine Existenzschuld, die im Unbedingten des Willens liegt, den zwar das objektive Werk rechtfertigt, der aber im subjektiv Ichhaften vermessen wird. Storm hat alles getan, um dies Geschick aus der Vielschichtigkeit und Relativität seines So-Sein-Müssens in dieser Umwelt verständlich zu machen; er hat mit großer Kunst der bei allem Detail verhaltenen Sprache des „Symptomatischen“ die innere Motivation im Schwebend-Vieldeutigen gelassen. Dazu gehört das Aussparen der verbindenden Erzählglieder, einer psychologischen Verdeutlichung. Die Novelle wird vom Szenischen, Bildhaften, einer pseudodramatischen Vergegenwärtigung in Bild und Bewegung beherrscht. Die gleiche Stilform des Erzählaufbaus kehrt bei C. F. Meyer und Fontane wieder – als Ausdruck eines gesteigerten Objektivismus der Erzählführung. Storm hat den „Schimmelreiter“ auf einem vielspurigen Verweben der Widersprüche aufgebaut, das keine einsinnige Auflösung zuläßt. Denn erst das Irrationale in Zufall, Schuld und Geschick macht die immanente Paradoxie, den tragischen Widerspruchscharakter des Lebens aus. Hauke Haiens Kampf um die Sicherungen von Land und Leben gegen die Elemente löst gerade deren zerstörerischen Einbruch aus. Sein Wille, sie zu beherrschen, gibt ihn ihnen preis. Der klare Rechner wird zum besessenen Träumer, der das Maß des Möglichen überfordert. Der Abkömmling kleiner Bauern arbeitet sich zum Herrn der Deichgemeinschaft empor, aber er wird von denen abhängig, die er als dumpfe Masse bekämpft und verachtet. Seine Leidenschaft zu Tat und Geltung ist das Zeichen einer Schwäche, die der Emporkömmling, der durch seine Frau zum Deichgrafen Beförderte, der Vater des blöden Kindes, fühlt. Er will die Ordnung, aber er löst das Chaotische aus. Er strebt nach Dauer, aber in seinem Haus und Kinde ist ein Verfall vorgekündigt. Er verdankt die Hälfte seiner Existenz seiner Frau und er reißt, indem er sich ihrer würdig zeigen will, sie und sein Kind in den Untergang. Gerade den kühnen Geist spinnt die Sphäre des Aberglaubens ein, in der sich Wahn und Wahrheit mischen. Er kann sich nicht aus ihr lösen. Im Willen, Herr zu sein, wird er zum Opfer seines Werkes. Es dient der Gemeinschaft, aber er braucht Gewalt gegen sie. An die Pflicht zum Ganzen hingegeben, ist er zu erstarrender Einsamkeit verurteilt. Sein Ermüden und Nachgeben, scheinbar ein sich mäßigendes Einlenken, wird zur Schuld, als die entscheidende Anstrengung gefordert wird. Er rettet die hilflose Kreatur vor der Opferung, aber er muß sich selbst, hilflos, mit dem Verlust von Weib und Kind der Seele seines Lebens beraubt, opfern: „Herr Gott, nimm mich; verschon die andern!“ Das Heillose und das Recht verquicken sich bis zum letzten Augenblick. Der Herrgott bleibt über dieser Wirklichkeit fern: „Du weißt ja auch, der Allmächtige gibt den Menschen keine Antwort – vielleicht, weil wir sie nicht begreifen würden.“ In Hauke Haien verwirklichen sich Kraft, Trotz und Schwäche, die Lebensleidenschaft und Einsamkeit des auf sich gestellten Menschen. Es gehört zum Unheimlichen dieses Widerspruchs, daß der Schimmelreiter, der im Leben von der Dauer seines Namens träumte, nach seinem Tod als ein ruheloses Gespenst an seinen Deich gebannt ist, unerlöst an sein Schicksal gefesselt, so daß er zugleich in seinem Werk als Held, Retter und Schrecken des Volkes nachlebt. Noch der letzte Satz der Novelle nimmt diesen Widerspruch auf, wenn auch ins Stimmungshaft-Tröstliche getönt. Daß Storms Erzählwerk mit dieser Einsicht in die Ausgesetztheit des Menschen im radikalen Widerspruch schloß, prägt ein, welchen tragischen Aspekt seine Weltauslegung gewonnen hatte. Der Mensch, vergeblich kämpfend, groß in seiner Natur- und Seelenkraft, seinem Ehrgeiz zu Ehre und Werk, der das Heldische in das bürgerliche Arbeits- und Willensethos, in die Moralität des sozialen Dienstes und Opfers umsetzt, bleibt gleichwohl ohne Schutz und Trost, einsam und als Geopferter, dem rätselhaft Paradoxalen des Schicksals gegenüber. Das Meer, das die sichernden Dämme benagt und durchbricht, ist das Symbol jenes Verhängnishaften, das, im Menschen ausgelegt, aus dem Natürlichen und dem Übernatürlichen einbricht und zerstört, wie groß auch die Anspannung wird, es abzuwehren. Das Vernichtende, eine Macht aus dem Unfaßbaren, ist unaufhaltsam.
Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848-1898. Stuttgart 1962, S. 662ff.

Regina Fasold: Theodor Storm. Stuttgart 1997

Der Schimmelreiter ist Storms umfangreichste, komplexeste und zugleich künstlerisch anspruchsvollste Novelle. Über die besonders Interessante Verarbeitung verschiedener Quellen und über die Textgenese, an deren Ende die Streichung eines ursprünglich vorgesehenen Schlusses in den Korrekturfahnen zum Zeitschriftendruck steht, ist ausführlich nachzulesen in LL, Bd.3, S.1049-1082. Der ursprüngliche Schluß der Novelle, den Laage erst 1979 auffand, wird zitiert in ebd., S. 1060-1062. Er ist für die Interpretation insofern unverzichtbar, als er die Intention des Autors im Zusammenhang mit der mythischen Ebene dieses Textes verdeutlicht: Die ursprüngliche Fassung desavouierte sehr stark die irrationalen Vorstellungen als eine Sicht abergläubischer Menschen ohne intellektuelles Gewicht und menschliches Format, wogegen die letzte Fassung die aufklärerische Kritik an den verschiedenen Formen des animistischen Weltbilds der Dorfbewohner zurückdrängt.

