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Die Novelle im Unterricht und ihre Rezeption
„Was sollen Kinder und Jugendliche lesen?“ war eine der umstrittenen Fragen der pädagogischen Diskussion des 19. Jahrhunderts. Als der Pädagoge Heinrich Wolgast 1896 in seiner Kampfschrift „Das Elend unserer Jugendliteratur“ Storms Wort „Wenn du für die Jugend schreiben willst, so darfst du nicht für die Jugend schreiben“ als Motto wählte, sollte die Novelle „Pole Poppenspäler“ eine bedeutende Funktion bei der Neubesinnung über geeignete Lesestoffe für die Jugend erhalten. Natürlich konnte Storms paradoxe Formulierung nicht verallgemeinert werden, doch die eindeutige Hinwendung zur künstlerischen Novelle, die Wolgast im Namen der Jugendschriftenbewegung vollzog, führte zu einer Klärung des Begriffs „Jugendliteratur“, zu neuen Organisationsformen bei Sichtung und Vermittlung von Dichtung durch die mit dem Jugendschriftenproblem befassten Pädagogen und Bibliothekare sowie zu verstärkten Bemühungen um eine eigenständige Kinderliteratur. Pädagogische Bemühungen um geeignete Lesestoffe für die Jugend gibt es bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts; eine Spur davon findet sich sogar in Storms Novelle. Als Lisei und Paul sich anfreunden, sitzt das Mädchen häufig bei Pauls Mutter und ist mit Näharbeiten beschäftigt. Paul erzählt: „Ein paar Mal setzte ich mich daneben und las aus einem Bande von Weißens Kinderfreunde vor, den mein Vater einmal auf einer Auktion für mich gekauft hatte; zum Entzücken Liseis, der solche Unterhaltungsbücher unbekannt waren.“ Es handelt sich dabei um eine Schriftenreihe, die von Christian Felix Weiße (1726-1804) zwischen 1775 und 1782 unter dem Titel „Der Kinderfreund“ herausgegeben wurde. Die Reihe zählt zur philantropischen Kinderliteratur und schildert eine bürgerliche Familie, deren Unterhaltung Stoff für die Belehrung jugendlicher Leser hergibt. Neben kleineren Begebenheiten, Nachrichten aus Nah und Fern sowie von vergangenen Zeiten enthalten die Gespräche auch Spiele, Sprichwörter und Rätsel. In Ausschnitten wurde das vorgestellt, was man für lesenswert im Dienste der Erziehung hielt. Wie klar Storm die pädagogische Bedeutung von Weißes Jugendschrift erkannt hat, zeigt die Schlussszene des ersten Novellenteils, als Paul Lisei zum Abschied dieses Buch schenkt und dadurch symbolisch auf die spätere Errettung der jungen Frau hinweist, die zum Leben an der Seite des bürgerlichen Handwerksmeisters die dazu erforderlichen Tugenden erlernen muss. Als im 19. Jahrhundert Bücherspekulanten damit begannen, Jugendlektüren wie Massenspielzeug fabrikmäßig herzustellen, setzte eine Entwicklung minderwertiger Lesestoffe ein, gegen die Pädagogen einen oft hoffnungslosen Kampf führten. Die zeitgenössische Literatur war in der Regel nur für Erwachsene zugänglich; selbst in den Schulen reichte der Lektürekanon nicht über die Klassiker Goethe und Schiller hinaus. Nun wurde Storms „Pole Poppenspäler“ zur Programm-Novelle der Jugendschriftenbewegung, nachdem Wolgast in der „Jugendschriftenwarte“33 ihre ausgezeichnete Eignung nachgewiesen hatte. Der Stoff schien geeignet, weil durch die Puppentheater-Stücke das Interesse der jugendlichen Leser geweckt und eine populäre Bildungsquelle erschlossen werden konnte. Die rein epische Sprache Storms ist einfach und dadurch auch jüngeren Lesern verständlich; abstrakte Ausdrücke und Reflexionen fehlen. Die Komposition ist leicht durchschaubar; das Puppenspiel und die beiden Hauptfiguren bilden das Rückgrat, an das die anderen Personen und ihr Schicksal angegliedert werden; die Motivführung ist einheitlich, und die Teile befinden sich im Gleichgewicht. Die Charaktere sind scharf umrissen und führen ein deutliches Eigenleben; Storm vermeidet dabei aber Schablonisierungen. Wegen dieser Vorzüge erschien Weihnachten 1899 Storms Novelle, mit Zustimmung der Erben vom Hamburger Jugendschriftenausschuss herausgegeben, bei Westermann in Braunschweig als erste preiswerte Jugendausgabe der deutschen Literatur. Der Preis für die kartonierte Ausgabe betrug 50 Pfennig; gebunden kostete ein Exemplar eine Mark. Dieser Preis blieb bis 1916 unverändert und wurde erst 1917 auf 80 Pfennig erhöht.
Damit war eine Entwicklung eingeleitet, in deren Folge noch weitere heute bekannte Jugendschriften bedeutender Autoren preiswert auf den Markt gebracht wurden, um eine positive Schundbekämpfung durch Schaffung billiger Lektüresammlungen zu ermöglichen. m 20. Jahrhundert ist die Novelle immer mehr zu einer Standard-Lektüre des Deutschunterrichts geworden. Die Puppenspielergeschichte hat sich als sehr geeignet erwiesen, in die Novelle des 19. Jahrhunderts einzuführen und findet sich deshalb unter den Lektürevorschlägen der Richtlinien für den Deutschunterricht in den meisten Bundesländern. Eine Fülle von preiswerten Leseausgaben, die sich speziell an die Schulen wenden, zeugt von diesem pädagogischen Interesse; auch sind eine Reihe von didaktischen Unterrichtsmodellen erschienen (vergl. dazu das Literaturverzeichnis), in dem Hinweise und Handreichungen für die Behandlung im Unterricht gegeben werden. Aber auch ein verstärktes literaturwissenschaftliches Interesse ist festzustellen; in den letzten Jahren sind Fragen der Interpretation der Novelle - auch in den „Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft“ - kontrovers diskutiert worden. (vergl. die Angaben im Literaturverzeichnis). Während für Pädagogen wie Heinrich Wolgast das Verhältnis von Kunst und bürgerlichem Leben im Mittelpunkt der Novelle stand, beschreibt die Erzählung nach Auffassung neuerer Interpreten vor allem die Faszination des jungen Paul Paulsen durch die Marionetten. Die Erzählung wird nun als Künstlernovelle gelesen (Schroeder, Frommholz) oder als Darstellung des Spannungsgefüges zwischen Romantik und Realismus. Dieser Deutung wurde mehrfach widersprochen (Eversberg) und betont, dass in der Novelle nicht die Welt der Kunst, sondern die des tätigen Handwerks verherrlicht wird. Zuletzt hat Wilhelm Große vorgeschlagen, „Pole Poppenspäler“ nicht mehr in der Sekundarstufe I, sondern in der Oberstufe im Rahmen einer Unterrichtsreihe zum Thema „Realismus“ zu behandeln. Er liefert dazu einen interessanten Deutungsansatz[1]:
All das zeigt, wie lebendig die Erzählung Storms auch mehr als hundert Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung geblieben ist; neben dem „Schimmelreiter“ zählt sie zu den meistgelesenen Werken des Husumer Dichters. Anmerkung: |
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