Die Herausforderung an die Interpreten dieses meistgedeuteten Textes stellt sich sowohl auf der Ebene der Erzähltechnik, des doppelten Rahmens und der drei Erzähler mit ihrer Perspektivierung des Erzählten als auch auf der Ebene des erzählten tragischen Lebensgeschicks der Hauptfigur selbst, das sich eng mir dem Mythos vom Schimmelreiter verbindet. Hauke Haiens sozialer Aufstieg vom Kleinknecht zum Deichgrafen in einem nordfriesischen Dorf Mitte des 18. Jahrhunderts hat anders als noch in Hans und Heinz Kirch nicht >nur< den Erwerb von Besitz und Ansehen durch ein Amt zum Ziel, sondern seine >Karriere< ist auch gekrönt mit dem alle bisherigen Leistungen auf diesem Gebiet übertreffenden Werk, dem Deich, der sich später mit seinem Namen verbinden wird. Der Kampf um den sozialen Aufstieg und um das in diesem Aufstiegskonzept funktionalisierte Werk wird wie in früheren Storm-Novellen auch von familiären Auflösungsprozessen begleitet, die am Ende in eine Katastrophe tragödienhaften Ausmaßes einmünden, wie sie Storm vorher nicht gezeigt hat: alle Familienmitglieder, Frau, Kind, Mann und Haustiere kommen in einer großen Sturmflut um, die nicht von ungefähr deutlich mit Attributen einer Sintflut im christlichen bzw. eines Weltuntergangs im heidnisch-germanischen Sinne versehen ist. Die große Symbolkraft dieses Textes erwächst aber nicht zuletzt daraus, daß Storm durch eine glücklich zu nennende Stoffwahl sein Motivarsenal in weitere, menschliche Bezugsfelder zu stellen vermag: Hauke Haiens „Kampf“ vollzieht sich zum einen in der differenziert entfalteten Beziehung zur Dorfgemeinschaft und zum anderen in einer ganz spezifischen Grenzregion zwischen Kultur und Natur, in einer Küstenlandschaft, in welcher die Bewohner auf Lehen und Tod mit der Gewalt des Meeres ringen. In dieser Allgegenwart der übermächtigen und zerstörerisch wirkenden Elemente entwickelt der Mensch offenbar - so der Text auf einer eigenen Diskursebene - zwei, einander ausschließende Grundhaltungen zur Natur: Auf der einen Seite steht ein vormodernes, atavistisch anmutendes, angstbesetztes Verhältnis, das auf einem begrenzten Wissen beruht und eng mit einer konservativen Lebensauffassung verbunden erscheint, das in seiner Naturdeutung jedoch einem ins Unbewußte abgesunkenen kollektiven Erfahrungsbereich verbunden bleibt und somit den einzelnen wie die Gemeinschaft ganzheitlich erfaßt. Der Ausdruck dieses Verhältnisses ist der Mythos. Alternativ dazu steht die aufklärerische, auf einem wissenschaftlichen Weltbild beruhende und in Büchern wie dem Euklids festgehaltene Naturdeutung Hauke Haiens, die rational bestimmt ist, abgelöst von der eigenen Affektwelt und einer progressiven, veränderungswilligen Lebensauffassung verbunden, der jedoch auch deshalb im Naturverhältnis deutliche Züge von Vermessenheit innewohnen. Letztere kommen zum Ausdruck in dem bei Hauke Haien von Beginn an vorhandenen Willen zur absoluten Unterwerfung und Kontrolle des Meeres und einer damit einhergehenden Geringschätzung der Naturgewalt und des bereits geschaffenen Menschenwerks. Diese beiden ambivalent strukturierten Grundhaltungen, die durch die verschiedenen Erzählinstanzen perspektiviert sind und in dem janusköpfigen, doppelgängerischen Hauke Haien als Aufklärer und als gespenstischer Schimmelreiter fokussiert erscheinen, müßten in ihrer ganzen, kompliziert angelegten Geltung im Text analysiert werden, enthalten sie doch die noch heute interessierende Zivilisationsproblematik schlechthin, die dem tragischen Lebensgeschick des Haupthelden seine exemplarische Bedeutung verleiht. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, daß Storm den Grundwiderspruch des Menschen, Natur- und Kulturwesen zu sein und damit in einem schwer durchschau- und noch weniger beherrschbaren Abhängigkeitsverhältnis zu dieser ersten Natur zu stehen, in der entwicklungsromanartig angelegten Sozialisation des Hauke Haien noch einmal spiegelt. Von Beginn an zeigt der Autor an diesem Charakter, daß bestimmte, den späteren Aufstieg wie das zu schaffende, überragende Kulturwerk geradezu voraussetzende Willenseigenschaften - zielorientiertes Durchsetzungsvermögen, asketisches Arbeitsund Tatethos z.B. - auf einem starken Aggressionstrieb Haiens beruhen, der zerstörerisch wirken kann - wie die Katerszene sehr deutlich vor Augen führt -, würde er nicht in der Kulturleistung sublimiert: „Ja, man wird grimmig in sich, wenn mans nicht an einem ordentlichen Stück Arbeit auslassen kann.“, rechtfertigt Hauke Haien die Tötung des Katers der Trien' J ans vor seinem Vater und verläßt daraufhin dessen Haus, um Kleinknecht beim Deichgrafen Volkerts zu werden. Das rigide Unterwerfen der eigenen >Natur< unter das kulturstiftende Aufsteigerkonzept gewinnt seine ganze expansive Dynamik aber erst durch eine psychische Disposition des Haupthelden, deren Symptomatik in verschiedenen Spielarten in allen Stormnovellen zu beobachten war. Der so willensstarke Mann ist im Grunde ein selbstwertschwacher Mensch, dessen Identitätsschwäche bereits in seinem >Familienroman< angezeigt ist. Er wie seine spätere Frau Elke Volkerts wachsen mutterlos auf, ohne allerdings das „um den weiblichen Einfluß verkürzte Elternhaus einer weiteren Analyse zu unterziehen.
„Mutterseelenallein“ entwickelt dieser beziehungsgestörte Junge, dem es nicht einfiel, mit „denen zu verkehren, die mit ihm auf der Schulbank gesessen hatten“, das intensivste Verhältnis gerade zum mütterlichen Element schlechthin, zum Meer, in dem er sich am Ende auflösen wird. In diesem Verhältnis Hauke Haiens zur See wird aber frühzeitig eine Verkehrung der vom Erzähler als >normal< empfundenen Beziehung deutlich, denn „den Allerheiligentag, um den herum die Äquinoktialstürme zu tosen pflegen, von dem wir sagen, daß Friesland ihn wohl beklagen mag, erwartete er wie heut die Kinder das Christfest“. Diesen mütterlichen Bereich Meer - vorzugsweise in winterlicher Kälte und im Sturm aufgesucht und offenbar ohne Erwartung einer Spiegelung - erfährt Hauke Haien grundsätzlich als Vernichtungsbedrohung. Die in allen Kulturen vorhandene Bedeutungsebene von Lebensursprung und Lebenserhalt im Mythos von Wasser und Meer - in Storms Märchen Die Regentrude in eindrücklichen Bildern vorgeführt und noch in der Novelle Psyche bemerkbar - scheint hier völlig getilgt. Das Wasser ist im Schimmelreiter allein ein Reich des Todes und der Toten, wobei der Erzähler offen läßt, ob nicht gerade das Grauen vor diesem alles verschlingenden Abgrund den Jungen an den Strand gefesselt hält. Haiens Beziehung zum Meer deutet im Grunde auf eine innerpsychische Realität, die in der Vernichtungsbedrohung durch eine aggressive Mutterimago besteht, die die Gewißheit der eigenen Identität, konstelliert in einer gelungenen Beziehung zwischen Mutter und Sohn, grundsätzlich verweigert und gegen deren massive Frustration nur der Aufbau von Allmachtsphantasien schützt, die die Realität der Todesdrohung entwertet: „>Ihr könnt nichts Rechtes>, schrie er in den Lärm hinaus, >sowie die Menschen auch nichts können!>“. Hauke Haien wird später den Deich sowohl als überdimensionalen Spiegel vor die mütterliche See stellen, deren schimmernden Fläche ihn niemals gespiegelt hat, als auch als Abwehrkonstrukt gegen die Angst vor der Zerstörungsgewalt des chaotisch Elementaren errichten. Man kann das seinem aufklärerischen Rationalismus entsprungene Werk auch als letztlich erfolgloses Bestreben deuten, vergessen zu machen, daß er dieser grausamen Mutter Sohn war. [...] Die Tragik Hauke Haiens besteht aus der Perspektive seiner Sozialisation gerade darin, daß seine überragenden intellektuellen Fähigkeiten und seine Willenskraft von Grund auf kompensatorischen Charakter tragen mußten und ein menschliches Defizit zur Voraussetzung hatten, das sich in den entscheidenden Augenblicken seines späteren Lebens zwangsläufig gegen ihn kehrt. Durch den hier angedeuteten Zusammenhang eröffnet sich auch auf die Bindung Haiens an Trien' Jans noch eine spezifische Sicht: Trien' Jans stellt eine Mutterfigur dar, die deutlich die hexenhaften Züge der >bösen< Mutter trägt, die sie aber realiter nie war (d.h. auch, daß die Erzählinstanz, der >aufklärerische< Schulmeister, sie mit diesen Artributen belegt; der Vorgang erforderte eine eigene Analyse). Dieser Mutter erschlägt Haien den Angorakater, das Geschenk ihres Sohnes, der im Meer umkam, als er „seiner Mutter beim Porrenfangen hatte helfen wollen“, ein Tier, das von ihr zärtlich wie ein Kind gehegt wurde und ihr Sohn und Mann zugleich ersetzte. Mit dem Kater tötet Haien somit auch das Substitut eines Sohnes, der geliebt worden ist, das Erinnerungsstück an eine ihm versagte gute Mutter-Kind-Beziehung.

Die mit der narzißtischen Selbstwertstörung verbundene enorme Kränkbarkeit des „Wunderkinds“ wird schließlich im Handlungsverlauf, nachdem der Aufstieg zum Deichgrafen bereits geglückt erscheint, zum Ausgangspunkt für das ehrgeizige Deich-bauprojekt wie letztlich für den Untergang der Familie. In seiner gesamten Persönlichkeit tief getroffen von dem im Dorfkrug leicht hingeworfenen Wort, er sei nur Deichgraf „von seines Weibes wegen“, bricht Hauke Haiens starke, archaisch anmutende Vitalnatur im ohnmächtigen Zorn über die ihm zugefügte Kränkung durch: „>Hunde!< schrie er, und seine Augen sahen grimmig zur Seite, als wolle er sie peitschen lassen.“ Von seiner Frau daraufhin vor einen Spiegel gestellt, um ihm zu helfen, sich seiner selbst zu versichern - „>Da steht der Deichgraf!< [...] >nun sieh ihn an; nur wer ein Amt regieren kann, der hat es!“< - kommt Hauke Haien die Idee von einem Spiegel kolossalen Ausmaßes: Der Deich ist das den Schöpfer überdauernde Bild seines Größen-Selbst, das er in den Todesraum der Meerlandschaft hineinstellt. Man erkennt hier einen wesentlichen Aspekt des bereits aus dem Frühwerk Storms bekannten persönlichen Mythos der dort als toposhaftes Motiv vom lebendig bleibenden Bild der toten Frau, vom mortifizierten Leben in der Kunst erscheint. Die Gemeinsamkeit zwischen dem vom Erinnernden geschaffenen Bild der Frau in Immensee, Posthuma, Im Sonnenschein etc. und Haiens Deich im Schimmelreiter besteht darin, daß in diesen >Werken< das angstbesetzte Natürliche der Kontrolle des Schöpfers unterworfen wird, der in der Beziehung zum Lebendigen um seinen Selbstverlust bangt. Der neue Deich, so muß betont werden, wird, einer narzißtischen Größenphantasie folgend, gegen alle Widerstände begonnen und am Ende mit dem eigenen und dem Leben anderer bezahlt, um sich und der Welt zu erweisen, was die bisherige rastlose Tätigkeit offenbar nicht vermocht hatte: die Gewissheit der eigenen Identität und die endgültige Überwindung der chronischen Unsicherheit und Unzufriedenheit mit sich selbst. Erst als sein Name sich wirklich mit dem neuen Koog verbindet, der offiziell den Namen einer „herrschaftlichen Prinzessin“ trägt, ist Haien am Ziel, das er als rauschhaften Triumph erlebt: „>Hauke-Haienkoog! Hauke-Haienkoog<. In seinen Gedanken wuchs fast der neue Deich zu einem achten Weltwunder; in ganz Friesland war nicht seines Gleichen! Und er ließ den Schimmel tanzen; ihm war, er stünde inmitten aller Friesen; er überragte Sie um Kopfeshöhe, und seine Blicke fiugen scharf und mitleidig über sie hin.“.
Die Gründe für den Bau des neuen Deichs dagegen, die Haien nach dem Gang ans Meer mit Elke offen bespricht, sind für ihn von sekundärer Natur, obwohl sie aus seinen Überzeugungen erwachsen, in denen er integer wirkt, und obwohl nur sie allein, wie er weiß, ein solches Werk in den Augen der Welt legitimieren: die Angst vor der Jahrhundertflut und ihrem Vernichtungswerk an Menschen und Gütern, denen gegenüber er Verantwortung trägt. Aber Verantwortungsgefühl und Besitzstreben letzteres als dritter Grund für den neuen Koog angeführt -, setzen nicht die enormen Energien frei, die für die Umsetzung der großen Idee nötig sind. Diese erwachsen Hauke Haien allein aus dem Begehren, die tiefe Kränkung zu überwinden, welche in ihm das Gefühl der eigenen Nichtigkeit erweckt hatte. In diesem manischen Begehren, das wie ein unsichtbarer Motor seine Handlungen antreibt und das er selbst Elke nicht gestehen kann, bleibt er seinen Mitmenschen unverständlich. Aber noch in dem Mythos vom Teufelspferd, mit dem sie ihn ins Übermenschliche vergrößern und in dem Angst und Bewunderung vor der unbegreiflichen Macht seiner inneren, verborgenen Realität mitschwingt, wird nicht nur der Wille zum Begreifen und Deuten sichtbar, sondern letztlich auch eine Wahrheit über den großen einzelnen. (Der Text enthält über das >Teufelspferd< hinaus eine Fülle von Zeichen, die einen intertextuellen Bezug zu christlichen und germanisch-heidnischen Mythologemen eröffnen, deren Bedeutung für die Vita des Helden es noch zu erschließen gilt). Der Weltuntergangscharakter in den letzten dramatischen Szenen während der Sturmflut beschwert rückwirkend die Menschenhandlungen erneut mit einer Schuld, deren ganzes Ausmaß den Beteiligten verborgen bleiben muß, weil sie die figurenimmanenten, von einem historischen Wertesystem geprägten Vorstellungen von Verantwortung und Schuld generell überschreitet. Am Ende steht - wie in anderen Novellen Storms auch (vgl. Carsten Curator und Hans und Heinz Kirch) - der sich einer irrationalen Macht überantwortende Mensch mit der demütigen Bitte um Gnade. Aber Hauke Haiens Selbstopfer, mit dem er diese Gnade zu erflehen scheint, ist gleichbedeutend mit der Vollendung seines Werks, deren Bedingung gerade die Vernichtung des Lebendigen darstellt oder - wie es auf der Ebene des animistischen Weltverständnisses der Dorfbewohner heißt: „soll Euer Deich sich halten, so muß was Lebiges hinein!“
Regina Fasold: Theodor Storm. Stuttgart 1997. (Sammlung Metzler 304), S. 152-158.

David Jackson: Annektion oder Befreiung der Vergangenheit. "Der Schimmelreiter" (2001)

Die Novelle „Der Schimmelreiter” stellt die reife Endfassung von Storms Humanismus dar. Während sie die epischen und dramatischen Züge der späteren Werke beibehält, erzielt sie eine ihnen oft abgehende thematische sowie auch stoffliche Dichte. Dies liegt an der langen Entstehungszeit des Werkes und an der Tatsache, dass detaillierte, fachliche Beratungen während der Vorbereitungsarbeiten eine Schlüsselrolle gespielt haben.

Das komplizierte Erzählgefüge ist sowohl Medium als auch Botschaft. Ein erster Erzähler, der in der Gegenwart, d.h. den späten 1880er Jahren schreibt, erzählt, wie er als Kind „vor reichlich einem halben Jahrhundert” (LL 3, 634) zum ersten Mal bei seiner Urgroßmutter einer Zeitschriftengeschichte begegnete. Der Erzähler dieser Geschichte, d.h. der zweite Erzähler, berichtet von Vorfällen, die „im dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts” (LL 3, 634) stattfanden. Er beschreibt, wie er bei einem nächtlichen Ritt auf einem sturmumwehten Deich einer unheimlichen Gestalt auf einem Schimmel begegnet. Nachdem er ein Wirtshaus erreicht hat und sich im Kreise des Deichgrafen und seiner Helfer befindet, erzählt ihm der alte Dorfschulmeister die Geschichte von Hauke Haien, einer in der Mitte des 18. Jahrhunderts lebenden Gestalt, aus der die Dorfgemeinschaft das Deichgespenst konstruiert hat. Der Schulmeister hat seine Geschichte im Lauf der von ihm im Dorf verbrachten vierzig Jahre aus den Überlieferungen „verständiger“ Leute und ihrer Nachkommen zusammengestellt. (LL 3, 695) Obwohl er sich von diesem Bild distanziert, weil er es für lauter Aberglauben hält, fügt er auch Material einer von der Haushälterin des Deichgrafen Antje Vollmers (LL 3, 639) erzählten Fassung in die Geschichte ein.
Storms Schulmeister-Erzähler wird mit einer scharf herausgearbeiteten persönlichen und auch sozial-historisch bedingten Identität ausgestattet. Als ehemaliger Theologiestudent hat er Porträts seiner Professoren an den Wänden seines Zimmers hängen (LL 3, 679), und sein ganzer geistiger Habitus kündet von seiner theologischen Herkunft. Sein christlicher Glaube enthält rationalistische Elemente, wohingegen die Dorfbewohner, ob orthodox oder sektiererisch, in beiden Fällen abergläubig sind. Der Schulmeister ist das Produkt einer ökonomisch statischen, absolutistischen Gesellschaft. Von seinem Standpunkt in den 1830er Jahren blickt er auf die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück und bemerkt, dass damals von König und Regierung nie die Rede war (LL 3, 688). Obgleich implizit daraus hervorgeht, dass sich die Lage in der Zwischenzeit verändert hat, fehlt, wenigstens in dieser dörflichen Gemeinschaft, noch jegliche Spur von Forderungen nach Reformen. Was die Novelle so faszinierend und für Storm so typisch macht, ist, dass gezeigt wird, wie der Schulmeister, auch wenn er durch die Institutionen und Ideologien des alten Regimes geprägt worden ist, sich tastend anderen Normen und Idealen entgegenbewegt. Wie andere Stormsche Helden, die die Stütze fortschrittlicher Ideologien und ökonomischer Kräfte entbehren und auf ihre eignen inneren Kräfte angewiesen sind, vermag er jedoch nicht, gewisse Widersprüche zu lösen und gewisse ambivalente Haltungen zu überwinden.
Veranschaulicht wird, wie zeitgenössische Anliegen die Darstellungen der Vergangenheit färben. Des Schulmeisters Deutung von Haukes Leben spiegelt die Probleme wider, die ihn in seiner eignen Gesellschaft beschäftigen. In dieser Hinsicht ähnelt die Novelle der Erzählung „Die Hochzeit des Mönchs” von C. F. Meyer (1884), die Storm kannte. Auch dort dient das Verhältnis zwischen Rahmen und Binnengeschichte dazu, die Beziehungen zwischen Schriftsteller, Erzähler und Gönner bzw. Lesepublikum zu untersuchen; auch sie geht dem Nexus zwischen aktuellen Problemen und historischen Stoffen nach. Im „Schimmelreiter” dient die Kritik an Hauke Haiens Schwiegervater und der Gemeinschaft in der Zeit um 1750 als Tarnung für die Kritik des Schulmeisters an dem Deichgraf und den Dorfbewohnern der Rahmenerzählung. Wie Meyers Novelle unterstreicht „Der Schimmelreiter” die Grenzen, die aller Kritik an Institutionen und Behörden gesetzt sind.
Die Haltung des Schulmeisters Hauke gegenüber ist durch und durch ambivalent. Dieser missgestaltete Junggeselle ist nur infolge einer verfehlten Brautschaft in dieser Gemeinschaft geblieben. Vermutlich bekam er einen Korb, weil er keinen Boden besaß und weil seine schlecht bezahlte Stelle wenig Ansehen genoss. Aus diesen Gründen fühlt er sich zu Hauke Hauen als seinem idealen Alter Ego hingezogen. Hauke ist ja eine dynamische Gestalt, die allerlei Probleme überwindet, um ein fortschrittlicher Deichgraf zu werden. Vor allem erfreut er sich der Liebe und der Unterstützung seiner Frau Elke, die ihm treu bleibt, obwohl sie als Tochter des Deichgrafen auf einen Ehemann mit viel mehr Grund und Boden einen Anspruch gehabt hätte. Man könnte also vermuten, dass der Schulmeister Hauke als ein vorbildhaftes Muster darstellen würde. Mit seinen traditionellen Vorstellungen einer akademischen Ausbildung betrachtet er diesen Autodidakten aber sehr argwöhnisch (LL 3, 639); da er selbst dazu erzogen worden ist, seine gottgegebene Stellung innerhalb des sozialen Gefüges zu akzeptieren, kann er Haukes Ambitionen nicht restlos gutheißen. Die Attraktivität neuer Begriffe von individueller Selbsterfüllung wird durch ältere Normen ausgeglichen, die solches Verhalten als Größenwahn und Hybris verdammen (LL 3, 725). Vertrauen in die Menschennatur und in die Fähigkeit der Menschen, praktische ebenso wie theoretische Probleme zu lösen, spielt keine Rolle in einem System, in dem die orthodoxe Kirche ebenso wie die Sekten die Ohnmacht des Menschen und die Vergeblichkeit aller Menschenwerke betonen. Fasziniert den Schulmeister Hauke Haiens Weigerung, sich einschüchtern zu lassen, - Verhalten, das mit seiner eigenen Unfähigkeit kontrastiert, mehr zu tun als nur indirekte Kritik zu äußern - , so schließt dies Schuldgefühle und Selbstvorwürfe dafür nicht aus, dass er selber den Mängeln der Gemeinschaft so ressentimentbeladen und kritisch gegenübersteht. Diese Gefühle färben seine Darstellung Haukes.
Obwohl er sich in diese Richtung bewegt, nimmt der Schulmeister keine rein humanistische Position ein. Er verwirft zwar den Glauben an den Teufel, an Gespenster und übernatürliche Zeichen; dennoch fährt er fort, sich als „ein ehrlich Christenherz” (LL 3, 645) zu bezeichnen; er heißt die Meinung noch gut, dass das geistig behinderte Kind Wienke eine göttliche Strafe darstellt (LL 3, 645); und er kann nicht entscheiden, ob Elkes Genesung durch Haukes Gebet oder durch die Arznei des Arztes herbeigeführt worden ist. Vor allem kann er trotz all seiner auf Hauke projizierten Zweifel seinen Glauben an die göttliche Vorsehung und an eine moralische Weltordnung nicht überwinden. Wenn die Wirklichkeit tatsächlich das Weltgericht ist, so muss der Deichbruch als Strafe und Hauke Haiens Tod als göttlichen Vergeltung verstanden werden sein. Dementsprechend wird Haukes Tod in das tradierte Schema von Schuld, Sühne und Buße eingegliedert.
Trotz der Deutungen des Schulmeisters gelingt es dem Text, Hauke als einen wahren Helden der Humanität zu schildern. Wie in „Auf dem Staatshof” schafft Storm mit großem Können einen Abstand zwischen der Sehweise seines Erzählers und den durch den Text vermittelten Wertungen und Deutungen. Hauke ist ohne jegliche ideologische Stütze: In seiner Kindheit sind seine Fibel und die Bibel seine einzigen Lesestoffe (LL 3, 639). Er wächst ohne die liebevolle Anleitung einer Mutter und - anfangs wenigstens - ohne jegliche Ermunterung seitens seines Vaters auf, der seine Fragen nicht beantworten kann, sich über seine vermeintliche Vermessenheit mokiert, und sogar versucht, sein Interesse an der Geometrie zu unterdrücken, um sicherzustellen, dass er seine Nachfolge antritt und Kleinbauer bleibt (LL 3, 641). Dank seiner Naturanlage und seiner vererbten Talente setzt er sich trotzdem durch. Er bringt sich Niederländisch bei, um ein holländisches Exemplar des Euklid lesen zu können; er übt sein geometrisches Talent durch praktische Versuche und wissenschaftliche Beobachtungen - Tätigkeiten, die in dieser Gemeinschaft nicht groß angeschrieben sind. Er setzt sich gegen die durch grausige Geschichten erzeugte abergläubische Furcht zur Wehr und besteht stattdessen darauf, nach vernünftigen, wissenschaftlichen Erklärungen für angeblich geheimnisvolle Erscheinungen zu suchen. Dass er die richtige Lösung findet, wird deutlich, als er später die abergläubigen Geschichten widerlegen will, die Trien’ Jans seiner Tochter erzählt. Er erklärt ihr, dass die scheinbar seltsamen menschlichen Gestalten in Wirklichkeit Vogelgestalten sind (LL 3, 734). Wie Fritz Basch leidet er als junger Mann an der Enttäuschung über seine beschränkten Verhältnisse. Das Entscheidende aber ist, dass er, nachdem er den Kater von Trien’ Jans erwürgt hat, Überlegungen über seine Tat anstellt und Schritte unternimmt, um seinen Energien den nötigen sinnvollen Spielraum zu sichern. Trotz seiner schlechten Aussichten in einer Gesellschaft, in der der Besitz eine so große Rolle spielt und wo Ämter dementsprechend übertragen werden, gelingt es ihm mit Elkes Hilfe, Deichgraf zu werden. Er entwirft und lässt einen Deich bauen, der der ganzen Gemeinschaft Profit bringt und sie schützt.
In geistiger Hinsicht kämpft er sich zu Positionen durch, die seine christliche Orthodoxie in Frage stellt. Er zweifelt daran, dass Gott Wunder vollbringen kann, d.h. dass er als Antwort auf Gebete Naturgesetze außer Kraft setzen kann. Er stellt auch die Lehre der göttlichen Allmacht in Frage (LL 3, 715). Während die Frommen Stürme und Überschwemmungen als göttliche Heimsuchungen betrachten, es sogar für sündhaft halten, Deiche zu bauen, kommt er selber dazu, sein Amt dahin zu definieren, die Gemeinde vor unseres Herrgottes Meer zu schützen. (LL 3, 741). Er macht sich eine Art Pantheismus zurecht: „Ja, Kind, das Alles ist lebig, so wie wir; es gibt nichts Anderes; aber der liebe Gott ist überall.” (LL 3, 734) Die Erkenntnis, die noch ausbleibt, ist, dass es nur die Natur gibt.
In den Novellen „Im Schloß” und „Ein Doppelgänger” hatte Storm die Denkprozesse eines Kindes untersucht. Auch hier veranschaulichen die Szenen zwischen Hauke und Wienke, wie ein kindischer bzw. primitiver Geist natürliche Erscheinungen animistisch deutet. Die Dorfbewohner und - in gewisser Hinsicht - der Rahmenerzähler dagegen behalten solche Züge bei. Zu gleicher Zeit unterstreichen diese Szenen Haukes Entschlossenheit, selbst Wienke wahre Erklärungen zu bieten. Das Tragisch-ironische daran ist, dass, während die abergläubige Gemeinschaft auf solche Worte nicht achten will, Wienke es nicht kann. Der Text vermittelt die feuerbachsche Botschaft, dass der einzige sorgende Vater kein göttlicher, sondern ein irdischer ist. Obwohl er nicht allmächtig und allwissend ist - was Wienke aber glauben möchte - ist Hauke der einzige Mensch, der das Kind und die Gemeinschaft schützen kann. Die Eltern und sogar die eingespannte Trien’ Jans können „göttliche” Liebe spenden, und das „Heil” Haukes und Elkes hängt von ihrer gegenseitigen Liebe ab.
Szenen werden eingeflochten, die die tiefe psychologische Anziehungskraft spezifischer christlicher Lehren verdeutlichen. Die Novelle knüpft so an viele andere Stormsche Novellen an, indem sie das Vereinsamungsgefühl und das von Menschen empfundene Bedürfnis schildert, Liebe und Zärtlichkeit zu genießen. Nach dem Verlust ihres Sohnes projiziert die Witwe Trien’ Jans z.B. ihre seelischen Bedürfnisse auf einen Kater. Auch die Religion bietet surrogate Lösungen. Es wird etwa gezeigt, wie Elke sich nach dem Tod ihres Vaters an einen himmlischen Vater wendet und Trost in ihrem Glauben an ein Weiterleben im Jenseits sucht. Der Text, wie die frühere Skizze „In Urgroßvaters Haus” (LL 4, 170) deutet jedoch an, dass von den beiden Inschriften, die in der Novelle erwähnt werden, es die humanistische („Hest du din Dågwark richtig dån,/ Da kommt de Slåp von sülvst heran” (LL 3, 684) ist, die der Wahrheit näher kommt. Dagegen kann man die zweite Inschrift eher als die vanitas vanitatum- Botschaft („Dat is de Tod, de Allens fritt,/Nimmt Kunst u. Wissenschaft di mit;/ De kloke Mann is nu vergan, Gott gäw em selik Uperstan” (LL 3, 682) verstehen. Das Bedürfnis, an die Vorsehung und an eine moralische Weltordnung zu glauben, bestimmt viele der Personen in der Novelle, z. B. Jewe Manners (LL 3, 708). Am Ende der Novelle wird deutlich, wie illusionär diese Vertrauen in die Vorsehung ist. Diejenigen, die wie die Dorfbewohner behaupten, dass Hauke von Gott gestraft wird, übersehen ihrerseits die Tatsache, dass Elke und Wienke auch dabei umkommen. Was aus der Novelle hervorgeht, ist eine gott-lose Welt, in der alles von menschlichen Eigenschaften und natürlichen Faktoren abhängt.
Freilich schildert der Schulmeister, wie Hauke die Hoffnung ausdrücken, sein eigenes Opfer möge die Vernachlässigung seiner amtlichen Pflicht büßen und die Gemeinde retten. Letzten Endes lehnt er ja Haukes Projekt als Hybris ab und glaubt als Christ noch an Schuld und Sühne. Nur gibt es hier keinen Gott, der vergibt. Haukes Tod will anders gedeutet werden. Nachdem er sich vergewissert hat, dass das Dorf sicher ist, stürzt er in die Fluten, weil ohne Elke und sein Kind sein Leben sinnlos geworden ist. Sein Ende ist in diesem Sinn ein Liebestod.
Ein letztes Mal berührt Storm eine Kernlehre des Christentums: die Lehre, dass der Opfertod Jesu Christi die sündhafte Menschheit erlöste. In der Szene, in der die Deicharbeiter im Begriff sind, einen jungen Hund zu opfern, damit der Deich sich halte (LL 3, 722), wird der heidnische Ursprung solcher Blutopfer angedeutet. Die Stoßrichtung der Novelle dagegen geht dahin, anzudeuten, dass Hauke Haiens Taten, nicht sein Tod das Wichtige sind. In dem ursprünglichen Ende geht der Erzähler auf dem Weg zu einer rein materialistischen Auffassung des Menschenlebens noch einen Schritt weiter, indem er spöttisch darauf hinweist, die Sage erfordere, dass bei Hochflut Haukes verstäubte Atome sich zu einem Scheinbild zusammenfinden müssen. (LL 3, 1061)
Die Novelle bestätigt weder die Idee eines gespenstischen Lebens nach dem Tod noch wird die orthodoxe Lehre von der Unsterblichkeit der Seele vermittelt. Dagegen wiederholt sie noch einmal Storms Preisung der menschlichen Liebe. Mehrmals wird dem Leser diskret vor Augen geführt, wie Elke Hauke ermuntert und schützt und seinetwegen aktiv wird. Ihre Liebe ist der Eckpfeiler, der seinen ganzen Erfolg trägt. Sie unterstützt und tröstet ihn während der Jahre der Vorbereitung und des Bauens, auch wenn ihre selbstaufopfernden Mühen für sie Einsamkeit bedeuten und auch wenn sie sich zuerst mit scheinbarer Kinderlosigkeit und dann mit der Tatsache abfinden muss, dass Wienke geistig benachteiligt ist. Haukes totale Liebe zu ihr wird auch klar gemacht. Der wirkliche menschliche Höhepunkt der Novelle ist eigentlich die Szene, in der sie beide sich selbst und einander zugestehen, dass Wienke geistig zurückgeblieben ist. In einer Gemeinschaft, in der Kinderlosigkeit oder die Geburt eines geistig zurückgebliebenen Kinds dem Unmut Gottes zugeschrieben wird, haben beide Elternteile im Stillen mit Schuldgefühlen und schmerzerfüllten Grübeleien fertig werden müssen. In dieser Szene wird die erlösende Kraft wahrer Kommunikation und „Beichte” unterstrichen: „Da warf sich Elke an ihres Mannes Brust und weinte sich satt und war mit ihrem Leid nicht mehr allein” (LL 3,372). Die Szene erinnert an die Gefühle, die dem Gedicht „An deines Kreuzes Stamm o Jesu Christ” zugrunde liegen. Die eheliche Liebe und die Kommunikation zwischen Mann und Frau machen allein den wahren Trost, die wahre Stütze aus. Zwar mag Hauke immer noch nicht imstande sein, seine Begriffe von Schuld zu verwerfen, aber er erkennt, dass es ihre höchste menschliche Pflicht ist, ihren natürlichen Instinkten zu gehorchen und das Kind zu lieben und zu unterstützen. Deutet man Hauke Haien als gründerzeitlichem Unternehmer oder als Führergestalt, so besteht die Gefahr, vom Bild des liebevollen Vaters völlig abzusehen, den es glücklich macht, dass sein geistig behindertes Kind sich an seine Brust schmiegt.
In seiner Darstellung der „Unzulänglichkeiten” sowohl des Individuums als auch der Gesellschaft im Allgemeinen knüpft die Erzählung an frühere Novellen darin an, dass sie die Rolle vererbter Züge untersucht. Haukes Vater äußert die pessimistische Überzeugung, dass der Familienverstand im dritten Glied verschleißt (LL 3, 655) Fortschritt und individuelle Leistungen werden also immer bedroht sein. Hauke erbt seine Talente von seinem Vater; seine Tochter erbt die seinen aber nicht; sie steht im dritten Glied. Auch wirkt in ihr defektes Erbgut von ihrem Großvater mütterlicherseits. Wie man es von einem ernsthaften humanistischen Bild des Lebens erwartet, spielen Krankheiten, Altern und Tod eine beträchtliche Rolle in der Novelle. Haukes eigene „Schuld” resultiert aus seiner Krankheit. Hirnschläge, Krebs und andere Todesursachen werden erwähnt. Das Entscheidende ist jedoch, wie man auf sie reagiert. Gezeigt wird, wie Elke sich Sorgen um ihren Vater macht; Hauke gibt scheinbar seine Hoffnungen auf, Deichgraf zu werden, um seinen kränkelnden Vater zu pflegen; später nimmt Elke Trien’ Jans in ihr Haus und sorgt für sie; ihrerseits sorgt Trien’ dann für Wienke. Storms Humanitätsglaube akzeptiert das Vorhandensein von Schmerzen und Leiden, betont jedoch, wie wichtig es ist, sie durch Liebe und Nächstenliebe aufzuheben oder zu erleichtern. Wie in der Novelle „Im Schloß” werden auch hier lahme Tiere und Vögel gepflegt.
Wenn „natürliche”, körperliche Faktoren menschliche Bestrebungen und Errungenschaften bedrohen, so gilt das Gleiche für die Hemmnisse, die die Gesellschaft reformgesinnten, aufgeklärten Gestalten in den Weg legen. Ole Peters symbolisiert nicht „tiefere” traditionelle und dörfliche Tugenden: Er verkörpert vielmehr kleinliche, egoistische Ambitionen und böswilliges Ressentiment einem Mann gegenüber, der ihm geistig überlegen ist und der seinen Plan durchkreuzt, die Tochter des Deichgrafen zu heiraten. Der Widerstand gegen Haukes Projekt wird sehr kritisch dargestellt. Hauke Haien ist kein rücksichtsloser gründerzeitlicher Unternehmer, der nur an seinen eigenen Profit denkt; das Deichprojekt soll ein kooperatives Gemeinschaftsprojekt sein. Da es allen zum Vorteil reichen wird, wird erwartet, dass auch alle daran teilnehmen. Geschildert wird, wie Hauke sein Möglichstes tut, um die Gemeinschaft zu Rate zu ziehen und sie bei jeder Etappe mit einzubeziehen - aber vergebens. Auf dieser Ebene wenigstens funktioniert die Demokratie nicht. Die Lage entspricht Storms eigner Enttäuschung über die Weigerung des „Volkes” und der „kleinen Leute”, dem Bildungsbürgertum zu folgen.
Das will aber nicht heißen, dass er irgendein Führerprinzip oder irgendeine autoritäre Alternative empfiehlt. Dass die Dorfbewohner nicht willig sind, mit Hauke zusammenzuarbeiten, gefährdet das Projekt und die Gemeinschaft; es verstärkt in Hauke negative Eigenschaften und treibt ihn in seine private Sphäre zurück. In einer unvollkommenen Welt müssen, so wird suggeriert, menschliche Verarmung, Selbstentfremdung und Enttäuschung als der Preis des Fortschritts hingenommen werden. Was für tragische Lose die Wohltäter der Menschheit auch immer ereilen mögen, das Wichtige - das nie verdunkelt werden sollte, aber tragischerweise oft wird - ist, dass ein sinnvolles Projekt zuende geführt wird. Storms „Existenzialismus” war sehr humanistischer Natur.
Die Deutungen, die Hauke als arrogant und gebieterisch hinstellen, beruhen oft auf der Annahme, dass die Dorfbewohner sich der Vernunft gebeugt und sein Projekt unterstützt hätten, wenn er geselliger gewesen wäre, ihre Sorgen geteilt und ihren Aberglauben hingenommen hätte und wenn er für seine Sache gründlicher geworben hätte. Solche Visionen sozialer Eintracht und vernünftiger Kooperation zum Besten des Gemeinwohls entsprechen aber nicht Storms reifer Auffassung der Beziehung zwischen dem aufgeklärten Individuum und einer entfremdeten unvollkommenen Gesellschaft. Seiner Meinung nach konnte es ein so harmonisches Verhältnis nicht geben, solange humanitätsfeindliche Ideologien und Institutionen vorherrschten. Individuen, die den Kampf, die Gesellschaft zu ändern, aufgeben, verraten sich selbst und setzen die vorhandene Selbstentfremdung fort. Andererseits - und dies bringt auch Tragisches mit sich - werden diejenigen, die sich weigern, sich resignierend dem Status quo anzupassen, entweder in die Vereinsamung getrieben oder sie laufen Gefahr, durch die Behörden und die Öffentlichkeit schikaniert zu werden. Ist man mit Staat und Gesellschaft eins, so ist das der Beweis für Selbstentfremdung und Selbstverrat, d.h. für wahre Schuld.
Die Schuldfrage wird hier ein letztes Mal behandelt. Suggeriert wird, dass Haukes Schuld nicht Hybris, nicht undemokratisches Verhalten ist; vielmehr liegt sie darin, auf den Rat anderer Mitglieder des Deichausschusses, vor allem Ole Peters, geachtet zu haben. Dies ist das erste und das einzige Mal, das Hauke dies tut und er tut es wider sein eigenes besseres Wissen. Wäre er nach seiner Krankheit nicht immer noch schwach gewesen und hätte er vor der Aussicht zusätzlicher großer Bauarbeiten und erneuter Kämpfe mit dem Deichausschuss nicht zurückgeschreckt, so hätte er anders gehandelt. Das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft wird auch hier zugunsten des Individuums akzentuiert. Es wird nicht empfohlen, dass Hauke seine persönlichen Ambitionen überwinden und die Weisheit der vorliegenden Verhältnisse anerkennen sollte. Indem er die Ratschläge der Gemeinschaft beachtet, verrät und vernichtet er sich selbst und seine Familie, und fast wäre auch die ganze seinem Schutz anvertraute Gemeinschaft vernichtet worden.
In einer Gott-losen Welt werden Gut und Böse neudefiniert. Es kommt nicht mehr darauf an, ob Handlungen einer Gottheit gefallen oder missfallen; Hauptsache ist, dass sie dem Wohl der Gemeinschaft dienen. Pflichten sind menschliche, soziale nicht gottbezogene, theologische. Wenn Institutionen und offizielle Ideologien keine aufgeklärten, progressiven Ziele und Normen fördern, dann soll die kleine Zahl von Individuen, die eine gewisse kritische Unabhängigkeit noch wahren, den Versuch anstellen, aufgrund der von der Aufklärung herrührenden Traditionen ihre eigenen Wertsysteme auszuarbeiten. Im „Schimmelreiter” wird betont, wie man die Pflichten erfüllen soll, die einem Amt anhaften, vor allem wenn das oberste Ziel dieses Amtes darin besteht, der Gemeinschaft zu dienen und sie zu schützen. Die Frage, ob Taten, Unterlassungen oder Nachlässigkeit (LL 3, 661) diesem Allgemeinwohl schaden, wird zum entscheidenden Wertungskriterium. Ein solcher Begriff der Pflicht bzw. der Schuld ist für einen Mann typisch, der von aufgeklärten, kantischen Begriffen des sittlichen Imperativs durchdrungen war und die Ansicht vertrat, dass es das Ziel vernünftig-humaner Beamter sein musste, das Allgemeinwohl zu fördern. (Dieses Beamtenideal setzt im Gegensatz zum wilhelminischen ein erhebliches Maß an persönlicher Autonomie voraus.) Die Pflichtvernachlässigung des Deichgrafen und seiner Helfer im Erzählrahmen ebenso wie ihr Unwillen, in Regen und Kälte hinauszugehen, sind symptomatisch für ihr allgemeines Versagen, was Unterhalt und Verbesserung der Deiche angeht. Elkes Vater erliegt der Versuchung der Völlerei, die ihm ein Mittel bietet, um mit seinem Verdruss und seiner Einsamkeit fertig zu werden. Seine Pflicht vernachlässigt er auf kriminelle Weise. Schuld hat für Storm nichts mit Teufelspakten oder mit dem Verlust des ewigen Heils zu tun; es geht hier darum, ob man unduldsam, apathisch, feige und nur egoistisch ist. Indem der Text ironisch die viel ernsthafteren Versuchungen vorwegnimmt, mit denen sich Hauke konfrontiert sieht und auch auf die biblische Geschichte ironisch anspielt, berichtet der Rahmenerzähler davon, wie er den Reizen der Grand-Richard-Äpfel seines Vetters fast erlag. (LL 3, 635). Trotz wichtiger Geschäfte verschob er wegen des schlechten Wetters seine Abreise; auch hätte er seinen Ritt abgebrochen und wäre zu seinem Vetter zurückgekehrt, wenn er nicht mehr als die Hälfte der Reise schon zurückgelegt hätte, als ihn Sturm und Dunkelheit auf dem Deich überraschten. Wie beim Deichgraf im Wirtshaus liegt es auf der Hand, dass er seinen Komfort und seine Bequemlichkeiten nicht entbehren will. So wird suggeriert, dass nur wenige Menschen dieselbe Entschlossenheit, dem Gemeinwohl zu dienen, an den Tag legen werden, wie Hauke es tut.
Storms Erlebnisse hatten ihn gelehrt, sich vor offiziellen Helden und Heiligen zu hüten. Er folgte dem Rat Mommsens nicht und verzichtete auf große Gestalten auf großer geschichtlicher Bühne zugunsten seiner kleinen bürgerlichen Helden. Dadurch, dass sie die Errungenschaften eines kleinen, unbekannten Deichgrafen lobt, ist Storms Novelle ein demokratisches Werk. Es gibt zu verstehen, dass kleinere, aufgeklärte, praktische Maßnahmen zum Wohl seiner Mitmenschen auf die Dauer einen größeren Wert beanspruchen können als die angeblichen Glanztaten der von Historikern und den regierungsfreundlichen Medien gepriesenen Helden und weltgeschichtlichen Männern. 1888 hatte Storm längst seinen vertrauensvollen Glauben verloren, dass Vernunft und Wahrheit Werte waren, die überall triumphieren würden, wenn überholte Institutionen und Ideologien erst einmal entlarvt wären. „Der Schimmelreiter” setzt sich also nicht nur mit dem Problem auseinander, wie trotz massiven institutionellen und ideologischen Widerstands aufgeklärte Projekte durchgeführt werden können; die Novelle bietet auch pessimistische Überlegungen zur Frage, ob humane, kritische Ideen und die Errungenschaften aufgeklärter Reformer bewahrt und verbreitet werden können. Nachdem er im Lauf seines Lebens das Scheitern so vieler seiner Hoffnungen hatte erleben müssen, konnte im alten Storm keine große Zuversicht aufkommen, dass Intelligenz und Sittlichkeit imstande wären, den Lauf der Ereignisse entscheidend zu beeinflussen.
Der Rahmenerzähler veranschaulicht, wie diejenigen, die die Geschichten vor das Lesepublikum bringen, die Stoßrichtung von Stoffen, die ursprünglich eine kritisch-humanistische Botschaft vermitteln sollten, oft entweder bewusst neutralisieren oder abschwächen. Es kann aber auch geschehen, dass solche Vermittler dem Publikumsgeschmack Rechung tragen müssen, wenn ein Werk überhaupt veröffentlicht werden und wenigstens etwas von seiner kritischen Botschaft übrig bleiben soll. Der Schulmeister selbst hat keinen Zugang zu den Medien. Im Fall des Rahmenerzählers – er könnte selber Publizist sein - lässt sich letzten Endes nicht ermitteln, ob er sich als Verbündeten des Schulmeisters empfindet, aber gleichzeitig erkennt, dass er den Erwartungen seiner Zeitschriftenleser entgegenkommen muss, wenn seine Geschichte bei ihnen gut ankommen soll. Solche Rücksichten könnten dazu führen, dass er das Gespenstige herausstreicht. Möglich ist aber auch, dass er selber abergläubig ist. Auf jeden Fall deutet der Text an, dass Angst, Kälte, Müdigkeit und seine Fantasie aus den Möwen, die ihm in kargen Licht streifen, den gespenstigen Schimmelreiter bilden.
Storm erkannte, dass Gelehrte das Wesen der Religion enträtseln wollten, ebenso wie der Schulmeister sein Leben dazu widmet, der Entstehung der Schimmelreiter-Sage auf den Grund zu kommen; nur bestand die Gefahr, dass ihre Thesen auf einen kleinen Kreis gebildeter Leser beschränkt blieben. Nichts bürgte dafür, dass sie an ein breiteres Publikum je vermittelt oder in Formen übertragen werden konnten, die einer breiten Leserschaft zugänglich wären. In den 1840er Jahren hatte Storm geglaubt, die „Volksseele” erzeuge spontan Ideen und Motive, die enttäuschte menschliche Bedürfnisse erkennen ließen. Diese Zuversicht hegte er schon lange nicht mehr. Im Alter neigte er eher zum Glauben, dass die unteren Klassen eine angeborene Veranlagung zum Aberglauben hatten, die es den dominanten sozialen Gruppen ermöglichte, ihre systemstabilisierende Ideologie zu untermauern und die menschliche Selbstentfremdung fortzusetzen.Das Überleben und die Verbreitung humanistischer Ideen waren für Storm genau so problematisch wie die Aufgabe, die Erinnerung an Verfechter aufgeklärter Prinzipien zu bewahren. Hätte nicht der Schulmeister es zu seiner Lebensaufgabe gemacht, Hauke Haiens Leben zu rekonstruieren, so wäre es nur in örtlichen Sagen überliefert worden. Während etwa Gotthelf und Stifter sich mit dem Problem auseinander gesetzt hatten, wie sicherzustellen war, dass zukünftige Generationen die durch gottlosen Materialismus angerichteten Kalamitäten nicht vergessen sollten, lag für Storm das Problem ganz anders. Infolge der sozialen und politischen Interessen derjenigen, die Schulen und Universitäten beherrschten, wurden die Verfechter der Aufklärung in vergangenen Jahrhunderten entweder ignoriert und vergessen oder ihr Leben ebenso wie ihre Botschaft entstellt und pervertiert. Kein einziger kritisch-aufgeklärter Bericht über den geschichtlichen Hauke Haien wäre überliefert worden, wäre nicht der erste Erzähler als Kind auf diese Geschichte gestoßen und hätte er sie nicht fünfzig Jahre später wieder erzählt.
Die Frage nach der Überlieferung historischen Wissens, der Schaffung von Mythen und ihrer sozial-politischen Funktion hatte Storm immer beschäftigt. Welche Faktoren sind am Werk, wenn Historiker, Theologen und Schriftsteller ihren Kanon geschichtlicher Gestalten zusammenstellen, deren Gedächtnis aufzubewahren ist? Welche Faktoren gelten als bestimmend, welche „Tatsachen” werden überliefert, welche vergessen? Welche Taten werden hervorgehoben, welche heruntergespielt? Und welche Zwecke verfolgen diese Darstellungen? Verhält es sich nicht so, dass Mythen und Sagen verifizierbare historische Fakten verdrängen, um spezifische ideologische Ziele zu fördern? Seiner letzten Novelle vertraute Storm seine reifen Gedanken über diesen Gegenstand an. Für ihn als Erben einer philosophischen Tradition, die versucht hatte, den den biblischen Berichten vom Leben Jesus Christi zu Grunde liegenden Kern freizulegen und die Faktoren zu untersuchen, die übernatürliche Mythen und Sagen erzeugten, ziemte es sich, dass er den „Schimmelreiter” als seine letzte große schriftstellerische Herausforderung betrachtete. Aufgrund des ihm durch eine Weichselsage gebotenen Stoffes musste er vom Gespenst zur geschichtlichen Gestalt zurückgelangen und den ganzen Prozess der Mythenerzeugung kritisch nachzeichnen. Der Schulmeister redet von Gewaltmenschen und bösen stiernackigen Pfaffen, die in Helden verwandelt worden sind (LL 3, 754). Während die Behörden in vergangenen Jahrhunderten Verfechter der Vernunft und der Wahrheit wie Sokrates und Jesus Christus einfach brutal abschlachteten, konnten sie, so wird angedeutet, in neueren Zeiten dasselbe Ziel erreichen, indem sie sie in Gespenster verwandelten, d.h. dafür sorgten, dass die Medien und die meinungsbildenden Institutionen ihre Positionen und Leistungen entwerteten und verzerrten bzw. sie als Menschen verleumdeten oder diskreditierten. Zwar ist Storm mit seinem Schulmeister nicht gleichzusetzen; aber vielleicht wird doch suggeriert, dass Hauke Haien zusammen mit Sokrates und Jesus Christus gleichsam eine Dreifaltigkeit von Wahrheitssuchern ausmacht. Es gibt jedoch vielleicht noch eine kontrastierende Parallele zwischen Jesus Christus und Hauke. Beide werden in „Gespenster” verwandelt. Im Fall Jesu Christi vernichtete die Kirche den humanistischen Kern seiner Botschaft, indem sie aus ihm einen Gott machte. Im Fall Hauke Haien wird die humanistische Bedeutung seines Lebens dadurch pervertiert, dass er zum Spuk gemacht wird. Mit bitterer Ironie wird gezeigt, wie er durch genau die Gemeinschaft in ein Gespenst verwandelt wird, der seine Mühen zugute kommen. Er wird in jemanden verwandelt, der einen Vertrag mit dem Teufel eingeht, auf einem satanischen Pferd in den Tod reitet und dann bei jedem Dammbruch dazu verdammt ist, als ruhelos umhergetriebenes Gespenst zu erscheinen. Die Gemeinschaft selbst übernimmt quasi die Arbeit des Establishments, indem sie Hauke zu einem Symbol für die sündhafte Torheit rein menschlicher Bestrebungen macht. Wenn das Establishment daran interessiert ist, Aufklärung und Humanität zu bekämpfen und wenn der Aberglaube in der Menschenbrust immer neu keimt, wie können vereinzelte Individuen die Hoffnung hegen, aufgeklärte Ideen aufzubewahren und zu verbreiten? Am Ende seines Lebens hatte Storm nur noch wenige Illusionen.

LL 3: Theodor Storm: Sämtliche Werke, hg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier, Bd. 3: "Der Schimmelreiter", Frankfurt am Main 1988.

David A. Jackson: Theodor Storm. Dichter und demokratischer Humanist. Eine Biographie. Berlin 2001 (Husumer Beiträge zur Storm-Forschung, Bd. 2), S. 319-333.

Nach oben